Tagtigall

Vom Zernuen

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
15.09.2020. Marcel Beyer hat in seinen neuen Gedichtband "Dämonenräumdienst" erstaunlich viele Namen eingestreut: Elvis Presley, Joseph Beuys, Hildegard Knef, aber auch Coleridge, Klopstock, Mooshammer, Damien Hirst. Er hat den Wahrnehmungswahnsinn, von dem wir leben, in die Gedichte geräumt, "inhaliert" zur Kräftigung der eigenen Atem-, Klang- und Erkenntniswege fremde Dichter, Bilder, Gedanken und Rhythmen. Und eben: Namen.
Tagtigall-Newsletter abonnieren
Zu Beginn seines Essays "Aurora" zitierte Marcel Beyer im Jahr 2006 Ossip Mandelstam: "Dreimal selig wer einen Namen ins Lied einführt", und gestand, Namen in Gedichten zögen ihn an, sie strahlten eine Kraft aus, auch wenn er sie mitunter gar nicht als solche erkenne. Sein Essay endete damals mit einem Vers von Paul Celan:

Ein Teil aller Teile sein,
in der Größren Zerstreuung,

zerheiligt, zerweiligt,
zernut.

"zernut", ein rätselhaftes Ende. Stammworte - hier die Worte "heilig", "weilig" und "nu", also ganz hier-und-jetzt - können bekanntlich im Deutschen so einiges tragen, und Vorsilben haben es in sich. Überhaupt kann die deutsche Sprache Aspekte zusammenballen wie sonst kaum eine. Anders als bei der Vorsilbe "ent", klingt bei der Vorsilbe "zer" immer Gewalt mit - die Gewalt einer Aufsprengung, einer Zerstreuung. Diaspora eben.

Jeder Mensch ist so gesehen eine Scherbe aus dem Gefäß des Weltganzen, und ein jeder Dichter sowieso. Tatsächlich - es gibt sie nicht, die früher oft beschworene authentische, gar autarke Dichterstimme; Kunst entsteht aus einem konkreten Raum und einer konkreten Zeit heraus, sie agiert in eine konkrete Zeit hinein, und jeder Dichter, der Augen und Ohren hat, "inhaliert" zur Kräftigung der eigenen Atem-, Klang- und Erkenntniswege fremde Dichter, Bilder, Gedanken und Rhythmen. Und eben: Namen.

In seinem soeben erschienenen neuen Gedichtband "Dämonenräumdienst" hat Marcel Beyer, der in seinen Essays grandiose Gespräche mit Mayröcker, Celan, Kling und Erb führt, erstaunlich viele Namen eingestreut, darunter: Elvis Presley, Joseph Beuys, Hildegard Knef, aber auch Coleridge, Klopstock, Mooshammer, Damien Hirst. Die Namen ziehen die Aufmerksamkeit unmittelbar auf sich und sie verströmen tatsächlich eine besondere Kraft. Ein Gedicht heißt "Weh mir" (Hölderlin), in einem anderen titelt Beyer gewagt, frei nach Paul Celan, "Der Tod ist ein Arschloch aus Strehlen", und wieder ein anderes der Gedichte erinnert im Sprachgestus der ersten Zeile an Brechts "Lesebuch für Städtebewohner": "Halte die Sprache nass. Und liquidiere."

Wo Worte oder Klänge oder Rhythmen bekannt klingen, werden nicht selten Namen assoziiert, so in dem Gedicht "später dann": "Trachte die // Vernunft zu stillen, die dem Glauben / widerbellt, reinige den argen / Willen von dem Plunder dieser Welt." Ein Ohrwurm-Rhythmus, noch dazu gereimt, nur hier, ganz modern, über Zeilen und Strophenenden hinweg gebrochen. Unmittelbar hat man beim Lesen den Sound von Schillers "Freude schöner Götterfunke" im Ohr, dabei stammt das Zitat aus einem (mir bis dato völlig unbekannten) Kirchenlied des Pegnitzer Schäfers Christian Wegleiter. Plötzlich sind Wörter des 17. Jahrhunderts, wie "widerbellen" und "arger Wille", in die heutige Sprachwirklichkeit zurückgekehrt. Die Sprache, sie kann "zerheiligt" werden - und "zernut".

Noch einmal zurück zum Namen: So assoziativ und frei und von eigenem und fremdem Sound getrieben die Verse im "Dämonenräumdienst" teilweise daherkommen, schnell ist klar: die Welt ist nicht nur alles, was der Fall ist, sondern auch alles, was wir uns vorstellen können, dass es der Fall wäre - oder sein könnte. So erwähnt das Gedicht "Depot" lauter bekannte Namen, allerdings mit unbekannten Werken: Schongauers erfrorene Hände, Dürers Meerschweinchenstiche und Kiefers frühe Postkartenformate. Die Namen scheinen Hilfsgeister, sie beglaubigen, was es nicht gibt.

Nahtoderfahrung

Schon lange treibt Marcel Beyer sein Spiel mit der klassischen Strophenform des Vierzeilers - fast immer ungereimt und voller Enjambements, auch über Strophengrenzen hinweg. Der Band "Dämonenräumdienst" nun ist ausschließlich aus Vierzeilern gemacht und in der Komposition so geschlossen wie keiner von Beyers früheren Gedichtbänden, denn alle 76 Gedichte sind aus zehn Vierzeilern gemacht. Eine sehr feste Form. Ein "Deka-Quartett", wenn man so will. Alle Gedichte sind dramatische Monologe, deren jeweilige Stimmung im 1. Satz gesetzt ist: Die jeweilige Person hat ihren Auftritt, auf der inneren Bühne des Autors: "Mir glüht der Schädel in allen Fasern" beginnt einer der Texte, oder "Ruh aus in deinem Plural, wenn du / zermöbelt und zersplittert bist." Oder: "Ich habe viel für Damien Hirst / gesessen" oder auch "Der Nachmittagsgang durch / die dm-Filiale jedesmal / eine Nahtoderfahrung".  Lauter lyrische Ichs, denen Beyer das Wort erteilt und die zahllose Geister zu Hilfe rufen, um mittels dialogischer Sprechhaltungen die Phantasmen unserer Zeit zu beschwören und ihnen Paroli zu bieten. "Schreib es auf, sonst musst du es am Ende noch erleben", liest man. Die Sprache rettet sich - durch Sprache.

Alle hier versammelten Gedichte inszenieren dramatische Augenblicke. Manche spielen mit Kriminalfällen ("Der Tod in den Büschen"), andere scheinen sich aus Fantasy- oder Horrorbildern zu speisen, Musik und Trash inclusive. Es wird deutlich, dass die im vorhinein festgelegte einheitliche Form (der 10 x 4 Zeilen) im Laufe des Schreibens an diesem Buch eine eigene Dynamik entwickelt haben muss. Jedenfalls treiben sich viele der Gedichte durch das Stilmittel der strukturellen Wiederholung (man könnte auch sagen: durch permanente Neuanläufe) voran, so steigern sich Tempo und Eindringlichkeit. Nehmen wir die ersten Strophen des Gedichtes "Bimini", ein Titel frei nach Heinrich Heine. Doch wo dieser reimte ("Kleiner Vogel Kolibri, / Komm mit mir nach Bimini") treibt Marcel Beyer ein subversives Spiel mit dem "Hakenstil".

Bin ich denn hier der Brummel
vom Gelände? Bin ich das
Abbild einer zarten Kokosnuss?
Bin ich etwa die Nummer Asche,

Bin ich vielleicht der angefaßte Uhu
im Gebälk, seh ich so aus, als
wäre ich die Nummer Gnadenschuss?
Seh ich so aus als wäre ich

rundum erneuert, bin ich denn hier
vom Herzen her verlaust? Lieg
ich vielleicht jemandem auf
der Tasche, kaue ich maliziös am

Zigarettenstummel? Bin ich etwa
vom Pflanzenschutz und ihr
seid welk? Was immer ich auch
male, es wird kein Wald daraus.

Welch herrlicher Taumel der Assoziationen, der in nicht enden wollenden strophenübergreifenden Enjambements sein formales Pendant hat. Hat der "Brummel" in der ersten Zeile etwas mit Harry Rowohlts "Lord Brummel" zu tun? Ist "zarte Kokosnuss" ein dezenter Hinweis, dass hier der kleine Drache gleichen Namens gemeint ist? Was wissen wir schon? "Nummer Gnadenschuss", "vom Pflanzenschutz", "vom Herzen her verlaust". Das Gedicht taumelt immer weiter. Anspielungen an Redewendungen, Reklameslogans, Rap-Sound und Kindersprüche, durchsetzt von Blödeleien, durchziehen den Text und schaffen, gerade wegen der Rätselhaftigkeit der Assoziationen vielleicht, eine ganz eigene Schönheit. Beyer hat den Wahrnehmungswahnsinn, von dem wir leben, in die Gedichte geräumt. Und "Bimini" ist vielleicht ein Monolog des Widerstands, auch wenn kein Wald daraus wird und man sich keinen Reim machen kann. Umso größer der Humor, der rheinische, der, wo auch Heine einst herkam. Doch das ist ein anderes Kapitel.

Marcel Beyer erweist sich in "Dämonenräumdienst" als der große Stilist, der er ist. Seine Gedichte zeigen, welch enorme Kraft der Form innewohnt. Spielregeln (hier: das "Deka-Quartett") intensivieren offensichtlich die poetischen Möglichkeiten - ein virtuoses Wechselspiel aus Wiederholungen und Abwandlungen, Assonanzen und Alliterationen, reinen und unreinen Binnenreimen. Alles, was die Vernunft ins Irisieren bringt und ein Gegengift zur Sprache der "Reizdeutschen" bereitstellt. In Wortballungen wie "Strahlungsvollkost", "Metzgerhandy" oder "Herzkammerbowle" spiegeln sich unmittelbar die Zerreißproben unserer Gegenwart.

Die Sprache selbst wird zum Räumdienst in diesen teils traumlogischen Sprachbewegungen. In dem Titelgedicht "Dämonenräumdienst" etwa begeben wir uns mit dem lyrischen Ich von "Lärchenwäldern" und "Lärchenwelten" zu "Märchenwäldern" und "Hährchenwelten"; hüpfen beim Lesen mit den Lippen von "Wutnische" zu "Glutnische" und von "Schein"- und "Steinhirschen" zu "Blutkirschen". Am Ende solchen Dämonenräumens "knirscht" das lyrische Ich "heim" in die eigene "Märchenwelt", von der, wie es im Gedicht heißt, "kein Mensch erzählt". Man muss sie immer wieder teilen, die Welt und die Sprache, Teil aller Teile sein, und sie "zernuen".

********

ZUM WEITERLESEN

Marcel Beyer, Dämonenräumdienst. Gedichte, Berlin, Suhrkamp Verlag, 169 Seiten, 23 Euro.

Marcel Beyer, Sie nannten es Sprache, Berlin, Brueterich Press, 2016, 192 Seiten, 20 Euro.

Marcel Beyer, "Thomas Kling. Haltung", in Text und Kritik Nr. 147, Juli 2000, S. 70-78.
Stichwörter