Jonathan Franzen

Unschuld

Roman
Cover: Unschuld
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2015
ISBN 9783498021375
Gebunden, 832 Seiten, 26,95 EUR

Klappentext

Aus dem Amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld. Die junge Pip Tyler weiß nicht, wer ihr Vater ist. Das ist keineswegs ihr einziges Problem: Sie hat Studienschulden, ihr Bürojob in Oakland ist eine Sackgasse, sie liebt einen verheirateten Mann, und ihre Mutter erdrückt sie mit Liebe und Geheimniskrämerei. Pip weiß weder, wo und wann sie geboren wurde, noch kennt sie den wirklichen Namen und Geburtstag ihrer Mutter. Als ihr eines Tages eine Deutsche beim "Sunlight Project" des Whistleblowers Andreas Wolf ein Praktikum anbietet, hofft sie, dass der ihr mit seinem Internet-Journalismus bei der Vatersuche helfen kann. Sie stellt ihre Mutter vor die Wahl: Entweder sie lüftet das Geheimnis ihrer Herkunft, oder Pip macht sich auf nach Bolivien, wo Andreas Wolf im Schutz einer paradiesischen Bergwelt sein Enthüllungswerk vollbringt. Und wenig später bricht sie auf...

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 08.09.2015

Rezensentin Andrea Köhler urteilt durchaus zwiespältig über Jonathan Franzens neuen Roman. Einerseits findet sie bei Franzen wie immer intelligente Unterhaltung, die Geschichte um Mütter, Schuld und Unschuld, Identität und Ideologie, ums Internet und die DDR und jede Menge andere aktuelle Gesellschaftsprobleme überzeugt sie durch psychologisch tief angelegte Figuren, Multiperspektivik und eine sechs Jahrzehnte und drei Kontinente umspannende Handlung, die der Autor mit Verve und ohne metafiktionale Mätzchen inszeniert, wie sie schreibt. Nur: Franzens konservatives Literaturverständnis schlägt sich eben auch als kulturpessimistische Schwarzweißmalerei nieder, als Fehlen jeder Unberechenbarkeit und jedes Geheimnisses, erklärt Köhler.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 05.09.2015

Zunächst muss Rezensent Richard Kämmerlings eines klarstellen: "Romane behaupten nicht". Und so liest er Jonathan Franzens neues Buch "Unschuld" im Gegensatz zu einigen Kollegen auch nicht als Thesenroman, der den sozialistischen Überwachungsstaat als Vorläufer des Netz-Totalitarismus der Gegenwart betrachtet - und schon gar nicht als "Buch über das Internet". Befreit von solchen Festlegungen liest Kämmerlings vielmehr einen exzellent erzählten Roman über Vaterlosigkeit und Schuld, die aus Liebe entsteht, erlebt einen Autor in Höchstform, der diabolische Botschaften mit "schwefligem Atem" flüstert und beobachtet fasziniert, wie Franzen seine verschiedenen Figuren marionettenhaft durch das Buch tanzen lässt. Die Turmgesellschaft aus "Wilhelm Meisters Lehrjahren", für Kämmerlings ohnehin "eine Datenkrake avant la lettre", kommt dem Rezensenten während der Lektüre in den Sinn, insbesondere aber lobt er den Roman als klug konstruierte Parabel über Gesinnungs- und Verantwortungsethik.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 04.09.2015

Als teuflisch gut geschrieben bezeichnet Rezensent Christopher Schmidt Jonathan Franzens neuen Roman. Auch wenn er rhetorischen Schall und geballte Kulturkritik enthält, wie Schmidt zugibt, die Familiengeschichte aus der Gutmenschen-Blase über Schuld und Moral und ein nachhaltig gelungenes Dasein scheint ihm genial komponiert und mit Motiven und Verweisen gespickt. Franzens These, wonach das Internet die neue DDR ist und ein Whistleblower eine Bedrohung der freien Welt, scheint dem Rezensenten zwar allzu steil und auch ein bisschen frivol, doch wiegt das Buch für ihn viel schwerer als ein dürrer Thesen-Roman und überzeugt den Rezensenten durch stoffliche Fülle, gut entwickelte Figuren, verschiedene Tempi und glaubhafte Milieuschilderungen.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 04.09.2015

Hart ins Gericht geht Rezensentin Katharina Granzin mit Jonathan Franzens "Unschuld": Den epischen Roman um einen ostdeutschen Whistleblower hält sie für eher misslungen, die frauenfreundliche Utopie an dessen Ende gar für ein "nachgereichtes Versöhnungsgeschenk für vergangene Lesefron". Der Kritikerin wird nie so ganz klar, wovon das neueste Franzen-Buch eigentlich handeln und worauf es hinauslaufen soll, als Thesenroman versage es gänzlich. Ein subtiler Erzähler und Schöpfer psychologisch glaubhafter Charaktere sei Franzen ohnehin nie gewesen, findet Granzin und sieht sich auch hier bestätigt: Marionetten seien seine Figuren, "mit viel zu dicken Strichen gezeichnet". Zwar sei die historische Folie der DDR gut recherchiert und detailreich geschildert, doch insgesamt verliere sich der amerikanische Starautor zu oft in Nebensträngen und Rückblenden. All das führt zu einem "Gesamteindruck von merkwürdiger Unausgewogenheit", urteilt Katharina Granzin und hofft darauf, dass sich Franzen künftig wieder Menschen und Themen zuwendet, die er besser kennt.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 03.09.2015

Jonathan Franzen erzählt in seinem neuen Roman "Unschuld" die Geschichte einer Gruppe von Hackern, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges in Bolivien um einen ehemaligen ostdeutschen Dissidenten schart, berichtet Adam Soboczynski. Unter ihnen befindet sich auch Purity, alias Pip, deren ungeklärte Familienverhältnisse die schrittweise kriminalistische Aufdeckung von Ereignissen im geteilten Deutschland, oder in der "Republik des schlechten Geschmacks", wie Franzen sie nennt, anstoßen, erklärt der Rezensent. Das Buch sei wieder ein Beispiel für Franzens Beherrschung komplexer Figurenverhältnisse - für Soboczynskis Geschmack lässt der Autor das Streben der Diktatur nach Kollektivität aber zu fließend in das Streben der Internetaktivisten übergehen. Der forcierte Vergleich hinkt spätestens dort, wo es um den Zugriff auf den menschlichen Körper geht, findet der Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 02.09.2015

Pralle Kolportage, und sie funktioniert! Rezensent Christan Bos sagt es selbst: "Ein Mord aus Leidenschaft, ein entführter thermonuklearer Sprengkopf, jede Menge Oralsex: Das klingt nach Ken Follett." So begeistert ist Bos, dass er sich in Nacherzählung verhaspelt und am Ende fast vergisst zu sagen, was an dem Roman nun eigentlich so großartig ist. Bos' Lesevergnügen war es jedenfalls schon mal. Naja, und dann verkörpert Franzen auch den Protest der Gutenberggalaxis gegen das Internet, und das gefällt der Kritik. Einen Widerspruch spricht Bos vor lauter Eifer gar nicht an: Franzen setzt das Internet mit der DDR gleich, aber sein böser Protagonist und Internetheld Andreas mit dem bezeichnenden Nachnamen Wolf kommt ja eher aus der Dissidenz, aus dem Widerspruch gegen die DDR. Stört sich Franzen also eher an jener Sphäre , die Schluss mit der Gemütlichkeit machte? Das spräche nun fast schon wieder fürs Internet. Bos lobt auch das "schlüssige Deutsch" der beiden Schnellübersetzer Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.08.2015

Mit einer sehr umfangreichen Besprechung würdigt Rezensentin Sandra Kegel den neuen unter dem Titel "Unschuld" erscheinenden Roman Jonathan Franzens, der in einer für sie frappierenden, aber diskreten Konstruktion Internet und DDR zu verbinden weiß. Auf achthundert Seiten stürzt sich die Kritikerin in ein "wahlverwandtschaftliches Spiegelkabinett", in dem ihr auf unterschiedlichen Kontinenten und zu unterschiedlichen Zeiten zahlreiche ambivalente und mit psychologischer Tiefenschärfe gezeichnete Figuren begegnen - etwa der in der DDR aufgewachsene Enthüllungshacker Andreas oder die Reinlichkeits-Fanatikerin Pip, die ausführlich über olfaktorische Reize philosophiert. Fasziniert vermerkt die Rezensentin, wie Franzen einen komplexen auf Shakespeares "Hamlet" basierenden Text über Verrat und Vertrauen, Schuld und Kontrolle - in einem sozialistischen Staat oder in digitalen Netzwerken - komponiert, darüber hinaus meisterhaft kluge Binnenessays einflicht ohne die ebenso stilsichere wie fesselnde Erzählung zu stören. Nicht zuletzt lobt Kegel die gelungene deutsche Übersetzung durch Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld.
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