Bücher der Saison

Romane und erzählende Literatur

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
06.11.2017. Reisen in die Vergangenheit, Liebe an den unmöglichsten Orten, Kriegsverbrecher und Europapolitiker als Romanhelden und ein Till Eulenspiegel prägen die Romane der Saison.
Frankreich

Seit dem überwältigenden Auftritt Ungarns bei der Buchmesse 1999 wurde kein Literaturland mehr so gefeiert, wie in diesem Jahr Frankreich. Wie es aussieht, ist Michel Houellebecq nicht mehr der einzige Autor, der einen gründlichen Blick auf die Gesellschaft - nicht nur aufs eigene Milieu - wirft.

Annie Ernaux, 1940 in kleinen Verhältnissen in der Normandie geboren, umfasst in ihrem Blick zurück auf "Die Jahre" die seitdem vergangen sind, gleich die ganze französische Gesellschaft. "Ernaux traut sich etwas", ruft Nils Minkmar im Spiegel. "Bevor man es nicht gelesen hat, hält man so etwas gar nicht für möglich." Denn dieses als Roman bezeichnete Buch, lernen wir, hat keine "Spielhandlung" und kein Ich - jedenfalls lange Zeit nicht. Es erzählt vielmehr, aus der Perspektive der Bourdieu-geschulten Annie Ernaux, das gesellschaftliche Wir - von der Algerienkrise, den Bomben der OAS in Paris, sexueller Unterdrückung und Befreiung, dem Attentat auf de Gaulle und den 68ern, von Hoffnungen, Enttäuschungen und der zunehmenden Melancholie nach der Jahrtausendwende, so der hingerissene Klaus Bittermann in der taz. In der FAS ist Anna Vollmer beindruckt von dem nostalgiefreien Blick der Autorin. Klingt das jetzt mehr nach soziologischer Arbeit als literarischem Werk? Das würden wohl alle Rezensenten verneinen. Bei Ernaux "wird das Private politisch, die Politik in Gespräch überführt, und aus alledem wird brisante, aktuelle und poetische Literatur", versichert Minkmar.

Einen interessanten Blick zurück wirft auch der unter dem Pseudonym Joseph Andras schreibende Autor, der auf 158 Seiten mit "Die Wunden unserer Brüder" eine besonders heikle - für die französische Gesellschaft und Politik jedenfalls - Geschichte aus dem Algerienkrieg erzählt. Hauptfigur ist der Algerienfranzose Fernand Iveton, ein Kommunist, der wegen eines versuchten Bombenanschlags in einer leeren Fabrik zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Nach Annie Ernaux hat dieser schmale Roman vielleicht die größte Zustimmung bei den Kritikern erfahren, die die meisterhafte Komposition und Härte bewunderten. Gute Kritiken bekam auch der Debütroman des in Burundi geborenen, als 13-Jähriger vor dem großen Morden der Hutu an den Tutsi nach Frankreich geflohenen Rappers Gaël Faye, "Kleines Land" Anders als Andras blickt Faye nicht im Zorn zurück, sondern feiert das Glück seiner Kindheit.

Der Roman "Dann schlaf auch du" der französisch-marokkanischen Autorin Leila Slimani spielt in der Pariser Mittelschicht: grün, gebildet und weltoffen. Die Personen: Ein Vater, eine Mutter, zwei Kinder, die Mutter würde gern wieder arbeiten, also stellen sie ein Kindermädchen ein, Louise. Und damit bricht das Unheil in die Familie ein. "Unerhört", wie scharfsichtig und kühl Slimani die beiden Welten beschreibt, die hier zusammenprallen, staunt Tilman Krause in der Welt. Ein aktuelles Sittenbild, scharf wie mit dem Messer geschnitten, lobt Sandra Kegel in der FAZ. Und auch in der taz ist Elise Graton beeindruckt, wie hier Rassismus, Klassen- und Geschlechterunterschiede lakonisch ausgelotet werden. Pascale Kramer ist Schweizerin, in Genf geboren und in Paris lebend. Ihr Roman "Autopsie des Vaters" ist die Geschichte einer - wenn man drüber nachdenkt eigentlich selten beschriebenen - Vater-Tochter-Beziehung. Kurz vor seinem Selbstmord trifft Ania noch einmal auf ihren Vater, der sich vom linken Intellektuellen zu einem Rechten entwickelt hat, der die Mörder eines Migranten verteidigt. Kramer ist äußerst sparsam mit Anspielungen auf die politische Situation in Frankreich, aber sie schwingt mit, so Martin Zingg in der NZZ, den gerade diese Zurückhaltung beeindruckt hat.

Und dann ist da noch Tristan Garcias Roman "Faber. Der Zerstörer" Es ist die Geschichte eines charismatischen kleinen Mistkerls, der zwischen Mord und Selbstzerstörung schwankt und am Ende in beidem erfolgreich ist. Die Rezensenten waren von den Socken über dieses Zusammentreffen von mittelmäßiger Umwelt und teuflischem Waisenkind. Garcia, im Nebenberuf Philosophprofessor in Amiens auf der Suche nach dem "intensiven Leben" versucht im Gespräch mit dem Spiegel, sich allen Zuordnungen zu entziehen. Ijoma Mangold, der den Autor für die Zeit zum Gespräch traf, hat das überhaupt nicht gestört, er war hin und weg. Katharina Teutsch bescheinigte dem Autor in der FAZ großartiges Erzähltalent, seine politisch-philosophischen Ansichten erscheinen ihr eher wischiwaschi: "Hier ist er also wieder, der Wunsch nach dem intensiven Leben, die Unfähigkeit, ihm höhere Ziele abzuringen. Dann die literarische Koketterie mit dem Terror, am Ende das versöhnliche Einschwenken auf die bürgerliche Behaglichkeit. Man kann ja immer noch Schriftsteller werden. Oder Philosoph. ... Et alors?"

Sehr gut besprochen wurden außerdem Virginie Despentes' "Das Leben des Vernon Subutex" wir haben es bereits im Bücherbrief empfohlen), das uns an der Hand eines Punkrockers auf dem absteigenden Ast an die Ränder der französischen Gesellschaft führt, zu den Porno-Queens, "Pussy-Tussies" und Banlieue-Machos. Die Rezensenten waren absolut hingerissen und uneins nur in der Frage, ob das jetzt mehr an Balzac oder an Houellebecq erinnert. Wir lassen Despentes einfach mal Despentes sein. Edouard Louis' "Im Herzen der Gewalt" ist gewissermaßen eine Fortführung seines Bestsellers "Das Ende von Eddy" in dem er vom Aufwachsen als junger Schwuler in der homophoben französischen Provinz erzählt. "Im Herzen der Gewalt" erzählt er von jener Nacht, als er von einem Algerier nach einem One-Night-Stand vergewaltigt, stranguliert und fast ermordet wird und wie sich das auf ihn auswirkte. Die Kritiker sind sehr betroffen, nur Tilman Krause erkennt in der Welt auf mehr Wehleidigkeit als Selbsterkenntnis und winkt ab. Und wer glaubt, die Franzosen könnten nur noch autobiografisch, sei auf den neuen Roman von Jean Echenoz verwiesen: Sein Thriller "Unsere Frau in Pjöngjang" ist reine, glorreiche, ins Absurde kippende Fiktion, versichern die entzückten Kritiker in FR, SZ und NZZ.


Osteuropa

255 Seiten braucht die 1940 in der Normandie geborene Annie Ernaux, das Frankreich der Nachkriegszeit bis heute zu erinnern. Es ist bestimmt interessant, Peter Nadas' "Aufleuchtende Details" dagegen zu halten, auch wenn er es einem mit 1250 Seiten nicht ganz leicht macht. Auch dies ist kein Roman im eigentlichen Sinne. Nadas' Erzählung beginnt im Oktober 1942, als seine Mutter in Budapest mit der Straßenbahn zur Entbindung fährt und zur gleichen Zeit Jan Karski der polnischen Exilregierung in den Pyrenäen vom Widerstand berichtet. Die Jahre zwischen 1944 und 1956 sind das Kernelement des Buchs, erklärt Tilman Spreckelsen in der FAZ, wobei ein Teil in Budapest spielt, ein anderer im französischen Lager in Le Vernet, wo viele Ungarn, darunter auch Nadas' Vater inhaftiert waren, erzählt Karl-Markus Gauß in der SZ. Kriegserlebnisse, Faschismus, Kommunismus, Privates - alles greift ineinander, mal essayistisch, mal detailverliebt, schreibt Iris Radisch in der Zeit, die den Autor getroffen hat: "Wenn Nádas sich für die historischen Tiefenschichten seines verwundeten Ich interessiert, für die ererbten Gefühle und Verletzungen, die von der Forschung 'transgenerationale Traumatisierung' genannt werden, dann niemals im Sinn einer Versöhnung mit der Vergangenheit, sondern ausschließlich im Dienst einer Klarstellung. Man muss seinen Niederlagen offen in die Augen sehen."

Rückblicke in die Vergangenheit finden sich auch in Ljudmila Ulitzkajas Roman "Jakobsleiter" die das Leben ihrer Großeltern in der Sowjetunion literarisch verarbeitet hat: Er ist politisch, ideologisch und philosophisch ein unverrückbarer Intellektueller. Sie ist eine parteihörige, egozentrische "proletarisch-launische Bohèmienne" und Verräterin ihres Ehemanns, wie sich im Laufe der Geschichte herausstellt. Ein aufklärerisches Buch, meint Ilma Rakusa in der NZZ. Aber man muss sich hineinlesen, warnt Hans-Peter Kunisch in der SZ, aber dann "gewinnt der Roman eine Panorama-Qualität, die einer 'Great Russian Novel' würdig wäre". Lesenswert ist auch das Interview, das Ulrich M. Schmid im März für die NZZ mit Ulitzkaja führte. Auch der 1937 in Südkärnten geborene slowenisch-österreichische Autor Florian Lipus liefert in seinem schmalen Büchlein "Seelenruhig" eine "hinreißende Lebensbetrachtung", schwärmt in der FAZ Lerke von Saalfeld. Von Albträumen liest er, von "wundervollen Momenten der Liebe" und von einem Autor, der, so Lipus selbst, "sein ganzes Leben an ein und demselben einzigen Text schreibt".

Gut besprochen wurden außerdem Michail Schischkins "Die Eroberung von Ismail" der seine literarisch bearbeiteten Erlebnisse im Moskau der neunziger Jahre mit historischen Ereignissen überblendet und diese wiederum mit Motiven von Turgenjew oder Tschechow verschränkt. In der NZZ ist Ulrich M. Schmid begeistert, in der taz schwirrt Katrin Hillgruber der Kopf. Zoran Ferics erzählt in seinem Roman "In der Einsamkeit nahe dem Meer" vom Jugoslawien der Siebziger Jahre und dabei auch vom serbisch-kroatischen Verhältnis: "Sonne, Freiheit und Testosteron" bilden die Grundlage für die Ereignisse auf der Insel Rab, die in Gewalt ausarten. Die Heiterkeit, mit der hier geflirtet und gevögelt wird, hat dem FR-Rezensenten Norbert Mappes-Niediek gut gefallen. Und als jüngste Entdeckung aus dem offenbar unerschöpflichen Reservoir genialer russischer Werke aus den Dreißigern sei noch einmal auf Artjom Wesjolys Revolutions-Roman "Blut und Feuer" hingewiesen.


Afrika

Der heute in Kalifornien lebende Alain Mabanckou erzählt in seinem autobiografischen Roman "Die Lichter von Pointe-Noire" von seinem Besuch in seiner Heimatstadt im Kongo, die er 23 Jahre zuvor Richtung Paris verlassen hatte. Man lernt die zahlreiche Verwandschaft kennen, unternimmt mit Mabanckou Streifzüge durch die Stadt und trauert mit ihm um die Mutter, die ihn verstoßen hatte, als er nach Frankreich ging, und die starb, ohne ihn wiedergesehen zu haben, so einhellig die Rezensenten, die ebenso angeregt wie berührt von dem Buch sind: Der Humor und die Ehrlichkeit, mit der der Autor von seiner Identitätssuche und dem Gefühl des Fremdseins erzählt, haben Karen Krüger in der FAZ beeindruckt. "Ich wollte, dass die Leute verstehen, was es heißt, ein Afrikaner zu sein, der seinen Kontinent verlassen hat", zitiert ihn Holger Heimann in der Stuttgarter Zeitung. "Es ist eine Reise in ein Land, das dem Autor selbst oft fast fremd vorkommt mit seinem Mix aus traditionellem Aberglauben, postkolonialem Marxismus und amerikanisierter Konsumkultur", aber es sei auch eine Erinnerung an den Kongo seiner Kindheit, schreibt Zeit-Rezensent Caspar Shaller, der von der Trauer und dem Humor Mabanckous stark beeindruckt ist.

Gut besprochen wurden auch Yaa Gyasis in Ghana und Amerika spielender Debütroman "Heimkehren" der eine Familiengeschichte mit der Geschichte des Sklavenhandels - die eine Schwester heiratet einen Sklavenhändler, die andere wird als Sklavin verkauft - verknüpft, und Elnathan Johns "An einem Dienstag geboren" über einen jungen Nigerianer, der auf der Suche nach Zugehörigkeit und Religion in die Fänge von Boko Haram gerät.


Asien

Mohsin Hamid erzählt in "Exit West" mit den Mitteln des magischen Realismus eine Liebesgeschichte in einem muslimischen Land, das nicht näher bezeichnet ist. Nadia versucht so säkular wie möglich zu leben und erkämpft sich ihre Freiheiten. Saeed ist schüchtern, religiös und seinen Eltern eng verbunden. Wie der aus Lahore stammende und in den USA ausgebildete Autor auf seine Heimat zurückblickt, findet FAZ-Kritiker Hubert Spiegel aufschlussreich. Drastisch wie behutsam erscheint ihm Hamids Zugriff auf seine Geschichte um Liebe, Flucht und Exil. Auch sprachlich hat der Roman überzeugt: Meredith Haaf lobt in der SZ den Wechsel aus beherrschter Distanziertheit und tiefer psychologischer Einsicht. "Was Mohsin Hamid in 'Exit West' praktiziert und als politisches Manifest fordert, ist radikaler Optimismus. Denn im Moment sind die Geschichten über die Flüchtlingskrise zutiefst pessimistisch, angefangen bei dem Wort Krise", erklärt im Deutschlandfunk Mithu Sanyal, der das Buch wärmstens empfiehlt und uns zum Einstieg Hamids Essay gegen Rückwärtsgewandtheit und Nostalgie im Guardian ans Herz legt.

Han Kangs Roman "Menschenwerk" der das Massaker von Gwangju, mit dem die südkoreanische Regierung der Demokratie-Bewegung im Land ein vorläufiges Ende bereitete, literarisch verarbeitet, und Anuk Arudpragasams "Die Geschichte einer kurzen Ehe" über ein Liebespaars in einem tamilischen Flüchtlingslager. Arundhati Roys "Das Ministerium des äußersten Glücks" der von einer Art Kommune der Außenseiter auf einem indischen Friedhof erzählt, erntete viel Respekt aber auch sehr gemischte Reaktionen. Zu überfrachtet mit sämtlichen Problemen Indiens, findet ihn SZ-Kritiker Jörg Häntzschel. Folter, Misshandlung, Blut, da atmet der Rezensent auf, wenn auch mal von Liebe die Rede ist. Es ist ein ebenso grandioses, subversives wie "misslungenes" Buch, meint Jan Ross in der Zeit, prall gefüllt mit poetischen Sentenzen und Witz - jedenfalls im ersten Teil. taz und FAZ haben den Roman sehr gern gelesen. Man muss sich einfach mitreißen lassen, empfiehlt Arno Widmann in der FR.


Deutschland / Österreich

Der Österreicher Robert Menasse hat mit "Die Hauptstadt" wir haben ihn bereits im Bücherbrief empfohlen) nicht nur einen Roman über ein so sperriges Thema wie die EU geschrieben, er hat damit auch noch den Deutschen Buchpreis gewonnen. Und wenn man den Rezensenten glaubt, völlig zu Recht. Mit Handwerkskunst, Witz und Konstruktionsenergie hat er einen wimmelbildartiges und spannendes Brüssel-Porträt geschaffen, loben die Rezensenten durch die Bank weg, die besonders Menasses virtuoser Einsatz seines komplexen Figurenensembles beeindruckt hat. Und dass der Roman insgesamt ein Plädoyer für die EU ist, gefiel ihnen in Zeiten von AfD, Front National und PiS auch. Daniel Kehlmanns "Tyll" hat fast ähnlich enthusiastische Reaktionen hervorgerufen. Es ist ein historischer Roman, eine Adaption der Till-Eulenspiegel-Sage, die Kehlmann ins 17. Jahrhundert verlegt hat, um den Helden durch das 30 Jahre lang von europäischen Glaubenskriegen zerstörte Deutschland zu führen. Magischer Realismus, polyperspektivische Erzählstrukturen und amüsant ist es auch noch, versichern die Rezensenten in NZZ, SZ, FAZ, Welt, Zeit, die sich vor Begeisterung fast überschlagen. Christoph Bartmann sieht in der Süddeutschen den Autor auf den Spuren von Leo Perutz. Anspielungen auf die Gegenwart, meint er, interessieren Kehlmann eher nicht. Dieser Roman erzählt vor allem "vom Erinnern und vom heilsamen Vergessen, vom Verschweigen des allzu Furchtbaren", erkennt Tilman Spreckelsen in der FAZ.

Sehr gut besprochen wurde Marion Poschmanns Roman "Die Kieferninsel" über den Bartforscher Gilbert, der auf einer spontanen Japanreise den lebensmüden Chemie-Studenten Yosa Tamagotchi kennenlernt und mit ihm die Wanderung wiederholt, die der Dichter Matsuo Bas­ho Ende des 17. Jahrhunderts angetreten hatte - leichthändig, sprachlich elegant und magisch, versichert die Zeit, knisternd-klug und witzig, schwärmt die NZZ. FAZ-Kritiker Andreas Platthaus hat das Buch gleich zwei Mal gelesen. Großes Lob auch für Sasha Marianna Salzmanns "Außer sich" über die inzestuös verbandelten Zwilling Alissa und Anton, die als jüdische Kontingentflüchtlinge in den Neunzigern aus Russland nach Deutschland fliehen, auf ganz unterschiedliche Weise nach ihrer Identität suchen und getrennt voneinander nach Istanbul reisen. Jung und herausragend, ruft die Süddeutsche, auf besondere Weise aus der zeitgenössischen Literatur herausragend, lobt die FAZ.

Zwei neue Romane setzen sich mit der Eugenik im Dritten Reich auseinander: Uwe Timm erzählt in "Ikarien" die Geschichte des Rassenhygienikers Alfred Ploetz (der der Großvater seiner Frau war) in Form eines Verhörs durch einen amerikanischen Soldaten. Fein komponiert, findet FAZ-Kritiker Fridtjof Küchemann diese "monströse Geschichte". Timm macht aus seinen Figuren echte Menschen, lobt Nicolas Freund in der SZ. Rainer Moritz (NZZ) hätte allerdings lieber eine richtige Biografie über Alfred Ploetz gelesen, der fiktionale Rahmen trägt seiner Ansicht nach nichts zur Geschichte bei. Auch Barbara Zoekes Roman "Die Stunde der Spezialisten" spielt unter Medizinern im Dritten Reich. Wie die Autorin aus einer "barbarischen historischen Konstellation" eine poetische Atmosphäre destilliert, hat dem SZ-Kritiker Helmut Böttiger fast den Atem geraubt. Zoeke vermeidet jede Dämonisierung, lobt Friedmar Apel in der FAZ, dem auch die eingefügten Kommentare gefallen haben, die die Authentizität der Geschichte belegen.


Englischsprachige Literatur

Mit 86 Jahren hat die irische Autorin Edna O'Brien mit "Die kleinen roten Stühle" einen Roman vorgelegt, der die Kritiker nach Luft schnappen ließ. Die titelgebenden Stühle stellten die Einwohner Sarajewos am zwanzigsten Jahrestag der Belagerung zur Erinnerung an jene auf, die dabei getötet wurden. Von einem serbischen Kriegsverbrecher handelt auch O'Briens Roman. Der taucht als harmloser Doktor in einer irischen Kleinstadt auf und schwängert dort eine verheiratete Frau. Als die Sache herauskommt, wird sie verstoßen, landet erst in London und später als Zeugin beim Kriegsverbrecherprozess in Den Haag. Es waren die Lügen Radovan Karadžićs, der sogar behauptet hatte, die Leichen auf dem Marktplatz von Sarajewo seien in Wirklichkeit Schaufensterpuppen gewesen, die O'Brien auf ihr Thema gebracht hatten, erzählt Martin Zähringer im NDR. In der SZ staunt Eva Schäfers über die atmosphärische Dichte des Romans. FAZ-Rezensent Tobias Döring lobt die bildstarke Sprache des Textes, die wechselnden Erzählperspektiven und den mitreißenden Erzählstrom. Ein Interview in der NZZ offenbart viel von der Autorin, die in den Fünfzigern nach England floh, weil ihre Bücher in Irland verbrannt wurden.

Sehr gut besprochen wurden außerdem Zadie Smiths experimentell um das Thema Herkunft und Identität kreisender Roman "Swing Time" über zwei Mädchen aus dem Nordwesten Londons, die Tänzerinnen werden wollen, Colson Whiteheads "Underground Railroad" der beispielhaft die Geschichte einer Sklavin im Amerika des 19. Jahrhunderts erzählt, und Salman Rushdies amerikanischer Mafiaroman "Golden House" der fröhlich mit den Genres Liebes- und Gangstergeschichte, Gegenwartsdiagnose, Familienroman und Schauerroman jongliert.