Intervention

Wie Wände, auf die Parolen geschrieben werden

Von Richard Herzinger
14.10.2021. So berechtigt es ist, die fragwürdigen Geschäftsprinzipien der Social-Media-Konzerne  anzuprangern - mit dem Finger auf Facebook als dem Schuldigen an der wachsenden Ausbreitung von Hass und Gewalt zu zeigen, lenkt von der wahren Dimension des Problems ab und trägt letztlich zu seiner Verharmlosung bei. Hass und Gewalt in den sozialen Medien sind Symptome einer viel tiefer liegenden zivilisatorischen Krise.
Facebook und andere soziale Plattformen sehen sich zur Zeit heftiger Kritik ausgesetzt. Um ihre Reichweite zu steigern, so heißt es, förderten sie bewusst irrationale Kontroversen und zum Hass aufstachelnde Äußerungen. Insbesondere Facebook wird vorgeworfen, zerstörerische Konflikte zu schüren und daher für Ausbrüche exzessiver Gewalt mitverantwortlich zu sein. So habe sich das Militärregime in Myanmar dieses Mediums ungehindert bedienen können, um die Verfolgung und Vertreibung der muslimischen Minderheit der Rohingya zu befeuern. Auch beim Sturm auf das Kapitol in Washington Anfang dieses Jahres habe Facebook eine verhängnisvolle Rolle als Multiplikator der Botschaften der Aufrührer gespielt

Doch so berechtigt es ist, die fragwürdigen Geschäftsprinzipien und mangelhaften moralischen Standards des Social-Media-Konzerns aufzudecken und anzuprangern - mit dem Finger auf Facebook als dem Schuldigen an der wachsenden Ausbreitung von Hass und Gewalt zu zeigen, lenkt von der wahren Dimension des Problems ab und trägt letztlich zu seiner Verharmlosung bei.

Gewiss ist es beunruhigend, wenn private Unternehmen große Teile des Markts der Meinungen kontrollieren und selbstherrlich darüber entscheiden, was als zulässige Meinungsäußerung zu werten ist und was nicht. Doch zu glauben, ohne den verderblichen Einfluss sozialer Medien wäre die Welt ein besserer Ort, führt in die Irre. Der Genozid an der Volksgruppe der Tutsi in Ruanda 1994 ereignete sich lange bevor es Facebook gab. Und so sehr neue soziale Medien die Kommunikation und damit auch die Verbreitung von Hassbotschaften beschleunigen mögen - die Anführer des damaligen Hutu-Regimes benötigten deren Dienste nicht, um in nur hundert Tagen die Ermordung von 800.000 bis einer Million Menschen herbeizuführen. Weder das Regime Pol Pots in Kambodscha in den späten 1970er Jahren noch jüngst das Assad-Regime in Syrien waren auf Facebook oder vergleichbare digitale Netzwerke angewiesen, um ihre eigene Bevölkerung zu massakrieren.

Hinzu kommt, dass "soziale Medien" keine neue Erfindung sind. Kneipengespräche sind ebenso ein soziales Medium wie Wände, auf die Parolen geschrieben werden. Die Aufstachelung zu antijüdischen Pogromen vollzog sich im Mittelalter ganz ohne moderne technologische Hilfsmittel, und diese verbreiteten sich ebenso in Windeseile wie die Wellen der Hexenverfolgung. Die totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts bedienten sich der damals jeweils neuen Medien wie Telegrafie und Radio, um ihre Vernichtungsideologien zu verbreiten - mit dem bekannten beispiellos verheerenden Erfolg. Gewiss, die neuen sozialen Medien sichern Hassparolen und Verschwörungstheorien heute in einem nie dagewesenes Tempo globale Ausbreitung. Doch ist dies eher eine quantitative als eine qualitative Neuerung.

Generell können Medien Hass steigern, ihn verbreiten und in eine bestimmte Richtung lenken - künstlich erzeugen können sie ihn jedoch nicht. Damit er virulent wird und in Gewalt umschlägt, muss er unterschwellig bereits im Bewusstsein von Teilen der Gesellschaft verankert sein. Hass ist eine konstante menschliche Emotion, die stets unter der Oberfläche zivilisatorischen Zusammenlebens brodelt, und die man kontrollieren und eindämmen muss, die man aber nicht ein für allemal aus der Welt schaffen kann. Die Vorstellung, Hass ließe sich abschalten, indem man ihm bestimmte mediale Foren entzieht, die ihn transportieren, suggeriert eine falsche Sicherheit. Ist der Hass stark genug, wird er sich gegebenenfalls auf andere Weise Bahn brechen.

Was die aktuelle Verdammung der sozialen Medien zusätzlich fragwürdig macht, ist die Tatsache, dass sie vor noch nicht allzu langer Zeit massiv idealisiert worden sind. So wurden ihnen 2011, als der "Arabische Frühling" ausbrach und oppositionelle Aktivisten per Facebook und Twitter zu den Massendemonstrationen mobilisierten, geradezu wundersame freiheitsstiftende Kräfte zugeschrieben. Ein führender deutscher Journalist erklärte damals, gegen die Kraft der neuen Kommunikationsmedien hätten Diktaturen fortan keine Chance mehr. Inzwischen hat sich jedoch das Gegenteil herausgestellt: Autoritäre Regime nutzen die Möglichkeiten der sozialen Medien massiv für ihre Zwecke, indem sie ihre Propaganda und Desinformationen in sie einspeisen und ihre Betreiber entweder zu ihren Komplizen machen oder sie durch Sperrungen und Zensur zu Wohlverhalten nötigen. Die Glorifizierung der sozialen Medien hat die Öffentlichkeit damals ebenso getäuscht wie es ihre heutige Verteufelung tut.

All das spricht nicht dagegen, die überbordende Macht von Unternehmen wie Facebook stärker zu kontrollieren und einzuschränken. Doch wenn Hass und Gewalt überhandnehmen, signalisiert das stets mehr als nur das üble Wirken einzelner Akteure. Es ist vielmehr Anzeichen für eine sich anbahnende fundamentale zivilisatorische Krise. Wenn die internationale Staatengemeinschaft tatenlos zusieht, wie vor den Augen der Weltöffentlichkeit ganze Bevölkerungsgruppen massakriert und vertrieben werden, wenn Demokratien, wie jetzt in Afghanistan, gar ganze Gesellschaften der Willkür barbarischer Mörder und Vergewaltiger wie den Taliban ausliefern und zugleich Flüchtlinge menschenunwürdigen Umständen aussetzen, um sie nicht aufnehmen zu müssen, erodieren die Wertmaßstäbe auch in den zivilisatorisch noch intakten Gesellschaften. Es frisst sich dann in sie der Gedanke hinein, hassgetriebene Gewalt könne eben doch ein erfolgreiches Mittel zur Durchsetzung des eigenen Willens sein. Der erlahmende innere und äußere Widerstand gegen Hass und Gewalt in zivilisierten Gesellschaften ist es, der diesen Auftrieb gibt.

Dass soziale Medien wie Facebook von Hass- und Gewaltbotschaften überschwemmt werden und ihre Betreiber dies zwecks Profitmaximierung billigend in Kauf nehmen, ist somit nur ein Symptom für den Niedergang zivilisatorischer Werte, der unsere freiheitlichen Gesellschaften im Ganzen zur kritischen Selbstbefragung zwingen sollte. Die Verantwortung dafür auf Medien wie Facebook abzuschieben, bedeutet ein gefährliches Ausweichen vor dieser Herausforderung.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. D.Red. Hier der Link zur Originalkolumne.