Attila Bartis

Die Ruhe

Roman
Cover: Die Ruhe
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005
ISBN 9783518416822
Gebunden, 300 Seiten, 22,80 EUR

Klappentext

Aus dem Ungarischen von Agnes Relle. Die Karriere der gefeierten Budapester Schauspielerin Rebeka Weer, unvergeßlich in der Rolle von Shakespeares Cleopatra, endet über Nacht. Der Grund: Ihre Tochter Judit, eine hochbegabte Geigerin, hat sich in den Westen abgesetzt. Von den Behörden unter Druck gesetzt, versucht sie, Judit zur Rückkehr zu bewegen - vergeblich. Um ihre Karriere zu retten, erklärt sie die Tochter für tot, inszeniert eine Beerdigung und verschickt Traueranzeigen an hochgestellte Persönlichkeiten in Kultur und Parteiapparat. Als die Entlassung nicht rückgängig gemacht wird, zieht sie sich in ihre Wohnung zurück. Fünfzehn Jahre lang setzt sie keinen Fuß mehr vor die Tür und überwacht jeden Schritt ihres Sohnes, der Schriftsteller werden will. Während draußen ein politisches System zusammenbricht, wird immer offensichtlicher, daß der Sohn dem aus Haß, Erpressung und Obsessionen geflochtenen Netz niemals entkommen wird. Auch nicht, als er nach allerlei unglücklichen Affären Estzer Feher auf der Freiheitsbrücke trifft und sich in sie verliebt.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 26.01.2006

Adam Olschewski bejubelt zuallererst die "atemraubende Stilsicherheit", für die auch die Übersetzerin Agnes Relle "mitverantwortlich" zeichnet. Vor dem Hintergund eines Ungarn im Umbruch erzählt Attila Bartis eine Mutter-Sohn-Geschichte, die zwischen "Suggestion und Tatsache" oszilliere. Olschewski ist begeistert von der kurzen und doch so eindringlichen Art, mit der Bartis Personen beschreiben kann, und preist dessen Beobachtungsgabe, die er mit der fotografischen Tätigkeit des Autors begründet. Der Rezensent weist auf die bewusste "Unklarheit" hin, die überhaupt nicht störe, sondern für ihn ganz im Gegenteil den Reiz des Buches ausmacht. Allerdings gefällt ihm die Entwicklung der Figur des Sohnes nicht, dessen Eigenschaften "auf der Stelle" treten. Wer darüber hinwegsehen kann, der werde belohnt. Mit "kraftvollen Zeichnungen", "Tempo" und "Dringlichkeit". "Alles ist eins", beendet Olschewski seine Lobpreisung.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 20.12.2005

"Ein Roman wie ein Hieb", urteilt Lothar Müller über dieses Buch des ungarischen Schriftstellers Attila Bartis. Von einem augenzwinkernden, anekdotengesättigten Familienroman ist dieses Buch denkbar weit entfernt. Durch die im Ungarn der achtziger und frühen neunziger Jahre angesiedelte Geschichte über die gefeierte Budapester Schauspielerin Rebeka Weer und ihre frühreifen Kinder, die künftige Geigenvirtuosin Tochter Judit, und den zum Schriftsteller avancierenden Sohn Andor, die sich auf jeweils eigene Weise an ihrer tyrannischen Mutter rächen, weht für Müller ein "frostiger Wind". Während Judit in den Westen geht und damit das Ende von Rebekas Schauspielkarriere besiegelt, entspinnt sich zwischen der Mutter und ihrem Sohn das "Drama der Hassliebe". Müller ist beeindruckt von der Kälte der Prosa, von der Unversöhnlichkeit und Konsequenz des Romans. Auch wenn der "böse Blick" Andors der Auflösung in die Allegorie bisweilen bedenklich nahekomme, verdiene die "schneidende Schärfe" des Romans Respekt.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 07.12.2005

Attila Bartis ist ein Autor, der "aufs Ganze geht", jubelt Maike Albath. Vom "bundesrepublikanischem Biedermeier-Stil" sei bei Bartis, einem 1968 geborenen Ungarn, keine Spur - wen sie zum hiesigen Biedermeier rechnet, verrät die Rezensentin nicht. Stattdessen vergleicht sie Bartis mit A.L. Kennedy und Terezia Mora, die auch aus Ungarn stammt. Wie Kennedy habe Bartis einen Hang zu drastischen Sexszenen, die er auch richtig gut zu beschreiben wüsste, und zum Pathos, das er sprachgewaltig gestalte. Erzählt wird eine inzestuöse Mutter-Sohn-Beziehung, zugleich eine völlig morbide Familiengeschichte, die zeigt, wie sich die Opfer einer Diktatur gegenseitig zerfleischen. Albath nennt es "allgemeine Beziehungsperversion". Abgehandelt werde die Familienpathologie über Dreieickskonstellationen, die sich immer wieder aufs Neue einstellen, zwanghaft variieren, um sich schließlich zu wiederholen. Der Autor habe eine ganz eigene "Spielart des Tragischen" entwickelt, so die begeisterte Rezensentin, die Bartis? skurrilen Figuren, geschädigten Charakteren und makabren Einfällen sowohl eine ästhetische Kühnheit zuspricht wie auch eine "existenzielle Dimension" abgewinnt.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 18.10.2005

Da ist er! - der große Wende-Roman, auf den alle so lange gewartet haben, jubelt der Rezensent Andreas Breitenstein. Doch siehe da, er stammt nicht aus Deutschland, sondern aus der Feder des ungarischen Autors Attila Bartis und heißt skurrilerweise "Die Ruhe". Verblüfft berichtet der Rezensent von der "Sicherheit und der Leichtigkeit", die der blutjunge Bartis angesichts der schwergewichtigen Ereignisse an den Tag lege. Mit "Die Ruhe" gelinge ihm gleich ein doppelter "Befreiungsschlag": der seines schriftstellernden Protagonisten Andor gegen dessen übermächtige Mutter und sein eigener gegen das "Trauma eines nur scheinbar harmlosen Gulaschkommunismus". Listig findet der Rezensent, wie Bartis die große Geschichte nur beiläufig anstrahle und dadurch umso deutlicher mache, wie die Menschen die Leiden, die ihnen vom System zugefügt wurden, "verinnerlicht haben". Der Wahnsinn sei denn auch allgegenwärtig, ob schwelend oder ausgebrochen. Bartis' tragikomischer, vor sprachlicher Kühnheit und gedanklicher Klugheit strotzender Roman, so das Fazit des beeindruckten Rezensenten, ist zugleich ein "kalkuliertes Spiel mit dem Entsetzen" und ein "andächtiges Memento mori" und bringt die Zeit der Wende und deren "aporetisches moralisches Scheitern" nun in eine "gültige Form".