Intervention

Der Aufstieg des religiösen Extremismus

Von Richard Herzinger
27.05.2021. Der Nahostkonflikt wird unter dem Einfluss des Irans und der Hamas immer mehr unter religiösen Vorzeichen gesehen. Aber Religion unterminiert in allen Weltreligionen immer aggressiver die Ideen der Aufklärung und der Demokratie. Auch die demokratischen Länder selbst sind von dieser Erosion der Rationalität betroffen.
Der israelisch-palästinensische Konflikt wird zunehmend religiös aufgeladen und dadurch weiter radikalisiert. In den Auseinandersetzungen um den Tempelberg in Jerusalem bündeln sich wie in einem Brennglas alle Facetten der seit vielen Jahrzehnten währenden Konfrontation. Überragt werden alle anderen Komponenten des Konfliktes nun jedoch von der des Religiösen, so dass dieser - fälschlicherweise - auch im Westen zunehmend als eine Kollision von jüdischem und muslimischem Glauben interpretiert wird.

Verursacher und Profiteur dieser Entwicklung zugleich ist die radikalislamische Hamas. Als Erfüllungsgehilfe ihres Hauptunterstützers Iran hat sie den ursprünglich ethnisch-nationalistisch motivierten Kampf der Palästinenser in einen Bestandteil des globalen "heiligen Kriegs" gegen "die Ungläubigen", in erster Linie gegen "die Juden", umgedeutet und diesem untergeordnet. Durch ihre terroristischen Raketenangriffe auf die israelische Zivilbevölkerung hat sich die Hamas bei den militanten Palästinensern nun als führende Kraft im fortgesetzten Krieg gegen den jüdischen Staat etabliert. Dagegen versinkt die in der Palästinensischen Autonomiebehörde tonangebende Fatah unter dem weitgehend handlungsunfähigen Präsidenten Abbas in Korruption und Orientierungslosigkeit. Mangels eigener Perspektive stimmt die ursprünglich säkular-nationalistisch orientierte Fatah daher zunehmend auf den religiösen Kurs der Hamas ein.

Aber auch auf jüdischer Seite weitet sich der Einfluss religiöser Extremisten aus und gefährdet von innen heraus den pluralistischen Charakter der israelischen Demokratie. Vor dem Hintergrund dieser religiösen Radikalisierung rückt die Forderung nach einer Zwei-Staaten-Lösung, wie sie jüngst erneut US-Präsident Joe Biden erhoben hat, noch weiter in die Sphäre des Wunschdenkens. Je mehr der Absolutheitsanspruch des Glaubens die Dynamik des Konflikts bestimmt, umso ohnmächtiger wird politische Rationalität.

Der Aufstieg des religiösen Extremismus reicht jedoch weit über den israelisch-palästinensischen Kontext hinaus. So betreibt Präsident Erdogan in der Türkei verstärkt die Islamisierung der Institutionen und des öffentlichen Lebens und schickt sich an, die bereits schwer beschädigten Überreste der demokratischen Ordnung zu beseitigen. Die Instrumentalisierung der Religion zwecks autoritärer Homogenisierung beschränkt sich indes keineswegs auf die muslimische Welt. In Indien beruft sich Staatschef Modi auf eine militante Auslegung des Hinduismus und kombiniert sie mit dem Ideal einer ethnisch "reinen" indischen Nation. Das Gefahrenpotenzial dieses Hindu-Nationalismus wird im Westen noch viel zu wenig beachtet. Dabei handelt es sich bei dem atomar bewaffneten Indien um eine aufstrebende Weltmacht, die nicht nur enorme wirtschaftliche Kräfte in sich birgt, sondern auch massiv militärisch aufrüstet.

Und selbst im Buddhismus, der im Westen oft zum Inbegriff harmonischer Friedfertigkeit verklärt wird, regen sich gewalttätige extremistische Kräfte, deren religiöse Aggression sich vorwiegend gegen Muslime richtet. Dies kulminierte in Myanmar in der Vertreibung der Volksgruppe der Rohingya - einem der schlimmsten Menschenrechtsverbrechen des laufenden Jahrhunderts.

Auch das Putin-Regime in Russland bedient sich der Religion und hat dafür die russisch-orthodoxe Kirche als eine Säule seines autokratischen Machtgefüges installiert. Putin knüpft damit an die Tradition der russischen Zaren an, die sich im 18. und 19. Jahrhundert als Bastion des Glaubens gegen die Ausbreitung aufklärerischer und liberaler Freiheitswerte verstanden. Sein ideologischer Feldzug gegen die westlichen Demokratien zielt auf nichts weniger, als die Geltung dieser Werte auch hier rückgängig zu machen.

Eine Ausnahme in dieser Reihe stellt auf den ersten Blick das Regime der Volksrepublik China dar, das seine Herrschaft auf eine "klassische" totalitäre und von ihrem Selbstverständnis her antireligiöse Ideologie stützt: den Marxismus-Leninismus. Doch als Karl Marx die Religion "das Opium des Volkes" nannte und den Kommunismus als "das aufgelöste Rätsel der Geschichte" anpries, reproduzierte er durch die "dialektische" Hintertür selbst religiöses Denken - nur, dass der sich am jüngsten Tag offenbarende und alle Rätsel auflösende Gott bei ihm "die Geschichte" hieß. Indem der "materialistische" Religionskritiker so selbst zu einer Art Religionsstifter wurde, bewies er wider Willen das Fortleben religiöser Bedürfnisse auch im modernen, aufgeklärten Zeitalter.

Wie bei einem Gift kommt es bei der Religion jedoch auf die Dosis an. Maßvoll eingesetzt, kann sie eine heilsame, beruhigende Wirkung haben, überdosiert entfaltet sie dagegen ihre aufputschenden, zerstörerischen Kräfte. Die moderne westliche Zivilisation beruht nicht zuletzt auf der Kunst, die Macht der Religion einzudämmen und sie als Sedativum gegen ausufernde politisch-ideologische Leidenschaften wirken zu lassen.

Bei den "klassischen" totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts handelte es sich um säkulare Ersatzreligionen, die allerdings dadurch "modern" erscheinen wollten, dass sie sich eine pseudowissenschaftliche Begründung gaben. Der Kommunismus berief sich auf die vermeintliche Gesetzmäßigkeit des Klassenkampfs, Nationalsozialismus und Faschismus stützten sich auf biologistische Theoreme von "Blut" und "Rasse". Der heutige religiöse Totalitarismus hingegen verwirft die rationalen und wissenschaftlichen Prämissen der Moderne in Gänze und verspricht so die ultimative "Befreiung" von der Komplexität vernunftgeleiteten Denken.

Auch westliche Demokratien sind gegen die Verführungskraft solchen Irrationalismus nicht immun. In den USA ebneten radikale Evangelikale Donald Trump maßgeblich den Weg zur Macht und schürten die wahnhaften Züge seiner Präsidentschaft, indem sie ihn zu einer von Gott gesandten Erlöserfigur verklärten. In Brasilien fungieren sie als ideologische und logistische Drahtzieher der Herrschaft des rechtsradikalen Staatschefs Bolsonaro. Mag auch in Europa die christliche Religion insgesamt tendenziell im Rückzug begriffen sein - inmitten aller westlichen Gesellschaft blühen umso mehr quasireligiöse esoterische und neoheidnische Kulte auf, die faktenbasiertes Denken durch mythologische Fiktionen ersetzen und für politische Verschwörungsfantasien anfällig sind. Das destruktive Potenzial dieser Milieus sollte niemand unterschätzen.  

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. D.Red. Hier der Link zur (hier leicht erweiterten) Originalkolumne.