Thomas Hettche

Herzfaden

Roman der Augsburger Puppenkiste
Cover: Herzfaden
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2020
ISBN 9783462052565
Gebunden, 288 Seiten, 24,00 EUR

Klappentext

Ein zwölfjähriges Mädchen gerät nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste durch eine verborgene Tür auf einen märchenhaften Dachboden, auf dem viele Freunde warten: die Prinzessin Li Si, Kater Mikesch, Lukas, der Lokomotivführer. Vor allem aber die Frau, die all diese Marionetten geschnitzt hat und nun ihre Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte eines einmaligen Theaters und der Familie, die es gegründet und berühmt gemacht hat. Sie beginnt im 2. Weltkrieg, als Walter Oehmichen, ein Schauspieler des Augsburger Stadttheaters, in der Gefangenschaft einen Puppenschnitzer kennenlernt und für die eigene Familie ein Marionettentheater baut. In der Bombennacht 1944 verbrennt es zu Schutt und Asche.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 12.10.2020

In seinem stringent erzählten Roman "Herzfaden" spürt Thomas Hettche das "Das Furchtbare im Possierlichen" auf, und macht es mit Feinsinn und Geschick für die Leser sichtbar, erklärt Rezensentin Judith von Sternburg. Das Possierliche, das sind wohl die Marionetten aus der Augsburger Puppenkiste, die spielen auf beiden Erzählebenen eine entscheidende Rolle, lesen wir. Auf der ersten helfen Urmel, Jim Knopf und Kalle Wirsch einem Mädchen der Gegenwart, das in Bedrängnis geraten ist. Doch auch hier schon deutet sich das Furchtbare in Gestalt des bös grinsenden Kasperles an. Ein ähnliches Unbehagen wie das Mädchen empfindet auch Hannelore Oehmichen gegenüber dem Kasper, und das, obwohl sie ihn selbst geschnitzt hat. Oehmichen, erklärt von Sternburg, ist nämlich die Tochter des Erfinders der Augsburger Puppenkiste, deren Geschichte Hettche auf der zweiten Ebene erzählt. Und auch hier wird mit wohl platzierten Fragen und Hinweisen auf die Schrecken der Judenverfolgung und des Zweiten Weltkriegs Bezug genommen. Mit diesem Roman erzählt Thomas Hettche ein Stück gut recherchierte Nachkriegsgeschichte auf spannende und dynamische Art und Weise, so die berührte Rezensentin.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 10.10.2020

Für Rezensentin Katharina Granzin ist dieser Roman "literarische Geschichtsstunde, Spiel mit Erzähltraditionen, künstlerische Hommage" in einem: Die Geschichte, in der ein Mädchen nach dem Besuch eines Puppentheaters auf einen geheimen Dachboden stößt, selbst auf Marionettengröße schrumpft und mit bekannten Figuren wie Jim Knopf die Mitbegründerin der Augsburger Puppenkiste, Hannelore Oehmichen, und ihre Geschichte kennenlernt, hat die Kritikerin daran erinnert, dass die Puppenkiste eine große Bedeutung für die humanitäre Bildung der Nachkriegs-BRD hatte, und mit welchen Ambivalenzen das noch zu NS-Zeiten entstandene Puppentheater kämpfen musste. Bestimmt keine Kindergeschichte, verspricht sie.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 16.09.2020

Rezensent Helmut Böttiger weiß, dass Thomas Hettche mit seinem Roman über die Augsburger Puppenkiste an Kleists Betrachtungen über die Grazie des Marionettentheaters anknüpft. Und er erkennt, wie sich Hettche in Form und Inhalt seiner Ästhetik annähert, wenn er Puppe und Mensch, Gegenwart und Vergangenheit, Kunst und Liebe durch unsichtbare Fäden miteinander verbindet. Böttiger kann nur bewundern, wie kunstvoll Hettche von Hatü erzählt, der Tochter des Puppenkisten-Erfinders Walter Oehmichen, wie er einen Horrorkasper imaginiert, und schließlich mit Jim Knopf, Kalle Wirsch und dem Urmel verzaubert - in blauer oder in roter Schrift, realistisch oder surreal, aber immer magisch.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 11.09.2020

In den höchsten Tönen lobt Rezensentin Wiebke Porombka den neuen Roman von Thomas Hettche, der ihr die Geschichte der Augsburger Puppenkiste erzählt - und mehr: Fantasiereich, ernsthaft und doch "sprühend albern" lasse Hettche die Puppen auf dem Dachboden tanzen. Mittendrin: Hannelore Oehmichen, die Tochter des Erfinders der Puppenkiste. In auch grafisch unterschiedlichen Passagen erzähle der Autor zugleich die Entstehungsgeschichte der Augsburger Puppenkiste, eng verwoben mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs und den Nachkriegsjahren, informiert die Kritikerin. Wie Hettche eine Prise "Alice im Wunderland" mit deutscher Geschichte verwebt, findet Porombka beeindruckend.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.09.2020

Rezensent Hubert Spiegel erkennt in Thomas Hettches Märchen um ein Mädchen, das hinter die Kulissen der Ausgburger Puppenkiste schaut und um die realen Figuren hinter den Puppen eine Allegorie auf das Nachkriegsdeutschland, das Verborgene und Verdrängte. Dass der Autor nicht so weit geht, im Puppenspiel ein ideologisches Projekt und den Versuch einer "moralischen" Reinigung zu sehen, nimmt der Rezensent mit Erleichterung zur Kenntnis. Hettches gründliche Recherche im Zeithistorischen, sein Händchen fürs Fantastische und die Balance zwischen beidem machen die Lektüre für Spiegel zum spannenden Ereignis für Jung und Alt.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 10.09.2020

Rezensent Christoph Schröder bewundert Thomas Hettches Geschick beim Ersinnen und Ausführen der "vertrackten" Konstruktion seines neuen Romans. Das Ergebnis, eine Mischung aus Mentalitätsgeschichte der deutschen Nachkriegszeit und Geschichte der Augsburger Puppenkiste und ihrer Macher, findet Schröder unterhaltsam und beunruhigend zugleich, weil es unter der "nostalgisch angehauchten" Oberfläche "tief in den Urgrund" der Nazivergangenheit abtaucht und Kriegstraumata, historische Kontinuitäten und die Bereitschaft eines Volkes offenlegt, seine Täterschaft "buchstäblich zu überspielen".