Katarina Janeckova Walshe, Givers, 2022, Acryl auf Leinwand, 182 x 279 cm. Courtesy Dittrich & Schlechtriem, Berlin Was ist eigentlich eine gute Mutter - beziehungsweise eine schlechte? Das fragt sich taz-Kritikerin Sophie Jung bei ihrem Rundgang durch die Ausstellung "The Bad mother" im Haus am Lützow-Platz in Berlin. Elf Künstlerinnen haben sich hier "schonungslos" mit dem Thema auseinandergesetzt, so Jung, und eröffnen eine ganz neue, auch schmerzhafte Perspektive auf Mutterschaft: "In dem Stop-Motion-Video des Duos Nathalie Djurberg & Hans Berg wird die Mutter nur noch zum biologischen Wirt. Sie, als Knetfigur mit Kugelbrüsten und wulstigen Lippen vom Duo typisch überzeichnet, liegt nackt auf dem Bett, während sich ihre drei Kinder peu à peu und offenbar unter geburtsartigen Schmerzen durch ihre Vagina in das Körperinnere zurückarbeiten. Irgendwann steht die schmerzzerrissene Mutterfigur auf, nunmehr als krakenhafter Zombie, aus dessen Bauch und Beinen die Extremitäten des eigenen Nachwuchses wuchern."
SZ-Kritiker Marc Beise steht staunend im Gewölbekeller der Grabkapellen der Medici in Florenz. Zum ersten Mal wurde Michelangelos stanza segreta geöffnet, eine Geheimkammer, in der man 1975 Kohlezeichnungen entdeckte, die vom Meister selbst stammen sollen, wie der Kritiker berichtet. 1530, als die Medici aus Florenz vertrieben wurden, habe sich Michelangelo hier zwei Monate versteckt gehalten, heißt es. So ganz sicher weiß man das nicht, aber das ist auch nicht so wichtig, meint Beise, denn beeindruckend ist der Raum allemal: "Die sich teils überlagernden Zeichnungen haben erkennbar Bezüge zur Arbeit des Meisters, sind offenkundig Skizzen bereits fertiger und künftiger Werke. Man erkennt Figuren aus der Medici-Sakristei gleich oben oder Fresken der Sixtinischen Kapelle im Vatikan."
Weiteres: Der Schauspieler MatthiasBrandtschreibt auf Zeit Online einen sehr persönlichen Nachruf auf den Kanzlerfotografen Konrad R. Müller, der auch seinen Vater Willy Brandt porträtiert hat. Trotz Krieg und Zensur gibt es in Moskau gerade einige große Kunstausstellungen zu sehen, berichtet Kerstin Holm berichtet in der FAZ. Aber die Museen müssen sich vorsehen: "Schwer hat es die zeitgenössische Kunst. Die Tretjakow-Galerie habe mehrere fest mit ihr verabredete Ausstellungen abgesagt, ereifert sich eine gut vernetzte Galeristin, die ich besuche." Das Museum für Zeitgenössisches zeigt fast gar keine Ausstellungen mehr, so Holm, aus Angst vor Denunziation.
Besprochen wird die Ausstellung "A space of Empathy" mit Werken von John Akomfrah in der Schirn Kunsthalle Frankfurt (taz) und die Ausstellung "Renaissance im Norden. Holbein, Burgkmair und die Zeit der Fugger" im Städel Museum Frankfurt (NZZ).
!Mediengruppe Bitnik und Sven König, Download Finished. The Art of Filesharing, 2006, Copyleft: !Mediengruppe Bitnik & Sven König
Großartig, jubelt Clemens J. Setz auf ZeitOnline, dass die Münchner Pinakothek der Moderne sich mit der Ausstellung "Glitch. Die Kunst der Störung" der Welt der Computerspielefehler widmet. Also Momenten, in denen der Code nicht so funktioniert wie er soll, und plötzlich zum Beispiel Mammuts grundlos vom digitalen Himmel fallen. Solche Zufallsschönheiten verschwinden meist spurlos, sobald der Fehler behoben ist, ärgert sich Setz. Umso schöner, dass in der Pinakothek nun erste Versuche einer künstlerischen Archivierung unternommen werden. "Einer der atemberaubendsten Glitches, dessen simple Beschreibung sich bereits wie eine literarische Parabel liest, fand sich ebenfalls in einer älteren Version von Skyrim. Dort konnte es, wie einige Spieler glücklicherweise auf Video festgehalten haben, mitunter geschehen, dass sich der Spieler plötzlich, ohne dass er erklären konnte, weshalb, in einem kleinen kreuzförmigen Raum wiederfand, aus dem es kein Entkommen gab. Dieser Raum ist eine sehr genaue Darstellung der Hölle. Der Spieler kann den Raum nicht mehr verlassen, er kommt immer wieder zurück, wenn er einen der vier Ausgänge des Raumes benutzt. Nichts existiert mehr außerhalb des Raumes. Und das Schlimmste: Der kreuzförmige Raum ist voll mit all jenen Figuren, die der Spieler selbst während des bisherigen Gameplays umgebracht hat. Einige der Figuren bewegen sich sogar noch und reden vor sich hin, wiederholen, in klassisch jenseitiger Manier, einen einzigen oder eine Handvoll Sätze. So machen es auch die Verdammten in Dantes Hölle."
Seit dem 7.10. und dem Terrorangriff der Hamas ist das Tel Aviv Museum of Art praktisch geschlossen, weiß Johanna Adorján in der SZ. Ein paar Besucher dürfen theoretisch mit Voranmeldung hinein, doch kaum jemand hat gerade viel Gedanken für Kunst übrig. Die Museumsdirektorin Tania Coen-Uzzielli und die Chefkuratorin Mira Lapidot machen derweil Erfahrungen, die man auch aus deutschen Debatten zu kennen meint: "Tania Coen-Uzzielli, die in Rom geboren wurde, und die gebürtige Israelin Mira Lapidot wirken nachhaltig geschockt darüber, wie die Kunstwelt auf die Massaker des 7.Oktober reagierte. Nämlich: gar nicht. Empathiebekundungen blieben aus. Die Stille war sehr laut. Bald zeigte sich, was während dieser Stille geschehen war: Die Kunstszene hatte Unterschriften für einen offenen Brief gesammelt, den Artforum am 19. Oktober veröffentlichte. 'Wir fühlen uns von der Kunstszene total im Stich gelassen', sagt Tania Coen-Uzzielli: 'Ich meine, das ist unser Milieu. Man kennt sich.'"
Das Kunstmuseum Odessa wiederum wurde am 6.11. dieses Jahres von einer russischen Rakete getroffen. Kateryn Botanova erzählt in der NZZ, wie sich die Bevölkerung der Stadt sofort um den Wiederaufbau bemühte. Auch das Museum selbst wurde aktiv: "Noch am Morgen des Raketeneinschlags in Odessa dokumentierten Museumsmitarbeiter und Unterstützer den Tatort, überprüften und sicherten die Kunstwerke in Zusammenarbeit mit dem Denkmalschutz. In den nachfolgenden Tagen reinigten sie bereits gemeinsam mit Gemeindebeamten das Museum und die umliegenden Strassen von Schutt. Als Reaktion auf die Lawine von Solidaritätsbekundungen bot das Museum Artikel aus seinem Shop online an, und innerhalb weniger Tage waren sie ausverkauft." Tatsächlich wird in der Ukraine gerade die Rolle von Museen neu bestimmt: "Auf der letzten Versammlung des Internationalen Museumsrats (Icom) bestand die ukrainische Delegation darauf, die Definition des Museums zu ändern. Neu soll dessen Rolle nicht allein darin bestehen, Kunstwerke zu sammeln, zu bewahren, zu erforschen und auszustellen, sondern auch darin, Gemeinschaft zu stiften. Was sich insbesondere dann aufdrängt, wenn Sammlungen wegen des Kriegs ausgelagert und nicht verfügbar sind."
Die taz bringt unter der Überschrift "Osteuropa: Krieg und Kunst" eine Beilage zum titelgebenden Themenkomplex, das auf eine Initiative der taz Panter Stiftung zurückgeht. Im Editorial schreibt Tigran Petrosyan: "Was wird in der Zukunft einmal stellvertretend für unsere heutige Zeit, für die Rezeption des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine stehen? Welches Kunstwerk, welche Illustration, welches Bild und welche Skulptur auch immer diese Symbolkraft entwickeln wird - Journalist:innen werden darüber schreiben, kontroverse Diskussionen abbilden und den jeweiligen Kontext schaffen. Wir, als Journalist:innen, als Künstler:innen, als Zivilgesellschaft müssen weiter genau hinsehen und hinhören. Wir dürfen, auch wenn es manchmal sehr schwer fällt, nicht kriegs- und krisenmüde werden." Außerdem in der Beilage: ein Gespräch mit Marija Petrovic, Kuratorin der Ausstellung "All the Dots Connected Form an Open Space Within" im Berliner Kunstverein KVOST sowie Texte über den belarussischen Künstler Sergey Shabohin, die georgische Künstlerin Tamuna Chabashvili, das Internationale Kulturforum in St. Petersburg ("In Russland ist die Kunst wieder Cheferzieher für die Massen"), kulturpolitische Auseinandersetzungen in Kasachstan und ein kurzes Interview mit der ukrainischen Illustratorin Olga Yakubouskaya.
Weitere Artikel: Der Streit zwischen Großbritannien und Griechenland um eine Rückgabe des Parthenon-Frieses setzt sich fort. Sebastian Borger berichtet in der FR. Stefan Trinks besucht für die FAZ das Hortensia Herrero Art Center in Valencia, ein neueröffnetes Museum, das in einem umgebauten Renaissancepalast in Valencia eröffnet wurde. Ein wichtiges Warhol-Gemälde aus der Sammlung Marx wurde verkauft und wandert vom Berliner Hamburger Bahnhof in die USA, berichtet Bernhard Schulz in Monopol.
Edvard Munch: Sternennacht, 1922-24. Öl auf Leinwand. Foto: Munchmuseet, Oslo Als einem "Verherrlicher des Sichtbaren" begegnet FAZ-Kritiker Andreas Kilb dem Maler Edvard Munch in der Ausstellung "Lebenslandschaften" im Museum Barberini in Potsdam. Munch, den man eher mit Düsternis assoziiert, erscheint hier als Landschaftsmaler in einem ganz neuen Licht, stellt Kilb erstaunt fest: "Auf der 'Sternennacht' von 1901 liegt Schnee in dicken Schichten am Waldrand, von schwarzen Felsen interpunktiert, und auf dem Bild gleichen Titels von 1924 wölbt er sich ebenso schwer und bläulich zum nächtlichen Himmel - nur dass jetzt die Sterne, groß und blinkend, einen breiteren Streifen des Horizonts einnehmen und der Blick sich zur Ebene hin weitet, in der die Lichter der Häuser als gelbe Farbtupfer erscheinen. Auf anderen Bildern, etwa den Ackerlandschaften, die Munch 1906 bei einem seiner Klinikaufenthalte in Thüringen malte, oder dem 'Winter in Kragerø' von 1912, erscheint der Schnee in blau, grün und violett getönten, von Schmutzrändern eingefassten Fladen, aber stets hat er eine Konsistenz, die weit über bloßes Augenspiel hinausreicht. Munch hat sich in ihn hineingemalt."
Weiteres: Griechenlands Premier Kyriakos Mitsotakis fordert in Londen eine Rückgabe des Parthenon-Frieses, meldet Sebastian Borger in der FR. Labour-Oppositionsführer Keir Starmer verkündete, er "wolle einer geplanten Vereinbarung des British Museum mit den griechischen Kulturbehörden nicht im Wege stehen", gibt Borger wieder. Eine einfache Lösung ist allerdings nicht in Sicht, so Borger, seit Jahren wird über einen Deal verhandelt, der für beide Seiten akzeptabel ist, erinnert der Kritiker.
Besprochen werden die Ausstellung "Modigliani: Moderne Blicke" in der Staatsgalerie Stuttgart (tsp) und die Ausstellung "Perfectly Imperfect - Makel, Mankos und Defekte" im Gewerbemuseum Winterthur (NZZ).
Eine Hommage an Sigmund Freud und seinen Einfluss auf die Kunst sieht Alexandra Wach für die FAZ in der Ausstellung "Innenwelten" in der Kunsthalle Tübingen. Etwa bei "Raphaela Vogel, die 2017 ein anatomisches Brustmodell in monumentaler Größe fabriziert hat. Es zeigt eine zergliederte weibliche Brust, aus der sich auf wundersame Weise ein Milchstrahl aus Polyurethan zum Pferd formt, der zum 'Uterusland' reitet." Auch das Thema Trauma verhandele die Ausstellung sehr eindrücklich, etwa im Video-Triptychon 'Between Listening and Telling: Last Witnesses, Auschwitz, 1945-2005' von Esther Shalev-Gerz: "Sechzig Überlebende berichteten für das Projekt in Videointerviews über ihre Erfahrungen in dem Lager sowie über ihr Leben vor und nach der Internierung. Shalev-Gerz erstellte daraus eine Montage der Momente zwischen den gestellten Fragen und den Antworten. Man sieht die Zeugen und Zeuginnen zu den unsichtbaren Erfahrungen zurückkehren, die ihr Leben ins Wanken gebracht haben. Es vergeht unendlich viel Zeit, bis sie sich von ihrem inneren Film lösen, im Schmerz erstarrt, das Grauen vor den Augen. Die Vergangenheit kapert so die Gegenwart, man vermag sich nicht zu bewegen, überwältigt von diesen Gesichtern, die im Schweigen dem 'Verdrängten' so nah sind, wie es Bilder nie vermögen."
Eine Menge abgesagte Veranstaltungen, Documenta-Skandale, offene Briefe und Verunsicherung auf allen Seiten - wie soll es in der Kunstszene weitergehen, fragt Harry Nutt in der Berliner Zeitung. Was wir auf jeden Fall nicht brauchen, ist mehr Polemik und Streit, hält Nutt fest: "Entgegen der Häme, mit der zuletzt genüsslich auf einen sich selbst provinzialisierenden deutschen Kulturbetrieb geblickt wurde, sollte dringend nach vermittelnden Positionen und Instanzen gesucht werden, denen künstlerische Artikulation wichtiger ist als momentanes Rechthaben in einem Konflikt, in dem es scheinbar schwerfällt, dem Phänomen des Antisemitismus die gleiche Aufmerksamkeit einzuräumen wie anderen Formen der Diskriminierung und Ausgrenzung."
Im Tagesspiegel kommentiert Nicola Kuhn die Pläne zur Verschiebung der Documenta 16. Das hält sie für keine gute Idee, die Kunstschau muss sich jetzt mit ihren Problemen auseinandersetzen und nicht erst in ein paar Jahren. Vielleicht geht's ja etwas überschaubarer, fragt sie: "Oder doch lieber eine Nummer kleiner? Kassel klammert sich an die Idee einer Weltkunstschau im Hessischen und wäre doch besser bedient, wenn es eine eigene Großausstellung auf die Beine stellt. Vielleicht ist die Zeit der übergreifenden Betrachtung durch die Kunst vorbei. Die Zentrifugalkräfte sind in einer globalisierten Welt zu stark, als dass sie sich in hundert Tagen bündeln ließen."
Weiteres: Im Tagesspiegelfreut sich Michael G. Gromotka über die neue Beleuchtung in der Berliner Gemäldegalerie.
Es ist kompliziert: Im FAS-Interview mit Niklas Maak spricht Documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann über die Schwierigkeit, Kunstfreiheit zu gewähren, eine klare Haltung gegen Antisemitismus und "jede Form von gruppenspezifischer Menschenfeindlichkeit" zu finden und gleichzeitig den Standort Kassel nicht unattraktiv für die internationale Kunstszene werden zu lassen: "Wir brauchen eine ganz klare Distanzierung von Antisemitismus, und natürlich brauchen wir auch weiterhin die Documenta in Kassel als einen Ort, an dem die globale Kunst der ganzen Welt ihren Platz findet. Nicole Deitelhoff hat gesagt, dass wir einer Position begegnen müssen, die sagt, 'hört mal auf mit eurer deutschen Besessenheit mit dem Antisemitismus', weil ansonsten vielleicht die internationale Kunstszene keine Lust mehr hat, nach Kassel zu kommen. Wir müssen aber auch sicherstellen, dass wir nicht in einen Kontext von Vorabzensur kommen. In Möllers' Gutachten wird sehr konkret eine Unterscheidung vorgeschlagen zwischen der künstlerischen Leitung, die die Kunstfreiheit genießt, und der Geschäftsführung, die eben Teil der staatlichen Kultur- und Kunstverwaltung ist und die damit auch den Schutz vor Diskriminierung zu ihrem Pflichtenkatalog zählt und in Fällen, wo, wie im vergangenen Jahr bei Taring Padi, antisemitische Codes auftauchen, unmittelbar in den Dialog geht."
Das Folkwang-Museum Essen beendete die Kooperation mit dem Kurator Anaïs Duplan, nachdem dieser auf Instagram zur Unterstützung der BDS-Bewegung aufrief (unser Resümee). Duplan schreckte als Gegenreaktion nicht davor zurück, persönliche Daten des Direktors Peter Gorschlüter zu veröffentlichen, berichtet Alexander Menden in der SZ: "Das Angebot zu einem persönlichen Gespräch habe Duplan nicht genutzt, so Gorschlüter. In der Folge beendete Folkwang die Zusammenarbeit mit dem Kurator. Dieser antwortete mit einem Gegenboykott und zog alle Exponate aus der Ausstellung zurück. Zudem veröffentlichte er die Korrespondenz mit Gorschlüter und dessen Kontaktdaten im Internet. Darüber, welche Folgen dieser Schritt Duplans im Einzelnen für ihn und die Folkwang-Mitarbeiter hatte, möchte der Direktor nicht öffentlich sprechen." Mittlerweile habe Duplan in den sozialen Medien Beiträge geteilt, die sich durchaus kritisch mit dem BDS auseinandersetzen.
Weiteres: Lorenz Maroldt unterhält sich für den Tagesspiegel mit dem Berliner Plein-Air Maler Christopher Lehmpfuhl. Stefan Trinks empfiehlt in der FAZPhilip Hoares Buch "Albrecht Dürer und der Wal" über das Leben des Malers.
Besprochen wird die Ausstellung "Van Gogh in Auvers-sur-Oise. Die letzten Monate" im Musée d'Orsay in Paris (FAZ).
In Sachen Documenta unterzieht Marcus Woell in der WeltRoger M. Buergel einer kritischen Befragung, der 2007 künstlerischer Leiter der Documenta 12 war und in diesem Jahr an der Ernennung der jüngst zurückgetretenen Findungskommission (unsere Resümees) mitgewirkt hat. Die Verantwortung dafür, dass die vierköpfige Vorschlagsgruppe, der er angehört hat, mit Ranjit Hoskoté einen BDS-Unterstützer ernannt hat, will er indes nicht übernehmen: "Wir haben deutlich gemacht, dass es eine rote Linie gibt, aber nicht erkennungsdienstlich nach Unterschriften auf Petitionen gefahndet. Ich persönlich habe mich kollegial darauf verlassen, dass alles, was man mir in diesen Gesprächen gesagt hat, wasserdicht ist. Wir hatten auch nur ein Vorschlagsrecht und nicht den Auftrag, die Kommission zu besetzen. Die Nominierung erfolgte durch die Ministerin Dorn." Er sieht das große Grundproblem der Documenta in einer "Überbietungslogik: noch innovativer, noch politischer, noch radikaler und immer noch mehr Besucher und Besucherinnen. Es hat aber keine Methodendiskussion gegeben." Und dennoch ist er im Zweifel für das Risiko: "Ich glaube nicht an diese Verwaltungslogik von Bürokratisierung und Transparenz. Das Künstlerische kann einem immer um die Ohren fliegen. Manchmal ist es besser, einen Skandal zu haben, der auch etwas über die Gegenwart erzählt, wenn man den Ball - also die Energie und die Aufmerksamkeit - aufnimmt, um die Lage zu gestalten."
Nicht nur die Documenta hat ein Antisemitismus-Problem: Die Biennale für aktuelle Fotografie in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg ist abgesagt, nachdem einer der Kuratoren, Shahidul Amal, "antisemitisch lesbare und antisemitische Inhalte" auf Facebook geteilt hatte und "den Bitten für einen sensibilisierten Umgang mit seinen Posts nicht folgen" wollte, liest Till Briegleb für die SZ beim Vorstand der Biennale: "Auf mittlerweile entfernten Posts, die vom Team der Biennale gesammelt wurden, befinden sich plakative Rechnungen, wie viele jüdische Kinder Hitler pro Tag ermordet habe, und wie viele muslimische Netanjahu in Gaza. Ebenso ein Interview Amals mit dem palästinensischen Botschafter in Bangladesch, wo dieser die Gräueltaten der Hamas leugnet und stattdessen die antisemitischen Stereotypen von der jüdisch gesteuerten Weltpresse, von Amal unwidersprochen, verbreitet. Aber eben auch eigene Aussagen Amals wie: 'Ich fühle für alle palästinensischen und israelischen Leben, die zerstört werden.' Auch formuliert Amal Zweifel an dem von radikalen Pro-Palästinenser-Stimmen verwendeten Begriff des 'Genozids' für die Bombardierung Gazas."
Eine "Ikone der afroamerikanischen Kunst" lernt Lisa Berins in der FR im Frankfurter Tower MMK kennen: "The Black Woman Speaks" ist die erste große Ausstellung von Elizabeth Catlett in Europa. Die Bedeutung, die Schwarzsein und ständiger Rassismus für das Leben der Künstlerin haben, zieht sich auch durch die Ausstellung: "Eine ausdrucksstarke Serie empfängt gleich am Anfang der Schau: In 'The Black Woman' (1946-47) greift Catlett Eindrücke vom täglichen Leben Schwarzer Menschen auf, wie etwa die Rassentrennung in Bussen, einen Lynchmord, die Arbeit als Haushälterin, vor allem aber geht es um eine Schwarze, feministische Geschichtsschreibung: die Wanderpredigerin Sojourner Truth ist eine der abgebildeten Heldinnen, außerdem die erste afroamerikanische Dichterin Phillis Wheatley und die Schwarze Fluchthelferin Harriet Tubman. Das künstlerische Mittel, den Druck, wählt Catlett, damit sich die Bilder gut verbreiten lassen."
Außerdem: In der NZZ kommentiert Marion Löhndorf die Diskussion um die Identität Banksys: "Das Rätsel um seine Identität ist sein größter Trumpf. Wird es aufgehoben, ist die Marke Banksy so gut wie tot. Victor Sattler unterhält sich mit dem Fotografen Boris Eldagsen über den Einsatz von KI in seinem Metier (mnp).
"Die nächste Documenta wird die beste", glaubt Hanno Rauterberg in der Zeit. Klar, zur Zeit liege alles in Scherben und es schaue so aus, als könne man in der aktuellen Situation eine solche Ausstellung gar nicht mehr stemmen. Andererseits: "Doch vielleicht, wer weiß, stimmt ja auch das glatte Gegenteil. Vielleicht liegt gerade hier, in der fortschreitenden Selbstvergiftung der Diskurse, der allerbeste Grund dafür, an der alten, immer wieder neuen Idee der Documenta festzuhalten. Denn gerade dafür war Kassel ja immer gut: Alle fünf Jahre wollte man hier beweisen, wie abrupt und überraschend sich das Denken in neue Bahnen lenken lässt. Die Kunst darf sich jederzeit untreu werden, sie gehört keinem Lager, keiner Ideologie. Sie folgt ihrem eigenen Programm." Die nächste Schau müsste vor allem "damit beginnen, sich der obsessiven Selbstbespiegelung zu entwinden. Und stattdessen jener Kraft die Bühne zu bereiten, die zuletzt kaum noch gesichtet wurde: dem Eigensinn der Kunst. Einer Kunst, die frei ist von jeder Bekenntnispflicht. Die mehr sein will als ein bebilderter Leitartikel. Die für eine ästhetische Erfahrung eigenen Rechts eintritt, rauschhaft, verführerisch, unhaltbar."
Philipp Meier unterstellt der Documenta in der NZZ hingegen einen Geburtsfehler: "Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs sollte die Kasseler Großausstellung für Gegenwartskunst als Instrument zur Weltverbesserung dienen. Dieser Konstruktionsfehler macht die Documenta anfällig für missionarische Zwecke. Aus der Verwechslung von Kunst und Mission resultieren falsche Entscheide. Die Documenta will es allen recht machen."
In Berlin lässt der Senat die Förderung für das Neuköllner Kulturzentrum Oyoun auslaufen, berichtet Claudia Reinhard im Tagesspiegel. Unter anderem waren dort Aktivisten der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost" aktiv, auf deren Homepage nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober von einem "Gefängnisausbruch" der Palästinenser zu lesen war. Daraufhin kam es zu Auseinandersetzungen mit dem Kultursenat. Die politischen Diskussionen halten an: "Im Kulturausschuss am vergangenen Montag bekräftigte Kultursenator Joe Chialo (CDU) die Kritik an dem Kulturzentrum. Die Senatsverwaltung für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt setze sich aktiv für die Umsetzung des Berliner Landeskonzeptes zur Antisemitismus-Prävention und gegen jede Form von Antisemitismus ein, sagte Chialo. 'Und wenn ich sage, gegen jede Form, dann meine ich auch jede versteckte Form von Antisemitismus.'"
Im Tagesspiegelgedenkt Birgit Rieger der Berliner Videokünstlerin Margaret Raspé, die der Kunst neue Lebenswelten erschloss: "Eine Mutter, die mit einem Kleinkind in der Küche herumwirbelt, hat keine Hand frei, für nichts, auch nicht für Pinsel oder sonstiges Kunstgerät. Margaret Raspé, die ihr Studium an der Hochschule der Bildenden Künste Ende der Fünfzigerjahre aufgab, machte ihr Dasein als Hausfrau zum Gegenstand ihrer Kunst. Diese Verbindung von Kunst und Leben war in den 70er Jahren revolutionär und ist heute Pioniertat. Ebenso wegweisend sind Raspés Gedanken zur Gleichberechtigung oder zum Verhältnis zur Natur, die sie auf vielfältige Weise in ihre Kunst integrierte: Wer Fleisch isst, muss auch schlachten, das etwa zeigt einer ihrer Filme." Auch Monopolerinnert an Raspé.
Weitere Artikel: Dorothea Zwirner porträtiert für den Tagesspiegel den Künstler Francis Alÿs, der im Kölner Museum Ludwig mit dem diesjährigen Wolfgang-Hahn-Preis geehrt wird. Ebenfalls im Tagesspiegelschreibt Alessandra Nappo über Hito Steyerls Videoinstallation "Power Plants". Für Welt+ trifft sich Manuel Brug mit dem Kunstsammler Thaddaeus Ropac. Wegen Antisemitismusvorwürfen gegen Shahidul Alam, Mitglied des Kuratorenteams, wird die Fotografie-Biennale 2024 in Heidelberg abgesagt, berichtet die FAZ. Marion Löhndorf spekuliert in der NZZ darüber, ob die Identität Banksys in einem BBC-Interview enttarnt wurde. Ihr NZZ-Kollege Philipp Meier berichtet, dass der Schweizer Bundesrat eine neue Kommission für Nazi-Raubkunst einrichtet.
Besprochen werden die Ausstellung "Venezia 500" in der Münchner Alten Pinakothek (Tagesspiegel), eine dem Comiczeichner Joann Sfar im Pariser Musée d'art et d'histoire juif gewidmete Schau (FAZ) und eine Mini-Personale zu Ehren der Künstlerin Felice Rix-Ueno im Wiener MAK (Standard).
Banksy-Fans haben wieder was zu rätseln, melden die Feuilletons. Hat der geheimnisvolle Street-Art-Künstler in einem Interview vor zwanzig Jahren einen Hinweise auf seine Identität gegeben? Jörg Häntzschel resümiert in der SZ: "In einem vergessenen und eben wieder ausgegrabenen Interview der BBC von 2003 fragt der Interviewer Banksy, ob sein Name Robin Banks sei - das ist ein Pseudonym des Bristoler Künstlers Robin Gunningham, bei dem es sich Gerüchten zufolge um Banksy handelt. Der antwortet: 'It's Robbie'. Ist das nun ein Dementi oder eine Bestätigung?" Monopol hat wie jedes Jahr die einhundert wichtigsten Künstler und Künstlerinnen gekürt, berichtet Timo Feldhaus in der Berliner Zeitung: auf Platz 1 hat es dieses Jahr Isa Genzken geschafft, deren Werke gerade in einer Ausstellung "75/75" in der Neuen Nationalgalerie Berlin bis 27.11. zu sehen sind. Den 2. Platz, und das ist schon eine kleine Überraschung, nimmt diesmal kein echter Mensch, sondern eine Künstliche Intelligenz ein.
Besprochen werden die Ausstellung "jour de fête" mit Werken von Allen Jones in der Galerie Levy in Berlin (tsp) und die Ausstellung "Hej rup! Die Tschechische Avantgarde" im Bröhan-Museum Berlin (tsp).
Sandra Kegel berichtet in der FAZ von einem Gespräch mit der israelischen Künstlerin Bracha Lichtenberg Ettinger, die als erste die Findungskommission der Documenta verließ (unser Resümee). Es sei ihr gar nicht um die BDS-Debatte um den indischen Kurator und Schriftsteller Ranjit Hoskoté gegangen, gibt Kegel Ettinger wieder, oder um den Antisemitismus-Skandal in Kassel. Nach dem 17. Oktober habe sie eine Pause gebraucht, zum Trauern, sich Sammeln. Die wurde ihr verweigert: "Die insgesamt sechzehn Stunden dauernden Sitzungen in Kassel fanden fünf Tage nach dem Hamas-Massaker statt. Sie konnte nicht nur nicht anreisen, weil der Flughafen in Tel Aviv gesperrt war. Sie stand wie das ganze Land unter Schock. Die Sitzung wurde trotzdem abgehalten und Ettinger aus Tel Aviv digital dazu geschaltet. Die Tatsache, dass während der Kaffeepausen Videos von Vergewaltigungen, Massakern an Frauen und dem Abschlachten von Babys über ihren Bildschirm liefen, erwähnte sie in ihrem Rücktrittsschreiben ebenso wie ihren Schmerz über den Tod israelischer und palästinensischer Zivilisten."
Nele Pollatschek reagiert in der SZ auf einen Artikel der Zeit über ihre Aussagen zur Ranjit Hoskotés Unterschrift einer BDS-Petition (unsere Resümees). Darin heißt es, Pollatschek habe Hoskoté als Antisemiten bezeichnet, dies sei "eine Unverschämtheit". Pollatschek macht die Kollegen auf einen Denkfehler aufmerksam: "Die Zeit behauptet, ich hätte Ranjit Hoskoté Antisemitismus nachgesagt, und zwar infolge von 'Unkenntnis seiner Person'. Der Verfasser des Textes versucht daher, diesen Antisemitismusvorwurf durch Kenntnis der Person Hoskoté zu entkräften. Tatsächlich habe ich Hoskoté keinen Antisemitismus nachgesagt, sondern geschrieben, dass er eine Petition unterschrieben hat, die antisemitisch ist." Und weiter: "Wer die Aussage 'Ranjit Hoskoté hat eine antisemitische Petition unterschrieben' widerlegen will, hat zwei Möglichkeiten diese Aussage zu falsifizieren. Er muss entweder beweisen, dass Hoskoté diese Petition nicht unterschrieben hat. Das war das erste was ich versuchte, als ich den Namen Ranjit Hoskoté unter der BDS-Petition sah: Ich kontaktierte Hoskoté, seinen deutschen Verlag und die Documenta, mit der Frage, ob es sich tatsächlich um seine Unterschrift handelt. (…) In seinem Rücktrittsbrief schreibt Hoskoté, dass 'keiner seiner Kritiker es für wichtig gehalten hätte, seine Perspektive einzuholen'. Das stimmt nicht."
Weiteres: FAZ undtagesspiegel gratulieren dem Kunstprofessor und Kurator Kasper König zum Achtzigsten. Anlässlich der Feierlichkeiten schenkt er dem Museum Ludwig35 Werke, die in der Ausstellung "1000 miles to the edge. Schenkung Kasper König" zu sehen sind.
Besprochen werden die Ausstellung "Der Weg des größten Widerstandes" mit Werken von Fabian Knecht in der Städtischen Galerie Wolfsburg (taz) und die Ausstellung "Blick in die Zeit" der Stiftung Schloss Neuhardenberg (FR).
Zumindest in einem Punkt waren sich die Teilnehmer eines Symposiums zur aktuellen Situation der Documenta einig, seufzt Nils Minkmar in der SZ: Die Kunstschau ist "an einem Nullpunkt" angelangt. Ziemlich erschöpft und ratlos wirkten unter anderem Meron Mendel und die Politologin Nicole Deitelhoff, so Minkmar, die gemeinsam mit Jürgen Habermas und anderen ein Statement gegen Antisemitismus unterzeichnete (unser Resümee): Sie "sah sich nun mit dem Vorwurf der Unterstützung eines Genozids konfrontiert. Sie lächelte ratlos. Und nicht aus den Untiefen der asozialen Netzwerke kommen solche Vorwürfe, sondern, fügte sie an, von angesehenen Akademikerinnen der Ostküste der USA. Auch Meron Mendel sprach von einer völligen Verschiebung der politischen und weltanschaulichen Lager. Er sei früher immer von einer 'Gemeinsamkeit der moralischen Werte' ausgegangen - dass man also gemeinsam erschrecke und innehalte, wenn Kinder gefoltert und ermordet werden. Aber diese Annahme wurde durch seine Erfahrungen widerlegt. Für manche sei Israel immer der weiße Täter, und die Palästinenser seien die indigenen Opfer. " Dank der klugen Moderation des Soziologen Heinz Bude wurde dann aber doch einigermaßen konstruktiv diskutiert, meint Minkmar. In der FRschreibt Michael Hesse zum Thema. In der FAZ resümiert Georg Imdahl die Tagung.
Weiteres: Carmela Tiele stellt in der taz die kaum bekannte Künstlerin Anneliese Hager und ihre "fotografielose Fotografie" vor, die in einer Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim zu sehen ist.
Besprochen werden die Ausstellung "If the Berlin Wind Blows My Flag. Kunst und Internationalisierung vor dem Mauerfall" in Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), daadgalerie und Galerie im Körnerpark (taz), eine Retrospektive mit Gemälden von Nicolas de Stael im Musée d'Art Moderne in Paris (tsp), die Ausstellung "Will Eisner - Graphic Novel Godfather" im Jüdischen Museum Rendsburg (taz).