Bücherbrief

Wolken, Wind und Weite

04.03.2021. Christian Kracht, der letzte Metaphysiker unter den Romanciers, ringt mit seiner exzentrischen Mutter in der Schweiz um Erinnerungen, Ludmila Ulitzkaja kämpft grausig-gut mit einem Impfstoffforscher gegen die Pest unter Stalin, Mithu M. Sanyal enttarnt die "transrace"-Lüge einer biodeutschen Sarah aus Karlsruhe, Michael Rothberg denkt über multidirektionale Erinnerung nach und Blake Gopnik schenkt uns einen monumentalen Warhol. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats März.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Ludmila Ulitzkaja
Eine Seuche in der Stadt
Szenario
Carl Hanser Verlag. 112 Seiten. 16 Euro

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Ursprünglich hatte die russische Autorin Ludmila Ulitzkaja diesen Text im Jahr 1978 für einen Drehbuchkurs geschrieben. Und auch wenn das Buch uns in die Sowjetunion des Jahres 1939 führt, ist seine Aktualität unverkennbar: Ulitzkaja erzählt uns die Geschichte eines Impfstoffforschers, der sich durch einen Pestausbruch im Labor selbst infiziert und zur Zeit des Großen Terrors unter Stalin im Krankenhaus unter Quarantäne gestellt wird. Es ist allerdings gar nicht mal der Gegenwartsbezug, der die KritikerInnen jubeln lässt: "Grausig-gut" nennt Cornelia Geißler in der FR den Text vor allem wegen der romanhaft ausgearbeiteten Szenen und Dialoge, der treffenden Figuren- und Milieubeschreibungen, Ulitzkajas Humor und Sarkasmus und der ordentlichen Portion Dramatik. In der FAZ staunt Sabine Berking, wie die Autorin gerade durch das Knappe, "Fragmentarische", die Angst, den schwelenden Antisemitismus und die Wissenschaftsfeindlichkeit im Stalinismus einfängt. Und wenn Dlf-Kritiker Yannic Han Biao Federer hier von der rasend effizienten Bekämpfung der Pest durch Stalins in Nachverfolgungsmaßnahmen geübten Geheimpolizei liest, erkennt er, dass die Pest im Vergleich zur totalen Herrschaft doch wohl das kleinere Übel ist. In der ARD-Mediathek steht ein Beitrag des NDR-Kulturjournals zum Buch online.
 
Callan Wink
Big Sky Country
Roman
Suhrkamp Verlag. 378 Seiten. 23 Euro

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Der Debütroman des amerikanischen Autors Callan Wink erzählt die Coming-of-Age-Geschichte von August, der mit seinen Eltern auf einer kleinen Farm in Michigan aufwächst. Das pralle Leben spürt SZ-Kritikerin Meike Fessmann, wenn sie liest, wie der Junge vom Vater zum Katzentöten animiert wird, mit der Mutter Farm und Vater Richtung Montana verlässt und während der Bush-Ära rund um den 11. September herum schließlich erwachsen wird. Gebannt folgt Fessmann nicht nur den inneren Spannungen des sensiblen Jungen, sondern bewundert auch, wie Wink diese nüchtern-rau in den Landschaftsbeschreibungen widerspiegelt. Nicht zuletzt empfiehlt sie den Roman als differenzierte Abrechnung mit "absurd" gewordenen Männlichkeitsidealen. In der FR staunt auch Sylvia Staude, wie wenig der Autor braucht, um sie bei Laune zu halten: Kein Drama, keine größeren Ereignisse, keine Metaphernfeiern, nur der unaufgeregte Blick auf das Heranwachsen eines Jungen auf einer Milchfarm in den USA - ein Bildungsroman voller Wahrhaftigkeit, meint sie. "Wolken, Wind und Weite" und "grandiose" Bilder entdeckt Karsten Herrmann von literaturkritik.de hier: Prosa, die "wie nach einer Mischung aus Jack London und Ernest Hemingway klingt", schreibt er.

Ulrike Sterblich
The German Girl
Roman
Rowohlt Verlag. 384 Seiten. 20 Euro

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Mitten hinein ins New York der brummenden Sechziger und Siebziger nimmt uns die deutsche Autorin Ulrike Sterblich mit. Erzählt wird die Geschichte der jungen deutschen Mona, die als Model nach New York kommt und auch jenseits der Künstlerszene von Manhattan erlebt, wie die unterschiedlichen Milieus zu Drogen greifen. Entlang von Monas zahlreichen Affären führt uns die Autorin in eine Epoche, in der aus Deutschland geflohene Ärzte in der Nachkriegszeit Politiker, Stars, Sternchen und Hausfrauen mit Amphetaminen versorgten, resümiert Katharina Teutsch in der FAZ die Handlung. Sie bewundert die Mischung aus Lässigkeit, Abgründigkeit und leiser Ironie, mit der Sterblich von der Reifung ihrer jungen Heldin erzählt. In der NZZ fühlt sich Paul Jandl derweil wie auf Speed, wenn er mit der deutschen Unschuld vom Land durch "Mad Men"-Kulissen saust. Ein großartiges Zeitporträt mit einer ambivalenten Heldin, meint er. Im Dlf-Kultur lobt Maike Albath den Unterhaltungswert des Romans und die Recherche der Autorin, nur in der SZ findet Christiane Lutz die Realität dann doch noch spannender.

Christian Kracht
Eurotrash
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag. 224 Seiten. 22 Euro

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Fast nur hymnische Besprechungen für Christian Krachts neuen Roman "Eurotrash": Die Kritiker (alles Männer in diesem Fall) arbeiten sich zwar überwiegend an der Frage ab, was Fakt, was Fiktion ist - aber das macht sie ja gerade aus, die Krachtsche Poetik, jubeln sie. Man kann den schmalen Roman, der in zwölf Kapiteln schildert, wie der Ich-Erzähler mit seiner achtzigjährigen, alkohol- und tablettensüchtigen, psychisch kranken Mutter durch die Schweiz reist und dabei über beider Missbrauchs-Erfahrungen und die Nazi-Vergangenheit der Großeltern spricht, als knappe Fortschreibung von "Faserland" lesen, meint Christian Metz im Dlf. Aber die eigentliche Kunst liege in der gekonnten "Autorschafts-Inszenierung" und im "Erinnerungskampf", den Kracht zwischen Mutter und Sohn in Dialogen inszeniert. Und wenn Kracht das eigene privilegierte Dasein und die familiäre Nazivergangenheit gegeneinander schneidet, liest der Kritiker hier nicht zuletzt eine literarische "Selbstanzeige". In der FAS fragt sich Tobias Rüther nach kurzer Zeit gar nicht mehr, ob Autor und Erzähler identisch sind, lieber freut er sich an Krachts raffinierter Erzählweise, an seinem eiskalten Ton, den feinen Beschreibungen und der exzentrischen Mutter, der heimlichen Heldin in diesem faszinierenden Märchen. Ein Ereignis von einem Buch und eine klug inszenierte Dekonstruktion des eigenen Werks, ruft Ijoma Mangold in der Zeit, ein Buch, das auch als "heiterer Abenteuerroman" gelesen werden kann, meint Felix Stephan in der SZ - und für den NZZ-Kritiker Philipp Theisohn ist Kracht schlicht der letzte Metaphysiker unter den Romanciers.

Mithu M. Sanyal
Identitti
Roman
Carl Hanser Verlag. 432 Seiten. 22 Euro

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Fasst man den Plot des Debütromans der Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal zusammen, klingt es so, als hätte die Autorin mächtig an den Schrauben des Zeitgeistes gedreht: Es geht um eine öffentlichkeitsverliebte Professorin, die Postkoloniale Theorie unterrichtet, und die sich nicht nur nach der indischen Göttin Saraswati benannt hat, sondern auch als authentische Inderin ausgibt und sich die Haut chirurgisch verdunkeln ließ - bis herauskommt, dass sie schlicht eine biodeutsche Sarah Vera Thielmann aus Karlsruhe ist. Der öffentliche Shitstorm lässt nicht lange auf sich warten. Wenn sich die eigentliche Hauptfigur Nivedita, Studentin mit "mixed-race-Biografie" wie die Autorin, dann ihre Gedanken über Rassismus, Blackfacing, Migrationshintergrund und den "Kulturkampf unserer digital eskalierten Gegenwart" macht, ist Zeit-Kritiker Ronald Düker überrascht, wie differenziert und vergnüglich Sanyal theoretische Exkurse in ihre Mischung aus Coming-of-Age- und Campusroman packt. Nach der Lektüre fragt sich Düker gar, ob es mit Blick auf "fluide Transgender-Identitäten" nicht auch Zeit für ein "durchlässiges transrace-Konzept" sei. Als knallig, gewagt und witzig beschreibt auch Dlf-Kultur-Kritikerin Claudia Kramatschek den Roman, der ihr Diskurse von Frantz Fanon bis Mark Terkessidis um die Ohren haut und Debatten "gegen den Strich" bürstet. Diese Saison sind eine ganze Reihe Romane zu identitätspolitischen Debatten erschienen, auf die wir an dieser Stelle nur in Kürze hinweisen wollen: Sharon Doduo Otoo imaginiert in ihrem Roman "Adas Raum" (Bestellen) vier Frauen in verschiedenen Epochen namens Ada - mal als schwarze Sklavin, als Byrons Tochter Ada Lovelace, als weiße Jüdin in einem KZ, und als schwangere Schwarze im 21 Jahrhundert auf Wohnungssuche in Berlin - ein kunstvoll gebautes "Mosaik menschlicher Erfahrungen" von Identitäts- und Klassenunterschieden, lobt die taz. Zur Lektüre von Cho Nam-Joos Roman "Kim Jiyoung, geboren 1982" (Bestellen) rät Juliane Liebert in der SZ: Ein Roman, der so nüchtern protokollarisch wie berührend auf das Leben von koreanischen Frauen in einer Männergesellschaft, auf Drangsalierung und Benachteilung blickt, meint sie. Und "Ministerium der Träume", (Bestellen) der Debütroman von taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah über das Leben von Migrantinnen in Deutschland, besticht laut Zeit-Kritiker Ijoma Mangold durch Witz, Direktheit und Emotion.

Dmitrij Kapitelman
Eine Formalie in Kiew
Hanser Berlin 2021, 176 Seiten, 20 Euro

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Wer einen weniger modisch aufgebretzelten Zugang zur deutschen Einwanderungsgesellschaft sucht, wird vielleicht lieber zu diesem autobiografischen Roman von Dmitrij Kapitelman greifen. Der gebürtige Ukrainer Kapitelman macht es sich in keinem Opfereckchen gemütlich, er zieht vielmehr los und nimmt beide Seiten in den Blick: die deutsche, die sich von ihrer besten bürokratischen Seite zeigt, als die seit 25 Jahren in Deutschland lebende Hauptfigur einen deutschen Pass beantragt. Und die ukrainische in Gestalt seiner Familie, die Putin glorifiziert. Als "Feuerwerk" der Sprache und der Ironie lobt in der taz Rezensent Fokke Joel diesen Roman. Wie der Autor die sprachphänomenologischen Details des Sächsischen wie des Ukrainischen anbringt, macht auch FAZ-Kritiker Andreas Platthaus viel Spaß. Ganz abgesehen davon sei das Buch ein schöner Beitrag zur Völkerverständigung. Und Welt-Kritiker Marc Reichwein lernt aus dieser "comédie humaine in Kiew", dass Migration nie aufhört.


Sachbuch

Jay Howard Geller
Die Scholems
Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag. 462 Seiten. 25 Euro

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Wie ein bürgerlicher Roman á la Buddenbrooks erscheint dem FAZ-Kritiker Magnus Klaue diese von Jay H. Geller groß angelegte Familienstudie, der er am liebsten sofort einen Platz im Kanon zur neueren deutsch-jüdischen Geschichte einräumen möchte. Auch taz-Kritiker Micha Brumlik liest das Buch als "Sozialgeschichte deutschen Judentums": Der amerikanische Judaist Geller zeichnet hier anhand der vier Scholem-Brüder nicht nur nach, wie säkulare Juden danach strebten, "gleichberechtigte Mitglieder" der deutschen Gesellschaft zu sein, Brumlik liest hier auch, wie die vier Brüder zunächst die beiden Kriege erlebten - und in welche Richtungen die drei Überlebenden sich in den Nachkriegsjahren entwickelten. Dass Gershom Sholem, der die jüdische Mystik erforschte, dabei im Mittelpunkt steht, wundert den Dlf-Kritiker Hans-Martin Schönherr-Mann zwar nicht, das Buch zieht ihn aber auch mit lebendigen, spannenden Schilderungen der Lebenswege aller vier Scholem-Brüder, den Schilderungen des Lebens im Exil in Sydney und Palästina, der polnischen Vorgeschichte der Familie und Beschreibungen des jüdischen Lebens in Berlin zwischen 1900 und dem Ende der Weimarer Republik in den Bann. Die "akribische" Recherche dieser "erinnerungskulturell bedeutenden Untersuchung" hebt Matthias Arning in der FR hervor.

Michael Rothberg
Multidirektionale Erinnerung
Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung
Metropol Verlag 2021, 404 Seiten, 26 Euro

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Dies ist der seltsame Fall eines Buchs, das fast zwölf Jahre lang in Deutschland nicht wahrgenommen wurde und plötzlich durch die Mbembe-Debatte als einer der wichtigste Beiträge in der Diskussion über das Spannungsfeld zwischen postkolonialer Theorie und Holocaustforschung gilt. Schon in der Debatte selbst brachte Aleida Assmann das Buch als eine Art Patentlösung zur Versöhnung konfligierender Traumata ins Gespräch. Rothbergs "multidirektionale Erinnerung" möchte die Erinnerung an Kolonialverbrechen und Sklaverei einerseits und Holocaust andererseits in den Dialog führen - allerdings um den Preis, dass er eine Singularität des Holocaust in Frage stellt, wie Tania Martini in der taz kritisiert. Ähnlich kritisch Thomas Schmid in der Welt, der die Behauptung, die Verknüpfung von singulären Leiderfahrungen führe zu einer besseren Welt, schlicht unbegründet findet. Bei Jürgen Zimmerer, selbst ein Historiker von Kolonialverbrechen, der bei dlf Kultur rezensierte, stößt das Buch auf sehr viel mehr Gegenliebe: Rothbergs Lektüren Hannah Arendts und W. E. B. Du Bois' erscheinen ihm horizonterweiternd. Thierry Chervel empfiehlt in einem Perlentaucher-Essay zur Mbembe-Debatte Steffen Klävers' Studie "Decolonizing Auschwitz" als ergänzende Lektüre - hier findet sich die intensivste Auseinandersetzung mit Rothberg.

Blake Gopnik
Warhol
Ein Leben als Kunst
C. Bertelsmann Verlag. 1232 Seiten. 48 Euro

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Es ist kaum zu glauben, dass wir diese monumentale Warhol-Biografie des amerikanischen Kunstkritikers Blake Gopnik nicht längst empfohlen haben. Auf mehr als 1200 Seiten breitet uns Gopnik das Leben des legendären Pop-Art-Künstlers aus - und zwar entlang der These, Warhol sei der wichtigste Künstler des 20. Jahrhunderts gewesen. Aber dank ausführlicher Recherche, die auch Steuerunterlagen und Krankenakten umfasste, kann der Autor dies in seinem "Monumentalwerk" auch belegen, meint Eva Hepper im Dlf-Kultur: "Meisterhaft" und "elegant" arbeite Gopnik heraus, wie sich die Entwicklung vom abstrakten Expressionismus hin zur Popart auch in der Person Warhol spiegele, der selbst immer mehr zum Kunstwerk geworden sei, meint Hepper und würdigt das spannend zu lesende Buch als eines, das "Maßstäbe setzt". Auch für FAZ-Kritikerin Rose-Maria Gropp ragt die Biografie aus der Flut der Warhol-Publikationen heraus: Die Stofffülle beherrscht Gopnik leichthändig und durch chronologische Ordnung - und dass bei all den Informationen der ein oder andere Warhol-Mythos widerlegt wird, geht für Gropp auch in Ordnung. Ein "leicht und brillant" geschriebenes Buch voller "Witz" und ohne "Klischees", lobt auch Juliane Liebert in der SZ.

Alfred Brendel und Peter Gülke
Die Kunst des Interpretierens
Gespräche über Schubert und Beethoven
Bärenreiter Verlag. 189 Seiten. 29,99 Euro

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Es ist schade, dass solche Bücher in den Zeitungen heutzutage nicht mehr so oft besprochen werden. Es ist ein Geschenk, das die beiden Gesprächspartner Alfred Brendel und Peter Gülke hier aus überreicher Kenntnis dem Leser machen, versichert FR-Rezensent Eberhard Geisler, und rät auch gleich, dies Buch als Geschenk weiterzureichen, denn es erlaubt etwas in der Coronakrise sehr Sinnvolles: Nachdenken über Musik, die man zur Zeit nicht live hören kann. Wie klug Brendels Plädoyer für Schubert ist, das kann man zum Beispiel hier in einem viel zu kurzem Gespräch nachhören, das der WDR mit Brendel führte, der beschreibt, wie Schubert das Klavier als Orchester behandelte. "Das Klavier muss verwandelt werden". Zwei Stunden hätte dieses Gespräch dauern sollen - nein, ein siebenfolgiges Podcast hätte man daraus machen sollen, mit vielen Musikbeispielen! Bei br Klassik gab es noch eine kurze Rezension zum Buch.

Sophy Roberts
Sibiriens vergessene Klaviere
Zsolnay Verlag. 26 Euro. 400 Seiten.

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Erst langsam sind die KritikerInnen auf dieses schon im Herbst erschienene Buch aufmerksam geworden, aber sie machen das Versäumnis mit hymnischen Besprechungen wett. Es ist aber auch eine tolle Idee der britischen Reisejournalistin Sophy Roberts die Geschichte Sibiriens anhand der Schicksale seiner Klaviere zu erzählen. Ein wahres Füllhorn entdeckt etwa Elmar Krekeler in der Welt, wenn Roberts in dieser Mischung aus Reiseerzählung, blutigem Sachbuch und Kulturhistorie Geschichten über die zivilisierende Kraft der Musik, über Klavierbauer, Dekabristen, das Piano der Zarin und Pianistinnen im Gulag erzählt. In der SZ ist auch der Historiker Karl Schlögel ganz hingerissen, wenn er mit Roberts an den Flügeln der Zarenfamilie Platz nimmt oder reiche Teehändler durch die eisige Tundra begleitet und dort auf Klavierstimmer trifft. Für die FAZ-Kritikerin Kerstin Holm ist das Buch gar eine "Zivilisationsarchäologie" aus Porträts von Orten, Klavierbauern, Musikerinnen und historischen Exkursen in die Musik- wie in die Gewaltgeschichte Russlands. Bewegt liest sie, wie Musiker im Gulag künstlerisch überlebten, interessiert erfährt sie, welche Fürstin ihr Clavichord auf dem Schlitten transportierte. Nach der Lektüre dieses originellen und kenntnisreichen Buches lässt man sich gern von der "Pianomanie" der Autorin anstecken, versichert auch Sabine Berking in der taz.

Eliot Higgins
Digitale Jäger
Ein Insiderbericht aus dem Recherchenetzwerk Bellingcat
Quadriga Verlag. 288 Seiten. 18 Euro

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Erst kürzlich enthüllte das investigative Recherchenetzwerk Bellingcat die Namen der russischen Hintermänner, die in den Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny verwickelt sind. Das Buch war bereits vorher fertig, aber es ist bestimmt spannend, diesen Insiderbericht von Bellingcat-Gründer Eliot Higgins zu lesen. Chronologisch, sachlich und genau erzählt uns Higgins laut FAZ-Kritiker Günter Hack von der im Jahr 2014 beginnenden Geschichte und Entwicklung des Portals, von der Arbeit während des Arabischen Frühlings, den Recherchen zum Abschuss der Malaysia Airlines MH17 oder jenen zur Vergiftung von Sergej Skripal. Für Hack ist das Buch nicht zuletzt eine geraffte Modernisierungsgeschichte der Medien im digitalen Zeitalter. Higgins detailliert geschilderte Rechercheschritte nachzuvollziehen, mag laut Tagesspiegel-Kritiker Frank Herold manchmal ein wenig "zäh" sein, aber erst so werde deutlich, in welchen "dunklen Hasenlöchern" Bellingcat seine ebenso "spektakulären wie dubiosen Sensationen" ausgrabe, meint er. Im Standard erzählt Higgins von den Gefahren und "ethischen Zwickmühlen" seiner Arbeit: Einige Informationen erhält er vom russischen Schwarzmarkt. In der Arte-Mediathek steht eine Dokumentation über Bellingcat online.