Intervention

Historischer Entscheidungskampf

Von Richard Herzinger
01.06.2022. Fast vergessen ist angesichts des Grauens von Putins Angriffskrieg in der Ukraine, wie schmählich die westlichen Länder in diesem Jahr schon mal versagten: nämlich in Afghanistan.  Die Frauen, die sich nun wieder nur noch vollverschleiert in der Öffentlichkeit bewegen dürfen, zahlen den Preis als erste. Es ist zwar schwer vorstellbar,  dass der Westen die Ukraine ähnlich leichtfertig im Stich lassen könnte. Aber er wird Putin nicht besiegen, indem er ihm einen "gesichtswahrenden" Ausweg anbietet.
Nach einem kürzlich ergangenen Erlass des Taliban-Regimes dürfen sich Frauen in Afghanistan nur noch vollverschleiert in der Öffentlichkeit bewegen - und auch das nur drastisch eingeschränkt. Damit setzen die Taliban die systematische Entrechtung der Frauen fort und machen deutlich, dass sie sich in keiner Weise "gemäßigt" haben, sondern entschlossen sind, Afghanistan erneut ihre terroristische, totalitäre Herrschaft aufzuzwingen.

Westliche Versprechungen, der afghanischen Zivilgesellschaft auch nach dem Abzug der Nato-Truppen vom Hindukusch beizustehen, erweisen sich jetzt als Schall und Rauch. In Wahrheit wurden das Land und mit ihm die dort in zwei Jahrzehnten entwickelten Ansätze von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schlicht der Willkür der islamistischen Extremisten ausgeliefert. Und über das Schicksal der Afghaninnen und Afghanen, die ihr schutzlos ausgesetzt sind, hat sich inzwischen das weitgehende kollektive Vergessen der westlichen Öffentlichkeit gesenkt.

Die Herausforderung durch den russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine hat die Erinnerung an die schmachvolle Kapitulation des Westens in Afghanistan noch mehr in den Hintergrund treten lassen. Doch dieses verdrängte und nicht aufgearbeitete Desaster wirkt weiterhin nach und lastet schwer auf den westlichen Demokratien und ihrer weltpolitischen Positionierung. Denn es wird meist übersehen, in welchem Maße die fluchtartige westliche Preisgabe Afghanistans das russische Regime in seiner Aggression gegen die Ukraine bestärkt hat. Moskau galt dies als der ultimative Beleg dafür, dass der Westen nicht mehr willens und fähig sei, von ihm geschütztes Terrain auf Dauer zu verteidigen, das ihm gewaltsam streitig gemacht wird. Und auch in einer anderen Hinsicht hängt die Lage in Afghanistan mit Russlands Krieg zusammen: Die weltweite Ernährungskrise, die er ausgelöst hat, verschärft dort die Gefahr dramatischer Hungersnöte. Dies lässt den Kreml auf neue Flüchtlingswellen spekulieren, die zur Destabilisierung des Westens beitragen sollen.

Zwar hat sich der Kreml bei seinem Großangriff auf die Ukraine sowohl hinsichtlich der ukrainischen Widerstandskraft als auch der Gegenwehr des Westens offenbar gründlich verrechnet. Doch trotz aller Rückschläge auf dem Schlachtfeld und ungeachtet des drohenden Einbruchs der russischen Wirtschaft in Folge der westlichen Sanktionen hält das Putin-Regime an seinem Aggressionskurs fest und geht dabei davon aus, dass der Westen seine relativ feste Haltung gegenüber dem Aggressor nicht lange durchhalten werde.

Und tatsächlich: Je länger der Krieg dauert, desto lauter werden im Westen die Stimmen, die für seine rasche Beendigung zu Konzessionen an Russland neigen und einen für Putin "gesichtswahrenden" Kompromiss für möglich halten. So warnt Frankreichs Präsident Macron davor, Russland "in die Ecke zu drängen", und Deutschlands Bundeskanzler Scholz verschleppt Waffenlieferungen an die Ukraine - offenbar in der Hoffnung, vom Kreml als "Vermittler" in kommenden Waffenstillstandsverhandlungen akzeptiert zu werden. Italien hat einen ominösen "Friedensplan" ausgearbeitet, und die einflussreche New York Times mahnte jüngst in einem Editorial US-Präsident Joe Biden dazu, die ukrainische Regierung rechtzeitig auf die Notwendigkeit schmerzhafter Zugeständnisse vorzubereiten.

Derartige Tendenzen zum Nachgeben gegenüber der russischen Gewaltpolitik zeigen, dass große Teile der westlichen Eliten den wahren Charakter des Kreml-Regimes noch immer nicht verstanden haben und es weiterhin für einen potenziell verlässlichen Vertragspartner halten - so, wie man sich in Afghanistan jahrelang die trügerische Hoffnung eingeredet hatte, mit den Taliban könne ein friedlicher Ausgleich erzielt und eine "Machtteilung" vereinbart werden. In Wahrheit aber will das Putin-Regime keinerlei "Interessensausgleich". Durchsetzen will es nichts weniger als eine "Weltordnung", in der keine  Werte, Normen und Regeln mehr gelten, die der mörderischen Willkür seines kriminellen Unterdrückungssystems Grenzen setzen. Es gleicht darin durchaus islamistischen Machtgebilden wie den Taliban.

Westliche Beobachter aber beruhigen sich gerne mit dem Gedanken, dass Russlands ökonomische und militärische Kraft nicht ausreiche, um derart maßlose Ziele ernsthaft für erreichbar zu halten. Aber Größenwahn ist, wie die Geschichte schmerzhaft lehrt, ein mächtiger Antrieb für expansionswütige Diktaturen, die Welt mit Krieg, Zerstörung und Vernichtung zu überziehen. Hitlers Deutschland verfügte über weniger als die Hälfte der Wirtschaftskraft der USA, als es sich zur Eroberung der Weltherrschaft aufschwang. Und heute hält die chronisch katastrophale Lage seiner Wirtschaft den - mit Russland verbündeten - Iran nicht davon ab, seine kriegerischen Aktivitäten in der Region immer weiter zu forcieren.

Weit davon entfernt, ein Hinderungsgrund zu sein, ist die eigene wirtschaftliche Schwäche sogar eher ein Antrieb für aggressive Diktaturen, sich in immer neue kriegerische Zerstörungsfeldzüge zu stürzen. Gerade weil solchen Machthabern klar ist, dass sie auf der Ebene wirtschaftlicher Konkurrenz auf Dauer nicht mithalten können, kommen sie zu dem Schluss, dem ökonomisch überlegenen Gegner ihren Willen auf andere Weise aufzwingen zu müssen.

Gewiss ist die Ukraine als eine funktionierende Demokratie und entwickelte Nation in der Mitte Europas kaum mit Afghanistan zu vergleichen. Entsprechend schwer vorstellbar ist, dass der Westen sie ähnlich leichtfertig im Stich lassen könnte wie das Land am Hindukusch. Doch in der heutigen globalisierten Welt, die von einem historischen Entscheidungskampf zwischen Demokratie und Autoritarismus bestimmt wird, gibt es keine wirklich "unwichtigen", strategisch unbedeutenden Regionen mehr. Den Eindruck epochaler Schwäche, den die westlichen Demokratien mit ihrem panischen Abzug aus Afghanistan erweckt haben, können sie nur nachhaltig korrigieren, wenn sie bis zur vollständigen Zerschlagung der russischen Invasionsarmee konsequent an der Seite der für die gesamte freie Welt kämpfenden Ukraine bleiben.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. D.Red. Hier der Link zur Originalkolumne.