Ulrike Jureit, Christian Schneider

Gefühlte Opfer

Illusionen der Vergangenheitsbewältigung
Cover: Gefühlte Opfer
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010
ISBN 9783608946499
Gebunden, 250 Seiten, 21,95 EUR

Klappentext

Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland wird weltweit als vorbildlich angesehen. Dieses positive Bild hängt mit dem Bemühen zusammen, den Massenverbrechen einen angemessenen Platz in der kollektiven Erinnerung einzuräumen. Die Kehrseite wird allmählich sichtbar: Der globalisierten Erinnerungslandschaft stellt sich unsere Gedenkkultur kaum; ihre theoretischen Grundlagen erweisen sich zudem als brüchig. Ulrike Jureit und Christian Schneider wollen mit ihren kritischen Nachfragen eine Debatte über andere Formen des historischen Erinnerns und Trauerns anregen.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 04.10.2010

Helmut König ist keineswegs einverstanden mit Ulrike Jureits und Christian Schneiders Thesen über die Illusionen deutscher Vergangenheitsbewältigung. Er sucht besonders der scharfen Kritik der Autoren an der deutschen Erinnerungskultur, die diese von einer wohlfeilen Identifikation mit den Opfern geprägt sehen, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Natürlich bestreitet König nicht, dass es die von der Historikerin Jureit und dem Soziologen und Psychoanalytiker Schneider angeprangerten Phänomene wie fragwürdiges Moralisieren, Betroffenheitswahn usw. gibt. Aber er hält den Autoren vor, einseitig vorzugehen, zu verzerren und zu vereinheitlichen. Zu jedem Beispiel von Jureit und Schneider fallen ihm Gegenbeispiele ein. Die Erinnerungskultur in Deutschland scheint ihm wesentlich vielfältiger und komplexer als hier dargestellt. Letztlich krankt das Werk in seinen Augen an einer erheblichen "zeitdiagnostischen Ungenauigkeit".

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 17.08.2010

Sehr eingehend diskutiert Rezensent Christian Semler dieses Buch der Historikerin Ulrike Jureit und des Psychoanalytikers Christian Schneider über eine auf die falsche Bahn geratene Erinnerungskultur in Deutschland. Semler findet die Studie "gedankenreich" und "oft scharfsinnig", auch wenn er ihre Thesen nicht alle teilt. D?accord geht er mit ihnen, wenn es um die Kritik eines erstarrten Gedenkens geht, auch der Hinweis, dass "trauern" eigentlich auch Loslösung bedeutet und Alexander Mitscherlich einen falschen Trauerbegriff verwendet hat, wenn er Unfähigkeit der Erinnerung beklagte. Aber die vor allem im Zuge von 1968 konstatierte Identifikation mit den Opfern kann Semler nicht ganz nachvollziehen. Einleuchtend scheint ihm noch der Hinweis auf die allgemeine Verehrung, die verfolgte jüdische Intellektuelle wie Walter Benjamin oder Theodor Adorno bei den 68ern genossen haben, und auf die Anklagen gegen die Täter-Eltern. Aber aus eigener Erfahrung möchte Semler doch betonen, dass sich die 68er nie in einer Opferrolle gesehen haben, sondern sich eher aktivistisch an die Seite der Befreiungsbewegungen gestellt hätten. Auch dass sie das Erinnerungszepter in der Hand hielten und schuld an Moralisierung und Pädagogisierung seien, will er nicht auf den 68ern sitzen lassen.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 09.08.2010

Dankbar nimmt Dorion Weickmann dieses Buch von Ulrike Jureit und Christian Schneider in die Hand, um Näheres zu erfahren über das nur geborgte Selbstbild des gefühlten Opfers, über Empörungsroutinen und das kollektive Gedächtnis (etwa bei Jan Assmann, den Jureit laut Weickmann überzeugend kritisiert). Den Vorschlag, das Moralisieren lieber durch "praktische Irritation" bei der Erinnerung an die Shoah zu ersetzen, hält die Rezensentin für richtig, nur weiß sie auch nach der Lektüre nicht genau, wie das gehen soll. Beim zweiten Autor im Bunde, Christian Schneider, der sich mit den Mitscherlichs und ihrem Diktum von der Unfähigkeit zu trauern auseinandersetzt, findet Weickmann sowohl Richtiges als auch Verkehrtes. So leuchtet ihr Schneiders Gedanke, die Toten würden heute umstandslos vereinnahmt (durch Heiligsprechung etwa) nicht ein. Die Erinnerungslücke hingegen, die Schneider bezüglich der Ursachen der Verführung eines ganzen Volkes durch den Nationalsozialismus erkennt, sieht Weickmann auch.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 29.07.2010

Mut und analytische Kraft bescheinigt Richard Klein den Autoren dieses Buchs, das sich des "heißen Eisens" deutscher Erinnerungskultur annehme. Die provokante Grundthese des Buchs sei, dass die Erinnerungskultur hierzulande aus einer geliehenen Opferperspektive heraus entworfen werde. Dass diese Erinnerungskultur daher auch exkulpative Momente habe: Wir, die wir uns erinnern, können nicht schuldig sein. Den hohen Erkenntniswert des Buchs sieht der Kritiker der Kombination des Autorenduos geschuldet: Ulrike Jureit sei Historikerin, Christian Schneider ein psychoanalytisch forschender Soziologe. Besonders inspirierend fand Klein Schneiders Skizze einer psychoanalytischen Theorie der Trauer, die mit einer hochspannenden Mitscherlich-Kritik einsetze und Lust auf mehr mache. Auch dankt er Schneider die Entdeckung von Norbert Elias als Diskursbeiträger zur Erinnerungsdebatte, in der er bislang zum Erstaunen des Kritikers keine Rolle spielte.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 24.07.2010

Rezensent Harry Nutt zeigt sich eingenommen von Ulrike Jureits und Christian Schneiders Buch über die deutschen Erinnerungsmoral seit 1945. Die historische, geistesgeschichtliche und psychoanalytische Untersuchung verdeutlicht seines Erachtens, wie das kollektive Erinnern an die Opfer des Holocaust gesellschaftlich geprägt ist. Dabei gingen die Autoren auch der Frage nach, warum Gedenken oft zu moralisierenden Formen öffentlichen Erinnerns führt. Nutt hebt insbesondere die Ausführungen über das gefühlte Opfer und die Identifizierung und Gegen-Identifizierung mit der Opferfigur bei den Akten des Erinnerns hervor. Insgesamt legen die Autoren für den Rezensenten "unaufgeregt" argumentierend nahe, "dass es keine abgeschlossene Kultur der Erinnerung geben kann".