Die Vorfahren des australischen Künstlers Daniel Boyd stammen aus der Südsee oder waren Aborigines. Mit "Rainbow Serpent (Version)" widmet der Berliner Gropius Bau dem Maler nun die erste große Soloschau in Europa. Im Hintergrund von Boyds Bildern steht die Philosophie von Edouard Glissant, klärt uns Jens Hinrichsen im Tagesspiegel auf: "Glissant argumentierte, dass Imperialismus und Kolonialismus der ganzen Welt westliche Vorstellungen von Transparenz aufgezwungen haben, was für kolonisierte Menschen jedoch bedeutete, kategorisiert und nach Vorurteilen bewertet zu werden." Erkennbar wird Boyds Auseinandersetzung damit für Hinrichsen etwa in einem Gemälde, das auf einer Fotografie seiner Schwester, die sich für einen Tanz zurechtmacht, basiert: "Das Bild erinnert an die 'Gestohlene Generationen', die Kinder, die durch die australische Regierung (seit dem 19. Jahrhundert und bis in die 1970er hinein) gewaltsam von ihren Familien getrennt wurden. Untergebracht in Pflegefamilien oder Missionsstationen wurde ihnen der Kontakt mit kulturellen Praxen der First Nations untersagt. Die Pointe des Bildes: Boyds Schwester wird den ihren Leuten aufgezwungenen Tanz weiter tanzen. Ein Akt, der gängige Vorstellungen von kulturellem Erbe und Autorschaft aushebelt - und Wiederaneignung als Form des Widerstands präsentiert."
Cameron Row: Bug Trap. Bild: Courtesy of Cameron Row. Mit nur neun Exponaten will der amerikanische Konzeptkünstler Cameron Row in seiner Ausstellung 'Amt 45i'im Frankfurter MMK Tower die deutschen Kolonialverbrechen zeigen und "weißdeutschen Rassismus" abräumen, Claus Leggewie glaubt in der taz indes nicht, dass die Schuldfrage so leicht zu beantworten ist: "Sicher gibt es die Abwehrkämpfe weißer Suprematisten und sie werden aggressiver, aber es braucht an einem musealen Nebenschauplatz globaler Kämpfe gegen Diskriminierung keine Sippenhaft hellhäutiger Nachgeborener, sondern deren so einsichtige wie effektive Solidarität mit Unterdrückten und Ausgebeuteten in aller Welt. Zu den Unterdrückern und Ausbeutern zählen heute postkoloniale Autokraten und Oligarchen, was man nicht als billige Ablenkung abtun darf. Konsequent betrachtet wie in diesem White Room sind auch sie späte Nutznießer der Sklaverei. Unter diesen Kautelen ist die Ausstellung sehenswert."
Artemisia Gentileschi: Susanna und die Älteren. Sammlung Schloss Weißenstein. Erstaunlich "mutig" findet Gabi Czöppan, ebenfalls im Tagesspiegel, die Ausstellung "Verdammte Lust - Kirche. Körper. Kunst", mit der das Museum der Erzdiözese München und Freising den Versuch unternimmt, sich anhand von 150 Werken aus 2000 Jahren Kunstgeschichte dem schwierigen Verhältnis der Kirche zur Sexualität zu stellen: "Überall geht es um Sünde, Scham, Buße. Der römische Gott Pan bespringt eine Ziege (nach dem 2. Jahrhundert vor Christus) und greift, mit erigiertem Gemächt, lüstern nach einem Jüngling. Maria Magdalena als Schutzheilige der Prostituierten muss meist als nackte Versuchung herhalten. Es ist ein ausschließlich männlicher Blick, der auf diese religiöse Welt fällt. Bis auf eine Ausnahme. Die Barockmalerin Artemisia Gentileschi malte 1610 in 'Susanna mit den beiden Alten' ihre eigene Vergewaltigung." Allein das sei Grund genug, sich die sorgfältig kuratierte, durchdachte Ausstellung anzusehen.
Weitere Artikel: In der FAZ berichtet Patrick Bahners von einem Rechtsstreit des Künstlers Lutz Fritsch mit der Kölner Verwaltung, die eine Trasse an der Stelle über die A555 bauen will, an der Fritschs Stele "Standortmitte" aufgebaut wurde. Für die Zeit porträtiert Tobias Timm die Künstlerin Nicole Eisenman, deren Arbeiten derzeit im Museum Brandhorst in München zu sehen sind.
Besprochen werden die Ausstellung "Nam Jun Paik - I Expose The Music" im Dortmunder Museum Ostwall und die Ausstellung "Von Genen und Menschen" im Dresdner Hygienemuseum (Tsp).
Christian Rohlfs: Goldenes Abendlicht am Lago Maggiore, 1936. Kunsthalle Emden Die Kunsthalle Emden widmet sich in einer Doppelausstellung zwei Künstlern, die vom NS-Regime beide als "entartet" klassifiziert wurden. In der tazlegt Jens Fischer sein Augenmerk vor allem auf Emil Nolde und seinen Judenhass, aber klar wird, Christian Rohlfs ist moralisch beeindruckender: "Für Rohlfs war die politische Entwicklung eher eine traurige Folge des gewandelten Zeitgeistes. Die Aufforderung, die Preußische Akademie der Künste zu verlassen, beantwortete er 1937 lapidar: 'Gefällt Ihnen mein Werk nicht, so steht es Ihnen frei, mich aus der Mitgliederliste der Akademie zu streichen; ich werde aber nichts tun, was als Geständnis eigener Unwürdigkeit gedeutet werden könnte.'"
Kaum wieder losreißen kann sich Jonathan Jones im Guardian von der Postimpressionisten-Schau "Inventing Modern Art" in der Londoner National Gallery, die ihn in ihrer Uneinheitlichkeit und ihrem reizvollen Eklektizismus in den Bann zieht: "Hier steht die radikalste Kunst um 1910 - am Rande eines Quantensprungs. Cézanne hat das initiiert. Der größte Schock der Ausstellung ist, dass er viel ernster ist als die beiden anderen vermeintlichen Helden, Van Gogh und Gauguin. Ja, das ist richtig - besser als Van Gogh. Das ist die eindeutige Schlussfolgerung einer Ausstellung, in der sich fünf Werke von beiden gegenüberstehen. Vincents Gemälde sind berührend, intim und doch traditionell im Vergleich zu Cézannes Demontage von Kunst und Natur." Sein Resümee: "Die europäische Kunst der 1880er und 1890er Jahre rast vor unser aller Augen auf die 'Moderne' zu, leiht sich aber auch Anregungen aus nostalgischen und pastoralen Gefilden - und man verliert sich in den Gemälden, wie es die Moderne verlangt."
Weiteres: Die FAZ meldet einen weiteren Leitungswechsel in einem bedeutenden Moskauer Museum: Marina Loschak tritt nach zehn Jahren angeblich freiwillig als Direktorin des Puschkin-Museums zurück, Nachfolgerin wird Elisaweta Lichatschowa. Die FR vermutet, Loschak musste aus politischen Gründen gehen, Zeit Onlineweiß, dass ihre Nachfolgerin zuvor für regierungstreue Zwecke gearbeitet hat.
Besprochen werden Otto Beckers Fotografien zum Klimawandel im Deutschen Technikmuseum (Tsp) und die Ausstellung der britischen Fotografin Alison Jackson im NRW-Forum Düsseldorf (deren Überdosis an Fake Monopol-Kritikerin Alexandra Wach ziemlich verärgert).
Kaum seinen Augen trauen kann FAZ-Kritiker Stefan Trinks im Berliner Kuperstichkabinett, das mit der Ausstellung "Muse oder Macherin" Frauen der italienischen Kunstwelt zwischen 1400 und 1800 präsentiert: Neben der berühmten Artemisia Gentileschi auch die Pastellkünstlerin Rosalba Carriera, oder Sofonisba Anguissola: "Anguissola gab anderen Malern auch gern Tipps für vorteilhaftes Licht im Gesicht. Weniger Stilbewusstsein legte die von Vasari in seinen kanonisierenden 'Vite' beschriebene Bildhauerin Plautilla Nelli an den Tag: Auf der Baustelle in Bologna derber als manche Männer, schüttete sie Kollegen Farbe ins Gesicht oder zerkratzte dieses; mit mehreren Gerichtsprozessen machte sie den notorischen Künstler-Verbrechern Cellini, Caravaggio oder Veit Stoß Konkurrenz. An den Werken der Diana Mantovana wiederum, von deren achtzig bekannten Werken das Kupferstichkabinett stolze sechzig besitzt, lassen sich weitere konkrete Lebensumstände der Kunst schaffenden Mütter nachvollziehen. Denn die Frage sollte nicht sein, ob sie besser waren als die männliche Konkurrenz (jedenfalls um keinen Deut schlechter), vielmehr, ob sie Dinge anregend anders sahen oder andere Motive wählten." Im Tagesspiegelschreibt Elke Buchholz.
Farkhondeh Shahroudi: gestern war ich so müde dass ich den tee gegessen habe. Bild: Kunstverein Arnsberg Einen ganz eigenen Kosmos erlebttaz-Kritikerin Katharina J. Cichosch in den Werken der iranischen Künstlerin Farkhondeh Shahroudi, die Schreiben und Sprechen in ganz eigenwilliger Art bildlich verknüpft, wie Cichosch im Kunstverein Arnsberg erleben kann: "Shahroudis Schreiben ist ein Malen und vielleicht auch umgekehrt. Und wie die Sprache ihrer eigenen Logik folgt, so ergibt sich auch im Arbeitsprozess eines ums andere. Irgendwann überlässt sie der inhärenten Logik der Kunstproduktion das Ruder. So ist es auch mit dem Teppich. Die Künstlerin macht sich das Material durchaus rabiat zu eigen, nimmt Gewebe heraus, fügt ihm eigene Bilder und weitere Ebenen hinzu, malt darauf, fügt Schriftliches an, bringt Teile mit dem für sie typischen groben Stich neu zusammen. Schon ihre Malereien habe sie als Teppich begriffen. Heute sei es so, als ob 'Motive und Farben aus der Leinwand in den Raum eingetreten sind. Ich betrachte den Raum wie eine Malerei.'"
Der Schweizer Diplomat Uli Sigg, der mit seiner Sammlung chinesischer Kunst bekannt wurde, denkt in der NZZ über das unterschiedlichen Kunstverständnis im Westen, im Globalen Süden und in China nach: Im westlichen Verständnis kann Sigg zufolge die Kunst verstörend und kritisch sein, muss sich aber in den Kanon fügen, worauf wiederum der Globale Süden pfeift. In China soll Kunst den Betrachter in die Sphäre der Schönheit und Harmonie entrücken: "Die autoritäre Untervariante des traditionellen chinesischen Kunstverständnisses engt die Definition dessen, was Kunst sein soll, zusätzlich ein - aber durchaus zielkonform. Das illustriert ein Zitat des chinesischen Staatspräsidenten Xi von 2014: 'Kunstwerke sollen wie Sonnenschein und Frühlingsbrise aus blauem Himmel sein, die Köpfe inspirieren, Herzen erwärmen, den Geschmack kultivieren, und unerwünschte Arbeitsweisen wegräumen.' Da ist dann die Diskussion bereits geführt."
Der ukrainisch-amerikanische Kunsthistoriker Konstantin Akinsha, der in Madrid die Aufsehen erregende Ausstellung "Im Auge des Sturms" über den ukrainischen Modernismus kuratiert hat, beschreibt in der NZZ, wie Russland seinen Kunstbetrieb säubert: "Im Juli 2022 gab das russische Kulturministerium den Museen die Anweisung, dass ihre Ausstellungen mit der 'Strategie der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation' übereinstimmen müssten. In der Praxis bedeutete diese Regel die Wiedereinführung der Zensur. Die Museen wurden verpflichtet, Daten über die Teilnehmer von Ausstellungen zu liefern, einschließlich ihrer Biografien sowie Informationen über Auslandsreisen in den letzten drei Jahren. Außerdem mussten sie ihren Aktivitäten auf den sozialen Netzwerken nachgehen, um über die Einstellung der Künstler zum Krieg Klarheit zu erlangen."
Jenny Holzer, Protect me From What I Want, 1982. Installation über dem Times Square. Bild: Kunstsammlung Nordrhein Westfalen Großartig findet Alexander Menden in der SZ die Arbeiten der amerikanischen Konzeptkünstlerin Jenny Holzer, der das K21 in Düsseldorf eine große Ausstellung widmet. Subtil und eindrücklich sei ihre durch und durch politische Kunst, in der sie die Jugoslawienkriege ebenso verarbeite wie den Irakkrieg: "Besonders gegenwartsrelevant ist die eigens für die Düsseldorfer Ausstellung entstandene LED-Wandarbeit 'Ukraine' (2023). Sie zeigt in Laufschrift Auszüge aus Berichten der Vereinten Nationen über Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen im russischen Angriffskrieg gegen das Nachbarland. Sie mischt Interviews mit zivilen Opfern und Augenzeugenberichte über Vergewaltigungen, Folter, Mord durch russische Soldaten mit persönlichen Statements ukrainischer Künstler und Autoren aus den ersten Monaten der Invasion. Es ist politische Kunst, die Aufmerksamkeit verlangt, sie aber eben auch zu erregen vermag, weil sie sich oft der Mittel bedient, mit denen auch alle anderen Botschaften des Alltags an unseren Sinnen zerren."
Weiteres: SZ-Kritiker Reinhard Brembeck entnimmt der zu Ende gegangenen Max-Beckmann-Ausstellung der Münchner Pinakothek der Moderne die Vorzüge leichter Sprache.
In der NZZhat Philip Meier den Duft von "Zuckerwatte und Mashmallows" in der Nase beim Betrachten der Werke von Wayne Thiebaud, dem die Fondation Beyeler derzeit eine große Ausstellung widmet. Snacks und Süßigkeiten sind "Glücksspender" bei Thiebaud, kombiniert mit einer "Prise Melancholie": Er "hat sie zum Inhalt seiner Kunst gemacht - einer, die die Schaulust stimuliert. In 'Girl with Ice Cream Cone' scheint eine junge Frau umgehauen worden zu sein von der Verheißung des rosaroten Soft Ice in ihrer Hand, für das sie bereits ihre Zunge in Stellung gebracht hat. Jedenfalls sitzt sie frontal und breitbeinig am Boden, dabei geht ihr Blick durch die Betrachter hindurch in die Leere, während diese ihre nackten Fußsohlen studieren können."
Es war höchste Zeit für eine Soloschau der Malerin Doris Ziegler, immerhin eine der wichtigsten Vertreterinnen der Leipziger Schule, meint Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) nach ihrem Besuch im Kunstmuseum Moritzburg. Das Thema der Künstlerin - der "Daseinskampf der Menschen zwischen politischen Mächten und Selbstbehauptung" ist schon im titelgebenden Schlüsselbild "Ich bin Du" von 1988 angelegt: "Die nackte Frau, der nackte Mann sind Eva und Adam im Zeitalter der Moderne. Beide schmal, verletzlich, mit blasser Haut, tragen das Gesicht der Malerin, eben nur 33 Jahre jünger als heute. Sie halten sich an den Händen und blicken uns Betrachter unverwandt an, gleichsam beobachtend. Die Stadtansicht hinter dem merkwürdigen Paar lässt auf die Industrielandschaft von Leipzig-Plagwitz schließen. (...) 1988 war dieses Motiv noch eine Provokation, weil es vermeintlich westlichen Feminismus in den realen Sozialismus schleuste. Die Künstlerin zeigt sich in androgyner Gestalt als Mann wie als Frau. Sie stellte also die vorherrschenden Geschlechterrollen in Frage."
Außerdem: Ob Antisemitismusskandal bei der Documenta oder Hundekot-Eklat in Hannover, die Reaktionen ähneln sich, schreibt Boris Pofalla in der Welt: "Empörung bei Politikern und in den Medien, anhaltende Relativierung und Verharmlosung in der eigenen Branche." Woher kommt diese Ignoranz? "Aus einer vermeintlichen Überlegenheit des eigenen Tuns. Die Autonomie der Documenta wie von Bühnen oder von Ausstellungshäusern wird gern mit ihrer Einzigartigkeit und mit der daraus resultierenden gesellschaftlichen Relevanz begründet. Wer aber stellt diese Relevanz fest? Wenn die Kritik stellvertretend für die demokratische Öffentlichkeit versucht, einen Blick auf oder hinter die Bühnen zu werfen, dann wird das immer häufiger als Affront empfunden." In der SZschreibt Peter Richter den Nachruf auf den am Donnerstag im Alter von 79 Jahren verstorbenen Künstler und ehemaligen Paris-Bar-Betreiber Michael Würthle. Weitere Nachrufe: Tagesspiegel, FAZ. Museumsleiter Frédéric Bußmann wechselt von den Kunstsammlungen Chemnitz zur Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, meldet Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung.
Besprochen werden die Ausstellung "Muse oder Macherin" im Berliner Kupferstichkabinett (taz), die Joaquín-Sorolla-Ausstellung "Sorolla a través de la luz" im Palacio Real in Madrid (FAS) und die Ausstellung "Simenon. Images d´un monde en crise. Photographies 1931-1935" im Lütticher Museum Grand Curtius (Tsp).
Bild: Francesco Melzi, after Leonardo da Vinci, Two Grotesque Heads, 1510s?, pen and brown ink, Gift of Mrs. Edward Fowles, 1980 Dass Leonardo da Vinci geradzu besessen war von unregelmäßigen, kranken und gealterten Gesichtern, deren "monströse Verzerrungen" er "mit beängstigender Präzision" zeichnete, lerntGuardian-Kritiker Jonathan Jones in der Ausstellung "The Ugly Duchess: Beauty and Satire in the Renaissance" in der Londoner National Gallery. Aber es sind keine hämischen Karikaturen, die Leonardo zeichnete - und die sein Schüler Francesco Melzi kopierte, vielmehr sind sie getragen von Leonardos Interesse für die "universelle menschliche Natur", so Jones. Eine Karikatur "zeigt einen alten Mann und eine alte Frau, beide herausgeputzt, die sich kokett begrüßen: Er hat das Gesicht einer mumifizierten Leiche und sie hat kaum eine Nase. Könnte das eine Folge von Syphilis sein? Auf einer anderen von Leonardos beunruhigenden Zeichnungen ist ein Mann im Profil zu sehen, der mit dem Rücken zu uns steht, mit einem Mund, der wie der eines Esels herausragt, einem dicken Truthahnhals, einer Nase, die wie angenäht aussieht, und über diesen verrenkten Gesichtszügen formt sich eine Spirale aus seinem verfilzten Haar, die wie ein Strudel aussieht, als wäre sie ein Brunnen, der in seinem Gehirn versenkt ist."
Im Tagesspiegelrät Hans von Seggern zu einem Besuch in der Berliner EAM-Collection, wo nach Absprache eine Sammlung mit Werken der Pariser Lettristen zu sehen ist: Zwischen 1945 und 1970 provozierte die Gruppe immer wieder Skandale gegen ein "degeniertes Bürgertum", informiert Seggern. Besprochen wird die Ausstellung "Rinascimento a Ferrara. Ercole de' Roberti e Lorenzo Costa" im Palazzo dei Diamanti in Ferrara (SZ).
Bild: Jordan Wolfson: "Female Figure". 2014 Animatronic Scupture. Courtesy of the artist, David Zwirner, New York. Sadie Coles HQ, London. Photo: N Kazakov. Gleich zwei Ausstellungen widmen sich derzeit der Künstlichen Intelligenz in der Kunst: "Shift. KI und eine zukünftige Gemeinschaft" im Kunstmuseum Stuttgart und "Transformers" im Museum Frieder Burda in Baden Baden. Gemein ist beiden vor allem die Ratlosigkeit der künstlerischen Positionen, seufzt Hans-Joachim Müller in der Welt: "War es nicht so, dass die Kunst einmal entschieden über die Simulation hinaus sein wollte", fragt er. In Baden Baden lugt in einem Werk von Ryan Gander etwa eine weiße Maus "aus einem Loch in der Wand und brabbelt wie ein herziges Kleinkind". Eine Ahnung der ungenutzten Möglichkeiten bekommt er immerhin bei der "entfesselten Kunstkörperaktion der 'Female Figure' …, die Jordan Wolfson in einem geschlossenen Kabinett der Baden Badener Ausstellung zur Prostitution vor einer Spiegelwand programmiert hat. Man braucht für die abgründig hässliche Peepshow ein eigenes Billett. Wenn man es drinnen auch nicht lange aushält, erwacht doch einen Augenblick lang die Vorstellung, wie es ist und seine könnte, wenn das unendlich lernwillige Phänomen, das wir vorerst hilflos 'künstliche Intelligenz' nennen, ihre radikalen Bestandteile Kunst und Intelligenz zur Ununterscheidbarkeit mixt."
Außerdem: Im Tagesspiegel-Interview mit Simon Rayß spricht die Fotografin Beate Gütschow über den Zusammenhang von Klimakrise und Fotografie. Es sei so, "dass die Fotografie selbst extrem ressourcenstark ist: die Herstellung der Kameras, die ganze Infrastruktur dahinter von Software bis Server. Doch all das findet meistens in anderen Ländern statt, oft im globalen Süden. So kriegen wir die lokalen Schäden, die diese Extraktionen verursachen, leider nicht mit."
Besprochen werden die Ausstellung "On Stage - Kunst als Bühne" im Wiener Mumok, die laut Katharina Rustler im Standard aber doch zu sehr "mäandert", die Ausstellung "Unpolitische Werke" der Berliner Künstlerin Valerie Favre in der Galerie Thumm (Berliner Zeitung), die Ausstellung "Vicious Cycle" im Art Laboratory Berlin (taz) und die Ausstellung "Kerben und Kanten. Hermann Scherer. Ein Schweizer Expressionist" im Hamburger Ernst Barlach Haus (FAZ).
Georges Simenon: "Images d'un monde en crise". Foto: Grand Curtius Museum Lüttich. Das Grand Curtius Museum in Lüttich zeigt Fotografien von Georges Simenon, in denen FAZ-Kritiker Tilman Spreckelsen allerdings keinen Bezug zum Maigret-Autor erkennen kann. Simenon als Reisereporter sieht er nur indirekt gespiegelt: "Je länger man durch diese Ausstellung geht, umso weniger findet man den oft mürrischen, angestrengten und bitteren Autor mancher seiner Reisereportagen wieder. In diesen Bildern herrscht meist ein anderer Ton, ein respektvoller und forschender, einer, der das Fremde mit wachen, ruhigen Augen aufnimmt. Das gilt nicht immer, aber sein großes Interesse teilt sich mit und erstreckt sich beispielsweise auch auf die Mannschaft des Schiffes, mit dem Simenon unterwegs ist."
Die neuen Leiter des Kunsthauses Zürich, Ann Demeester und Philipp Hildebrand, haben einen Richtungswechsel im Umgang mit NS-Raubkunst angekündigt: "Proaktiv und transparent" soll das Haus jetzt bei der Provenienzforschung vorgehen. In der NZZ hätte es Philipp Meier vorgezogen, wenn das Kunsthaus nicht nur von "verfolgungbedingtem Entzug", sondern von "verfolgungsbedingtem Verlust" sprechen würde, worunter auch Fluchtgut fiele, aber die Ankündigungen seien eine Erleichterung: "Konkret bedeutet das, dass das Kunsthaus nicht mehr zuwartet, bis Erbgemeinschaften von einstigen Kunstbesitzern an es herantreten. Man will das Gespräch mit Betroffenen von sich aus suchen. 'Wir sind ein Museum von globalem Rang. Daher wollen wir auch entsprechende internationale Standards befolgen, was die Provenienzforschung betrifft', sagt Hildebrand. Und die Direktorin des Kunsthauses versichert: 'Es geht hier nicht um Imagepflege und Symbolik, uns ist es ernst.' Dass dies auch schmerzhaft für das Kunsthaus werden könne, räumt Ann Demeester ein. Restitutionen seien keinesfalls auszuschließen."
Der Versuch, sich mit der historisch belasteten Sammlung Bührle zu schmücken, ist daneben gegangen, atmet in der SZ Isabel Pfaff auf: "Das uneinsichtige, teils geschichtsblinde Verhalten, das Lavieren der Verantwortlichen in den Monaten nach der Eröffnung des Erweiterungsbaus war bemerkenswert. Ann Demeesters Vorgänger Christoph Becker fiel mit Unwahrheiten auf, und der damalige Direktor der Bührle-Stiftung sagte den einprägsamen Satz 'Es darf nicht sein, dass die Sammlung zu einer Gedenkstätte für NS-Verfolgung wird, das wird den Bildern nicht gerecht.'"
Weiteres: Catrin Lorch schreibt in der SZ zum Tod der britischen Künstlerin Phillida Barlow. Besprochen werden die Ausstellung des syrisch-armenischen Künstlers Hrair Sarkissian im Maastrichter Bonnefanten Museum (die die beeindruckte taz-Kritikerin Alice von Bieberstein die Gewaltgeschichte der Region sehr klug vor Augen führte), die in der Alten Feuerwache in Berlin gezeigten Porträts, die die Fotokünstlerin Victoria Tomaschko von Frauen in Haft angefertigt hat (FR) und die Sonderausstellung "Gegossen für die Ewigkeit" der fürstliche Bronzesammlung in Liechtenstein (Standard).
Simeon Stilthda: Sphinx, 1874-1878. Foto: British Museum Das Sainsbury Centre in Norwich zeigt indigene Kunst aus Nordamerika, und Guardian-Kritiker Jonathan Jones ist so überwältigt von der Großartigkeit der Masken, Figuren und Totems, dass er jede Debatte über Besitz und Aneignung über Bord wirft: "Als der Künstler Simeon Stilthda in den 1870er Jahren in einer Missionarsbibel ein Bild der Großen Sphinx in Ägypten sah, schnitzte er seine eigene Version davon. Stilthda gehörte dem Volk der Haida im pazifischen Nordwesten Amerikas an, und seine Schnitzerei war eine Hommage der indigenen Kultur dieser Region an das alte Ägypten, das Tausende von Meilen und Jahren entfernt war. Es handelt sich nicht nur um eine wunderbare Skulptur - die Sphinx hat auf der Rückseite eine Haida-Frisur -, sondern auch um ein Stück Kunsttheorie in Holz. Stilthda zieht augenöffnende Parallelen zwischen der religiösen Kunst seiner Gemeinschaft und jener der Pharaonen. Wie die alten Ägypter, die einen Menschen und einen Löwen miteinander verbanden, um die Sphinx zu erschaffen, haben die indigenen Völker des pazifischen Nordwestens Nordamerikas ein magisches Auge für die Natur. Diese fesselnde Ausstellung entführt uns in weite Nadelwälder und den offenen Ozean, wo sich Mensch und Tier nahe sind. Dieser Stil der Kunst des pazifischen Nordwestens mit seinen blockartigen, geschwungenen Mustern scheint die schwarz-weißen Markierungen eines der beherrschenden Tiere der Region, des Schwertwals, nachzuahmen. Orcas sind nicht nur auf Totempfählen zusammen mit mythischen und realen Vögeln zu sehen, sondern ihre 'abstrakte' Erscheinung spiegelt sich in einem Stil wider, der auf brillante Weise die Realität dehnt und verzerrt."
Amphibienartige Luftbusse und Auto-Helikopter-Hybride lassen Stefan Trinks für die FAZ in der "Fetisch Zukunft"-Ausstellung des Zeppelin-Museums Friedrichshafen reflektieren, wie es um den Nexus Kultur und Technik bestellt ist: "Es kommt, und das ist der packende Ausgangspunkt der vier Kuratoren, einsteils zu vielen Vorwegnahmen zukunftsträchtiger Technikerfindungen in der Kultur; nur wenig überspitzt könnte man mit Schopenhauers 'Die Welt als Wille und Vorstellung' behaupten, alles, was in Literatur und Kunst von Leonardos Flugapparaten bis zu den Raketen jemals als Bild in die Welt kam (in der Schau durch Aby Warburgs Mnemosyne-Tafel von Ikarus bis Zeppelin repräsentiert), wurde - bisweilen erst Jahrhunderte später - auch in die Realität umgesetzt. Andererseits lieferten die Literaten und Künstler prophetisch früh auch oft die desillusionierende Kehrseite der schönen neuen Welt, die sich häufig als Wahrheit entpuppte, etwa wenn ein Karikaturist um 1914 auf einer Postkarte den Himmel über dem sehr beschaulichen österreichischen Städtchen Bruck an der Leitha als von Zeppelinen und anderem Flugapparaten völlig überfüllt und von Beinahekarambolagen bedroht zeigt."
Besprochen werden die Retrospektive des amerikanischen Malers Wayne Thiebaud in der Fondation Beyeler bei Basel (SZ) und die Ausstellung "Dissidentenball" der Fotografen Harald Hauswald & Jindřich Štreit in der Galerie Buchkunst Berlin (Tsp).