Magazinrundschau - Archiv

the drift

1 Presseschau-Absatz

Magazinrundschau vom 28.09.2021 - the drift

Was bleibt von John Ashbery? Vier Jahre nach seinem Tod im Jahr 2017 scheint der einst einflussreichste amerikanische Dichter wie aus der Zeit gefallen, konstatiert David Schurman Wallace in einem sehr lesenswerten Essay anlässlich des ersten posthum erschienenen Bandes von Ashbery, "Parallel Movement of the Hands": Nicht kurz und flott genug, um für Memes in den sozialen Medien zu taugen. Viel zu privat, um eine "Marke" aus ihm zu machen. Und viel zu rätselhaft, um politisch vereinnahmt zu werden. "Ashberys Antwort auf die Idee, sein eigenes Schreiben zu enträtseln, ist bezeichnenderweise fast eine Binsenweisheit: 'Für mich ist mein Denken sowohl Poesie als auch der Versuch, diese Poesie zu erklären; beides lässt sich nicht voneinander trennen.' Aber vielleicht verbirgt sich in dieser Bescheidenheit ein größeres Projekt. Zu sagen, sein eigener Gedanke sei die Poesie selbst, ist eine trügerisch zuversichtliche Behauptung - mit achselzuckenden Gesten wie dieser gab Ashbery sich selbst die Erlaubnis, ein Projekt zu verfolgen, das versucht, die Sprache zu totalisieren, 'das gesamte orchestrale Potenzial der englischen Sprache' aufzufahren, wie Helen Vendler über sein längstes Gedicht, 'Flow Chart', schrieb. Doch wenn alle Instrumente auf einmal spielen, kann das Publikum die Melodie überhören. Ashberys Poetik ist eine Internet-Poetik avant la lettre, die jene absolute Konnektivität heraufbeschwört, die wir uns vom Netz wünschen, in der Praxis aber selten haben. Die 'Verwirrung der Sinne', ein Ausspruch Rimbauds, den Ashbery sehr schätzte, fühlt sich nicht mehr transgressiv an, wenn die schnelle Aneinanderreihung von Bildern und Ideen ohne offensichtlichen Zusammenhang die Norm im Leben eines jeden Internetnutzers ist - soziale Feeds reproduzieren dieses Phänomen jeden Tag für Millionen von Menschen. Der Leser von heute sehnt sich nach einem Dichter mit einer Botschaft - vielleicht einem, der uns sagt, was wir denken sollen, oder der bestätigt, was wir zu wissen glauben. Aber auch wenn Ashberys Poesie die sich ständig verändernden Register vorweggenommen hat, die wie eine Basslinie des Online-Lebens summen, so ist sie doch nicht mehr aussagekräftig für unsere Erfahrung. Dichter, die vom Internet geprägt sind, können nicht anders, als aus Ashberys 'konvexem Spiegel' heraus zu sprechen, in dem 'die Seele gefangen' ist in ihrem eigenen Bild, und auf die Welt zurückblickt. Aber wo Ashbery die Sphäre leidenschaftslos betrachten konnte, indem er die Schichten der Subjektivität abkratzte, sind sie im Inneren des Glases gefangen und kämpfen darum, die Krümmung zu beschreiben, die ihre Sicht verbiegt."