Bücherbrief

Kornel, du Mangelware!

07.08.2023. Emma Cline lotet lässig die Krisen der Gegenwart aus, Tess Gunty hüpft flirrend über die Scherben der Existenzen im Rust Belt, Julia Lovell erzählt eine Globalgeschichte des Maoismus und Nikolaus Epplée widmet sich akribisch der Aufarbeitung russischer und anderer Staatsverbrechen. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats August.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Emma Cline
Die Einladung
Roman
Carl Hanser Verlag. 320 Seiten. 26 Euro

(bestellen)

Nach ihrem erfolgreichen Debüt "The Girls" (bestellen) war der neue Roman von Emma Cline lange erwartet worden: Nun liegt er vor und die KritikerInnen sind glücklich. Wie  "aus dem Handgelenk geschüttelte Meisterschaft" erscheint taz-Kritiker Dirk Knipphals der Roman, der die Geschichte der 22-jährigen Alex erzählt, die zunächst als Art Escort-Girl arbeitet, dann ein Verhältnis mit einem wohlhabenden Mann aus der Upper Class eingeht, um sich schließlich doch wieder allein durchzuschlagen. Die lapidar-lässige und doch abgründigen Atmosphäre, mit der Cline die Schichten einer nur scheinbar sorgenfreien Luxusgesellschaft freilegt, üben auf Knipphals enorme Sogkraft aus. Für den FAS-Kritiker Tobias Rüther ist hier ein Roman gelungen, der die "Krisen der Gegenwart", die gesellschaftlichen Verhältnisse von arm und reich und das Verhältnis von Männern und Frauen schonungslos und absolut lesenswert auslotet. Dass Cline auf wohlfeile Thesen zur Motivation ihrer Figuren verzichtet und dafür auf Unterhaltung setzt, gefällt SZ-Kritikerin Christiane Lutz besonders gut. Und für Miriam Zeh (Dlf Kultur) macht gerade Clines andeutungsweises Erzählen den Reiz des Buches aus.

Marvel Moreno
Im Dezember der Wind
Roman
Klaus Wagenbach Verlag. 448 Seiten. 32 Euro

(bestellen)

Im Original erschien dieser Roman der kolumbianischen Schriftstellerin Marvel Moreno bereits 1987 und geriet dann in Vergessenheit. Nun liegt er erstmals auf Deutsch vor und die Kritiker sind hingerissen. Im Dlf möchte Victoria Eglau das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen, so spannend erscheint ihr diese Geschichte um drei junge Frauen aus der katholisch-konservativen Elite der Provinzstadt Barranquila, die in quälenden Ehen gefangen sind: Ein Ehepartner ist mit seiner eigenen Sexualität nicht im Reinen, ein anderer ist der ehemalige Vergewaltiger seiner Ehefrau, und ein dritter verurteilt seine Frau dafür, sich selbst zu befriedigen. Moreno war selbst Teil dieser Oberschicht und kennt die patriarchalen Strukturen, gegen die sich die drei Frauen wehren und an denen einige zu Grunde gehen, klärt uns Eglau auf. Morenos bissig-ironischer Ton, ihre prägnanten psychologischen Analysen und die "opulente" Sinnlichkeit der Sprache lassen die Kritikerin eine klare Leseempfehlung aussprechen. Für ein großes Werk und hellsichtiges Porträt der kolumbianischen Gesellschaft der fünfziger Jahre hält auch Hernán D. Caro in der FAS das Buch: Es erinnert ihn in seiner Wucht, Intimität und durch den erstaunlich klaren Blick für die Kräfte des Patriarchats gar an García Márquez' berühmten Roman "Hundert Jahre Einsamkeit".

Ulrike Sterblich
Drifter
Roman
Rowohlt Verlag. 288 Seiten. 23 Euro

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Statt des perfekten Sommerkrimis empfehlen wir den neuen Roman von Ulrike Drifter, denn der verspricht laut Zeit-Kritikerin Katharina Teutsch in jedem Fall "Mordsspaß". Worum es in dem Roman genau geht, können uns die Kritikerinnen allerdings nicht genau sagen. Teutsch versucht's: Das Leben der beiden Freunde Wenzel und Killer, beide in der Medienbranche arbeitend, wird durcheinandergewirbelt, als sie auf eine mysteriöse Frau in einem goldenen Kleid und mit einem tanzenden Zottelhund treffen: Es ist die Tech-Unternehmerin Ludovica Malabene, deren Aktien abstürzten, als sie bekannt gab, in den Büchermarkt investieren zu wollen. Spannend wird es nicht nur, weil jene Vica aus unerfindlichen Gründen viel über die beiden Freunde weiß, sondern auch weil Killer plötzlich von einem Blitz getroffen wird und sein Leben auf den Kopf stellt. Teutsch hat viel Spaß an den "abgedrehten Verschwörungstheorien", die sie an Thomas Pynchon erinnern. Als anregendes Spiel mit Genres liest FAZ-Rezensent Jan Wiele den Roman, dessen Mix aus Freundschaftsgeschichte, Medienkritik und Gedankenspiel seine Fantasie immer wieder herausfordert. In diesem "zauberhaften" Roman wird alles "Schwere zum Tanzen gebracht", freut sich Jörg Magenau im RBB: "Drifter verbindet Phantasy, Märchenelemente und soziale Wirklichkeit zu einer Art magischem Realismus, der das Unwahrscheinliche glaubhaft macht."

Deborah Levy
Augustblau
Roman
aki Verlag. 176 Seiten. 24 Euro

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Ganz frisch erschienen ist der neue Roman von Deborah Levy, der uns quer durch Europa führt. Meike Feßmann widmet ihm in der SZ eine hymnische Besprechung: Erzählt wird die Geschichte der 34-jährigen neurotisch-melancholischen Pianistin Elsa, die sich während eines Konzerts von Rachmaninows 2. Klavierkonzert verspielt, ihre Karriere aufgibt und quer durch Europa reist, um Privatunterricht zu geben. Zugleich sucht sie nach einer mysteriösen Doppelgängerin, die ihr auf einem Flohmarkt in Athen begegnete, außerdem besucht sie ihren sterbenden Klavierlehrer auf Sardinien. Der Roman spielt kurz vor Ende der Pandemie, klärt die Rezensentin auf, vor allem aber sind es die "psychisch-mentalen" Folgen, die Anspannung, aber auch die Befreiung, die Levy verspielt und träumerisch einfängt, so Feßmann. Nicht nur die Verweise auf Agnès Varda, Marguerite Duras oder Alain Resnais machen diesen außergewöhnlichen Pandemie-Roman für sie zu einem "bewusstseinserweiternden" Text, dem sie "Mut zu Shakespeare'scher Wucht" attestiert.

Tess Gunty
Der Kaninchenstall
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag. 416 Seiten. 25 Euro

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Wie unterschiedlich Kritiken ausfallen können: Tess Guntys Debütroman wurde vergangenes Jahr gleich mit dem National Book Award ausgezeichnet - und in den deutschen Zeitungen ist es vor allem Zeit-Kritiker David Hugendick, der nicht mit Superlativen geizt: Ziemlich nahe an Foster Wallace sieht er den Roman, der mit viel Sprachwitz und Opulenz von der hochintelligtenten, verwaisten Blandine erzähle, die sich, aufgewachsen in einer "deindustrialisierten Zombiestadt" im Rust Belt, nach Qualen sehnt und stark zu den Mystikerinnen des Mittelalter hingezogen fühlt. Zudem tritt eine Reihe skurriler Nebenfiguren auf, darunter ein Rentnerpaar mit Hass auf Nagetiere, resümiert Hugendick, der dennoch keinesfalls einmal mehr die Tragödie des Rust-Belts liest: Vielmehr hüpft die Autorin flirrend, assoziations- und überraschungsreich über die Scherben jener Existenzen, pfeift auf stringenten Plot und ökonomisches Erzählen und jongliert mit den Genres von Realismus über Comic bis zu Kommentaren aus Online-Foren. Das ist "Prosa mit ADHS" im besten Sinne, freut sich der Kritiker. Laut Welt-Rezensent Wieland Freund punktet der Roman zudem mit einem raffinierten Mix aus Suspense und digitalem Naturalismus. Ganz anders urteilt Juliane Liebert in der SZ: Zu viele Figuren, zu wenig Plot - und die vielen Wiederholungen im Text treiben sie geradezu in den Wahnsinn. In ihrer Perlentaucher-Kolumne "Vorworte" hatte Angela Schader den Roman bereits Ende Juni vorgestellt: Ihr ist die Heldin zwar zu überfrachtet, aber die virtuosen Vignetten im Text lohnen die Lektüre allemal, versichert sie: "Mit wenigen Sätzen oder auch nur einer eigenwilligen Wortkombination pflanzt sie Charakterisierungen in den Text, die pfeilscharf den Kern der Sache treffen." Weitere Besprechungen im SWR2, im Guardian und in der New York Times.


Sachbuch

Julia Lovell
Maoismus
Eine Weltgeschichte
Suhrkamp. 768 Seiten. 42 Euro

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Die britische Sinologin Julia Lovell hat einige Zeit in China gelebt, aktuell lehrt sie chinesische Geschichte an der Universität Cambridge. Im englischen Original ist ihre äußerst materialreiche Globalgeschichte des Maoismus bereits 2019 erschienen. Und genau darin liegt für Ian Johnson in der New York Times die Stärke des, wie er findet, gut lesbaren, mitunter verblüffenden Buches, das den Fokus weg von der westlichen Verklärung des Maoismus richtet: Auf der Grundlage zahlreicher Reisen, Interviews, Archivrecherchen und der Analyse des aktuellen Forschungsstands zeige Lovell, dass der Maoismus keineswegs eine formlose Idee, sondern eine von China vorangetriebene Strategie war. In den umfangreichen Kapiteln erfährt Johnson, dass China unter anderem Berater ins Ausland schickte und materielle Unterstützung leistete: Von Waffen bis zu den schwarzen Pyjama-Uniformen der Roten Khmer - sogar Porträts von Pol Pot. Der Historiker Gerd Koenen, der das Buch in der FAZ äußerst verdienstvoll findet, vermisst hier allerdings einen Bogen ins 21. Jahrhundert, zudem sehe sich Lovell vor allem die prägenden Texte an, weniger die Kontextualisierungen, die Mao und andere vornahmen, räumt er ein. In der SZ empfiehlt Daniel Leese vor allem die letzten Kapitel des Buches: Hier zeige Lovell, in welchem Maße staatliche Repressionen, Ausbeutung und Ausgrenzung von Minderheiten die Attraktivität maoistischer Ideen steigerten. Und im Dlf lobt Günter Kaindlstorfer, dass die Autorin die Rolle Maos im heutigen China auf übersichtliche Weise analysiert.

Nikolai Epplée
Die unbequeme Vergangenheit
Vom Umgang mit Staatsverbrechen und anderswo
Suhrkamp Verlag. 598 Seiten. 30 Euro

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In der NZZ zeichnete die Menschenrechtlerin und Memorial-Mitbegründerin Irina Scherbakowa kürzlich nach, wie Russland auch aufgrund fehlender Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit in eine "faschistoide Diktatur" abrutschen konnte. (Unser Resümee) Umso verdienstvoller sind Studien wie die des russischen, im Exil lebenden Philologen und Kulturwissenschaftlers Nikolai Eppleé, der sich nicht nur, aber vor allem der Aufarbeitung russischer Staatsverbrechen widmet. Entsprechend würdigt der in der FAZ rezensierende Osteuropahistoriker Stefan Plaggenborg das Buch auch als einen der wenigen überhaupt aus Russland kommenden Versuche, über Vergangenheitsbewältigung im Hinblick auf die Geschichte des Kommunismus und besonders natürlich die Verbrechen des Stalinismus nachzudenken. Detailliert recherchiert und "atemberaubend erzählt" sind laut Welt-Krtiker Marko Martin vor allem die Darstellungen des Leninistisch-Stalinistischen Terrors wie auch der japanischen Kriegsverbrechen und der spätere Umgang der Nachfolgeregierungen damit. Eppleé gelingt es hierbei, nie den Fokus auf die Zivilbevölkerung und deren Leiden zu verlieren, sondern genau zu dokumentieren und neue Perspektiven zu eröffnen, meint Martin, der das Buch vor allem der deutschen Politik empfiehlt, die viel zu lange die vom Kreml propagierte Geschichtsklitterung akzeptierte. Im Dlf hebt Catrin Stövesand hervor, dass Epplée auch Lösungsansätze aufgreift: Der Vergleich mit Ländern wie Südafrika und Argentinien zeigt der Kritikerin, dass Wahrheitskommissionen ebenso unverzichtbar sind wie juristische Aufarbeitung und gesellschaftliche Neuorientierung.

Marta Kijowska
Nichts kommt zweimal vor. Wislawa Szymborska.
Eine Biografie
Schöffling und Co. Verlag. 320 Seiten. 28 Euro

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Am 02. Juli wäre Wisława Szymborska, die Grande Dame der Welt-Poesie, 100 Jahre alt geworden. Sie war eine Stimme, die kaum ihresgleichen hat in ihren Geistesblitzen, ihrem Humor und ihrer Gelassenheit. Die Zeitungen waren an diesem Tag voll mit Hommagen, wir haben zwei Gedichte Szymborskas online gestellt. Rechtzeitig zum hundertsten Geburtstag erschien im Suhrkamp Verlag außerdem der von Renate Schmidgall herausgegebene Band "Gesammelte Gedichte" (bestellen). Fast so lyrisch wie die Gedichte Szymborskas scheint FAZ-Kritikerin Christiane Pöhlmann auch Marta Kijowskas Biografie der polnischen Literaturnobelpreisträgerin. Kijowska zeigt nicht nur gute Kenntnis des Werks, sondern bringt uns die zurückgezogen lebende Dichterin näher, ohne deren Zurückhaltung durch Erklärungen zu stören. Stattdessen schreibt sie "verehrend, aber nie verklärend", so Pöhlmann, die dank dieses Buches in den Genuss von vielen Anekdoten und Zitaten wie "Kornel, du Mangelware!" kommt. In der NZZ folgt Ulrich M. Schmid hier zudem den politischen Stationen der Dichterin, die zwischen polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen, Nazi-Okkupation, Stalinismus und EU-Beitritt lebte. Szymborska stellte mit ihrer Lyrik "wesentliche weltliterarische Fragen auf Polnisch", ermuntert Schmid zur Lektüre.

Ilko-Sascha Kowalczuk
Walter Ulbricht
Der deutsche Kommunist
C.H. Beck Verlag. 1006 Seiten. 58 Euro

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Sehr viel Lob erhielt in den vergangenen Wochen Ilko-Sascha Kowalczuks monumentale Walter-Ulbricht-Biografie, deren erster Band mit tausend Seiten nun vorliegt. Entsprechend akribisch ist die Studie zu Leben und Wirken Ulbrichts, wie uns Daniel Siemens in der SZ verspricht: Kowalczuk korrigiere Legenden um Ulbricht, der als charmbefreiter Apparatschik galt, ohne sein Schaffen deshalb in ein freundlicheres Licht zu stellen, lobt der Kritiker, der hier nicht nur das Bild eines sozialen Aufsteigers erhält, der die stalinistische Politik stets bedingungslos mittrug. Den Band liest er auch als Geschichte der deutschen kommunistischen Bewegung. Nicht zuletzt verdankt er dem Autor Erkenntnisse darüber, warum die Demokratisierung Deutschlands nach 1918 nicht dauerhaft erfolgreich war. Auch Dlf-Kritiker Henry Bernhard empfiehlt den klug gegliederten Band, der ihm noch einmal den stalinistischen Terror in all seiner Grausamkeit vor Augen führt. Tiefe und angenehme Lesbarkeit attestiert Florian Keisinger in der NZZ dem Buch. Er hebt besonders hervor, dass der Autor Ulbrichts Handlungen in die Zeitumstände einbettet, statt sie einfach zu verurteilen.

Jody Rosen
Zwei Reifen, eine Welt
Geschichte und Geheimnis des Fahrrads
Hoffmann und Campe Verlag. 464 Seiten. 26 Euro

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Diese pralle Kulturgeschichte des Fahrrads wurde zwar erst einmal besprochen, aber so begeistert, dass wir sie mit in unsere Auswahl aufnehmen mussten: Dlf-Kultur-Kritikerin Elke Schlinsog hält das Werk des amerikanischen Journalisten Jody Rosen gar für eine "Schatzkiste". Rosen legt hier unter anderem dar, wie das Fahrrad in den 1870er Jahren seine jetzige Form erhielt und seit seiner Erfindung schon Gegenstand von regen Debatten war: So war das Fahrrad anfangs ein wesentlicher Faktor der weiblichen Emanzipation, denn dass eine Frau Fahrrad fuhr, konnte mitunter als Scheidungsgrund gelten, erfährt die Kritikerin. Doch auch bei neueren Protestbewegungen, zum Beispiel bei Black Lives Matter, spielte das Fahrrad eine herausragende Rolle, liest die Rezensentin. Ihr imponiert darüber hinaus, dass sich Rosen nicht nur auf die europäische Fahrradwelt konzentriert, sondern den Blick weitet auf jene Teile der Welt, in denen das Fahrrad das Hauptverkehrsmittel ist. Ein "leidenschaftliches und kenntnisreiches" Buch, schließt die Rezensentin. Im SWR2 stellt Daniel Stender das Buch vor.
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