Bücher der Saison

Politische Bücher

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
06.11.2017. In diesem Bücherherbst zog die AfD in den Bundestag ein. Publizisten fragen sich, ob sie "mit Rechten reden" sollen. Die Flüchtlingsfrage bewegt viele weitere Bücher.
Mit Rechten reden, mit Linken denken

Natürlich haben Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn mit ihrem Leitfaden "Mit Rechten reden" () das Buch zur Stunde des großen Schreckens vorgelegt. Kaum ein Buch wurde in den Feuilletons so erwartungsvoll aufgenommen, was aber bestimmt auch daran liegt, dass die drei Autoren aus dem eigenen Club kommen. In der SZ unterhielt sich Alex Rühle mit den dreien über die Neuen Rechten, die nicht so doof seien, wie man hoffen würde. Im Deutschlandfunk begrüßt Simone Rosa Miller das Buch als Einladung zum konstruktiven Dialog. Nina Apin sagt in der taz deutlich, dass sie auch nach der Lektüre nicht weiß, ob und wie sie mit Rechte reden soll. Sehr wichtig findet sie aber, wie die drei Autoren eine linke Debattenkultur aus Empörung und Moralismus analysieren, die den Rechtspopulismus fast zwangsläufig generiert hat. In der Zeit vergleicht Ijoma Mangold das Buch ausführlich mit seinem auf der Buchmesse heftig angefeindeten Gegenstück, Caroline Sommerfelds "Mit Linken leben". Von Parität kann keine Rede sein: "Man sieht bald den Hauptunterschied: 'Mit Rechten reden' wirkt frei und unverklemmt, wo 'Mit Linken leben' oft etwas neurotisch Getriebenes hat."

Etwas weniger Wirbel hat Thomas Wagners Buch "Die Angstmacher" () verursacht, wurde aber von der Kritik sehr positiv aufgenommen. Der Soziologe und frühere Redakteur der Jungen Welt hat tatsächlich mit Rechten geredet. Alle Rezensenten zollen ihm Respekt für die Unerschrockenheit, mit der er die Protagonisten der Neuen Rechten - Götz Kubitschek, Ellen Kositza, Martin Sellner oder Alain de Benoist - ins kontroverse Gespräch nimmt und verdeutlicht, wie mühelos sie sich linke Positionen und Strategien einverleiben konnten.

Mit Rechten und Linken, mit Bürgern aus allen Schichten geredet hat Emmanuel Carrere, der in seiner Reportage "Brief an eine Zoowärterin aus Calais" () von seinem Aufenthalt in Calais erzählt, wo Europas größtes (inzwischen geräumtes), "Dschungel" genanntes Flüchtlingslager stand. Carrere interessiert sich insbesondere für die Bewohner der ehemaligen Industriestadt, erzählt Zeit-Kritiker Gero von Randow, der den Autor etwa in das verkommene Stadtviertel Beau-Marais begleitet, Armut und Hoffnungslosigkeit erlebt und staunt, wie eindringlich Carrere von seinen Erlebnissen zu erzählen weiß, ohne diese dabei zur These zu reduzieren. Auch FAZ-Kritikerin Lena Bopp ist beeindruckt, wie Carrere die Verzweiflung der Bürger von Calais einfängt. Noch einmal hingewiesen sei außerdem auf Arlie Russell Hochschilds Feldstudie aus dem Herzland der amerikanischen Rechten "Fremd in ihrem Land" (). Die kalifornische Soziologin erforscht darin die Lage im bitterarmen Louisiana, in dem keine noch so üble Erfahrung mit der ausbeuterischen Kapitalismus der Pterochemischen Industrie die Leute von ihrem rechten Weltbild abbringen kann, von ihrer Verehrung der Reichen und ihrem Abscheu vor den Demokraten. Bereits vor Donald Trumps Wahl wurde das Buch ausgiebig, aber vergeblich in New Yorker, The Nation und New York Times besprochen.

Mit "Gesellschaft als Urteil" () knüpft Didier Eribon unmittelbar an das Buch "Rückkehr nach Reims" an, in dem er sehr persönlich die Scham analysierte, die mit der Herkunft aus kleineren Verhältnissen verbunden ist. Auch in seinem Buch befasst sich Eribon mit den Mechanismus, die in der Klassengesellschaft Minderwertigkeitsgefühle generieren: Kulturelles Wissen, Riten, Codes und Konformitätsdruck, deren Analyse der Soziologe Oliver Nachtwey in der SZ lobt. Einig sind sich die Kritiker, dass Eribon hier theoretischer, abstrakter vorgeht und nicht die Wucht des Vorgängerbuchs erreicht. Einige vermissen auch die Empirie. In der Zeit gefällt Alexander Cammann besonders gut, wie Eribon die Biografie Simone de Beauvoirs gegen die seiner Großmutter schneidet. Positiv äußern sich auch KritikerInnen in taz und FAS, nur die FAZ kann mit dem Buch gar nichts anfangen. Es ist vielleicht interessant, neben Eribons Band Ute Freverts "Die Politik der Demütigung" () zu lesen. Die Historikerin erkundet darin Techniken der Demütigung seit dem 18. Jahrhundert, die, wie Thomas Speckmann in der SZ bemerkt, analog ebenso funktionieren wie digital. Im Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur erklärt Frevert, was die Herabsetzung ausmacht: Für eine Demütigung benötigt man ein Publikum, sie wird inszeniert und dient "der Stabilisierung der eigenen Macht".


Flüchtlinge: Hugenotten und andere Verfolgte

Philipp Thers Studie "Die Außenseiter" () ist bisher recht wenig besprochen worden. Dabei hat sie es in sich: Der Historiker Ther geht darin den großen Fluchtbewegungen im Europa der Neuzeit nach, von der Vertreibung der sephardischen Juden aus dem Spanien der Reconquista über die Flucht der Hugenotten und die großen Vertreibungen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Zeit preist Elisabeth von Thadden die Fülle der Einsichten und der Geschichten: 1685 etwa nahm das dreißigtausend Einwohner zählende Frankfurt hunderttausend Hugenotten auf. Im Spiegel wurde Tobias Rapp angesichts der eigenen Sicherheit ganz schwindlig. Und er lernt: Je mehr Bereitschaft eine Gesellschaft zeigt, Flüchtlinge aufzunehmen, desto besser klappt die Integration.

Mit seiner kritischen Gebrauchsanweisung für "Das Leben" () hat der in Princeton lehrende Sozialwissenschaftler Didier Fassin den Rezensenten den Blick geweitet. Der frühere Arzt und autodidaktische Anthropologe interessiert sich weniger für den Rechtspopulismus der Abgehängten als vielmehr für die Spannung zwischen biologischem Leben und Biografie. Mit großem Interesse liest Zeit-Kritikerin Elisabeth von Thadden dieses auf Fassins Frankfurter Adorno-Vorlesungen beruhende Buch, in dem der Autor die Ungleichheiten des Lebens unter rechtlichen und ökonomischen Bedingungen analysiert und dabei in Tradition der Frankfurter Schule "fesselnde" Feld- und Fallstudien anführt: aus dem Dschungel in Calais, aus Flüchtlingslagern in Südafrika, über Armut und Korruption auf Haiti. Wie er diese Feldstudien mit Kritischer Theorie und aktuellen Ereignissen - etwa die Ermordung junger Schwarzer in den USA - miteinander verbindet, hat auch dem FAZ-Rezensenten Patrick Bahners imponiert. Noch einmal erinnert sei außerdem an Emmanuelle Loyers vielfach gefeierte Biografie des großen Anthropologen und Melancholikers Claude Lévi-Strauss, auf die wir bereits im Bücherbrief hingewiesen haben ().


Erweiterung des Horizonts, Rückkehr in die Tagespolitik

Gegen jede mentale Beschränkung auf das Hier und und Heute empfehlen NZZ und FAZ Eliot Weinbergers Essays "Vogelgeister" (), die mit einem gewissen Pathos der kulturellen und literarischen Polyphonie huldigen, wenn sie von indischen Hochzeitsmythen oder chinesischen Herrscherdynastien erzählen. Der Horizonterweiterung dienlich scheint der FAZ auch Cyrill Stiegers Band "Wir wissen nicht mehr, wer wir sind" (), in dem der Schweizer Slawist vergessene Minderheiten des Balkan in den Blick nimmt, wie etwa Pomaken, Istrorumänen und Uskoken.

Sehr instruktiv finden die Kritiker auch Pierre Rosanvallons Analyse "Die Gegen-Demokratie" (). In ihr untersucht der französische Zeitgeschichtler die Kräfte der Zivilgesellschaft, die ein Gegengewicht zu den Institutionen der repäsentativen Demokratie bilden: Medien, Blogs, NGO, Gewerkschaften, Aktivisten. In der taz schätzt Rudolf Walther die Tiefe von Rosanvallons Reflexionen jenseits "tagespolitischer Schaumschlägerei", in der Zeit lobt Maximilian Probst auch seinen Blick für die Ambivalenzen des demokratischen Misstrauen. Den Liebhabern poststrukturalistischer Theorie kann zumindest die Zeit Achille Mbembes postkoloniale Streitschrift "Politik der Feindschaft" () empfehlen. In der Berliner Zeitung wünscht sich Dirk Pilz eine Diskussion über Mbembes Thesen, die unter anderem der westlichen Demokratie ankreidet, ihre Entstehung dem Export der eigenen Gewalt in die Kolonien zu verdanken.

Gelobt wurde Franziska Meifort für ihre Biografie des Soziologen, liberalen Denkers und FDP-Politikers "Ralf Dahrendorf" (). In der SZ würdigt Jörg Später etwas verhalten Umsicht und Gründlichkeit der Arbeit, im Deutschlandfunk findet Ulrike Ackermann jedoch hervorragend, wie die Autorin den Facettenreichtum dieses politischen Lebens beleuchtet. Und die Aktualität von Dahrendorfs Denken nennt sie schlicht atemberaubend. Hier noch einmal sein prophetischer Artikel über das Heraufziehen des Autoritarismus. Und eigentlich jedem und immer empfiehlt die FAZ John Stuart Mill und so auch das schmale Brevier "Individualität und Mehrheit" ().

Schon mehrfach hingewiesen haben wir auf den Essay "Europadämmerung" () des bulgarischen Politikwissenschaftler Ivan Krastev, der nicht nur den Bruch zwischen Ost- und Westeuropa in der Flüchtlingsfrage sehr gut erklären kann, sondern auch Wege zur Versöhnung eröffnet. SZ und Zeit loben Krastev in höchsten Tönen für stilistische Brillanz, politischen Scharfsinn und "Schönheit der Gedanken". Aufmerksam, aber auch mit einer gewissen Enttäuschung wurde Heinrich August Winklers Krisenabriss "Zerbricht der Westen?" () zur Kenntnis genommen, mit dem der Großhistoriker das politischen Geschehen der vergangenen Jahre, vom Brexit über Donald Trump zum Rechtspopulismus kommentiert.

Wer für die kommende Regierung gut gerüstet sein will, dem legt die FAZ noch Christoph Weckenbrocks Studie "Schwarz-Grün für Deutschland?" () ans Herz, die untersucht, wie sich CDU und Grüne über die Jahrzehnte annäherten. Aktuell interessant dürfte auch der Aussteigerbericht "Meine falschen Brüder" () des österreichischen IS-Kämpfers Oliver N. sein, der laut Zeit tiefe Einblicke in die Szene des Dschihadismus vermittelt.