Intervention

Das Manöver ist nicht neu

Von Richard Herzinger
29.07.2022. Die russische Propaganda stellt ihren Vernichtungskrieg gegen die Ukraine zunehmend als Vorbild für den "antikolonialistischen" Widerstand gegen die globale Vorherrschaft des Westens dar.  Damit folgt er einer Rhetorik, die vor allem in den Autokratien des "globalen Südens" - ebenfalls eine problematische Vokabel - auf einen freundlichen Widerhall stößt. Die notwendige Aufarbeitung kolonialer Verbrechen des Westens darf nicht zur Aufgabe universaler Normen führen.
Die russische Propaganda stellt ihren Vernichtungskrieg gegen die Ukraine zunehmend als Vorbild für den "antikolonialistischen" Widerstand gegen die globale Vorherrschaft des von den USA angeführten Westens dar. So ungeheuerlich diese zynische Täter-Opfer-Verkehrung auch ist - im sogenannten "globalen Süden", bei despotischen Regimen und bei halbautoritären Regierungen wie der des radikalen Hindu-Nationalisten Modi in Indien oder der des brasilianischen Rechtsextremisten Bolsonaro stößt sie durchaus auf offene Ohren.

Denn sie passt in das bei autoritären Herrschern auf der südlichen Welthalbkugel beliebte Muster, für ihre von Korruption und Willkür geprägte Misswirtschaft  die Nachwirkungen des westlichen Kolonialismus verantwortlich zu machen. Auch eigene globale oder regionale Vorherrschaftsansprüche lassen sich durch den Verweis auf die historische Schuld der westlichen Welt als eine Art Anspruch auf Wiedergutmachung für einst erlittenes Unrecht darstellen und so mit einem pseudomoralischen Anstrich versehen.

Zugleich betrachten große wie kleinere Despoten den Westen und die von ihm verfochtene liberale Weltordnung als Haupthindernis, das der Verwirklichung ihrer Expansionsfantasien im Wege steht. Das totalitäre China, aber auch Indien rüsten massiv auf, und beide unterstreichen damit, dass sie nicht davor zurückschrecken werden, zur Ausweitung ihrer Einflusssphäre militärische Gewalt einzusetzen. Putin, der das, wovon sie einstweilen noch träumen, bereits mit ungeschminkter Brutalität praktiziert, bewundern sie daher als einen Vorreiter.

Nicht zuletzt um diese Mächte abzuschrecken und davon abzuhalten, Putins brachialer Anwendung des Rechts des Stärkeren nachzueifern,  ist es unverzichtbar, Russland auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz eine vollständige Niederlage beizubringen. Doch statt aufstrebenden Mächten des "globalen Südens" auf diese Weise klar die Grenzen aufzuzeigen, begegnet ihnen der Westen mit einer Mischung aus Wohlwollen, Furcht und schlechtem Gewissen. Viele Jahre lang hat er in dieser gemischten Gefühlslage den Aufstieg Chinas beobachtet und gefördert, ohne das Ausmaß der Gefahr zu realisieren, die von dem damit verbundenen Machtzuwachs der chinesischen Kommunisten ausging. Diese Bedrohung wird inzwischen selbst in Europa deutlicher erkannt. Doch in andere Fällen bleiben vonseiten des Westens klare Signale der Stärke aus - weil er den Verdacht fürchtet, er wolle "den globalen Süden" bevormunden und "dominieren".

Der Bezeichnung "globaler Süden" ersetzt im heutigen Sprachgebrauch der westlichen Politik und Öffentlichkeit die früheren Begriffe "Dritte Welt" oder "Entwicklungsländer", die mittlerweile als diskriminierend gelten. Doch auch die neue Bezeichnung konstruiert eine fiktive Einheit von Staaten, Nationen und Völkern auf drei Kontinenten, deren Interessen, Traditionen und politische Verfassung nicht unterschiedlicher sein könnten. In den Oberbegriff "globaler Süden" werden sie zusammengezwängt, weil sie angeblich allesamt Opfer einer von den westlichen Industrienationen verursachten strukturellen ökonomischen Ungleichheit seien, die in der einstigen europäischen Kolonialherrschaft wurzele. Dem "globalen Süden" wird damit eine Art historischer Kredit für alles erdenkliche Fehlverhalten in der Gegenwart gewährt.

Das zeigt sich aktuell in dem Verständnis, das im Westen Staaten entgegengebracht wird, die Sanktionen gegen den Kreml ablehnen oder unterlaufen. So waren zum G7-Gipfel in Schloss Elmau Repräsentanten des "globalen Südens" eingeladen -  nicht zuletzt, um sich mit ihnen "auf Augenhöhe" über die Haltung zahlreicher Staaten außerhalb Europas und Nordamerikas auszutauschen, die unbeeindruckt weiter mit Putins Russland kooperieren. Impliziert wurde dabei konzediert, die Zugehörigkeit zum "globalen Süden" bedinge eine legitime "andere Sichtweise" auf  dessen völkermörderischen Angriffskrieg.

Der Mythos vom "globalen Süden" dient so der Verschleierung der wahren Absichten einzelner Staaten, die aus der russischen Aggression eigene Vorteile ziehen wollen. Damit soll aber keineswegs gesagt sein, dass die westlichen Demokratien an den Ungerechtigkeiten im globalen Wirtschaftssystem unschuldig wären. Mehr Chancengleichheit im weltweiten Wettbewerb herbeizuführen ist ebenso erstrebenswert wie die umfassende Aufdeckung europäischer Kolonialverbrechen. Doch diese berechtigten Anliegen dürfen nicht als Vorwand dienen, universale Normen zu relativieren. Wenn es um die Verteidigung elementarer Voraussetzungen des internationalen Rechts und der Menschenwürde geht, kann es keine Nachsicht gegenüber Regierungen geben, die Angriffe darauf wie den russischen Ausrottungsfeldzug gegen die Ukraine unterstützen oder tolerieren.

Das russische Manöver, den eigenen Ausrottungsfeldzug gegen eine souveräne Nation zur Befreiungsaktion im Namen der Unterdrückten dieser Erde umzulügen, ist indes nicht neu, sondern hat furchtbare historische Vorbilder. Während das mit Hitler-Deutschland verbündete japanische Regime im Zweiten Weltkrieg in den von seinen Armeen besetzten asiatischen Ländern - an erster Stelle in China - die grausamsten Massaker begehen ließ und die von ihm unterworfenen Völker aufs brutalste ausbeutete und versklavte, inszenierte es sich zugleich als "panasiatischen" Befreier des Kontinents vom britischen Imperialismus und dem vermeintlichen "Kolonialismus" der USA. Und bekanntlich pflegte auch die Sowjetunion ihre Hegemonialbestrebungen stets als Ausdruck der Solidarität mit dem "nationalen Befreiungskampf" der vom westlichen "Kolonialismus" und "Imperialismus" unterdrückten Völker hinzustellen.

Der Putinismus tritt heute das Erbe sowohl der faschistischen als auch der kommunistischen Ideologie an, die er auf bösartigste Weise zusammenführt. Konsequenterweise bedient er sich nun auch der  "antikolonialistischen" Rhetorik, die bereits beiden totalitären Strömungen des 20. Jahrhunderts zur Bemäntelung ihrer Verbrechen diente. Dieser Demagogie muss der Westen auch gegenüber dem "globalen Süden" offensiv und mit unzweideutiger Klarheit entgegentreten.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. D.Red. Hier der Link zur Originalkolumne.