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Bausubstanz und Stallcharakter

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
25.11.2019. Das neue Ausstellungshaus "Chaussee 36" in Berlin ist ausschließlich der Fotografie gewidmet. Dort sind zur Zeit Aktfotografien von Erwin Blumenfeld zu sehen, gegen die so einiges, das in der Gegenwart in dem Bereich passiert, ganz alt aussieht. Das Haus muss allerdings aus dem Feld der exquisiten, historisch gewachsenen Porträt- und Aktfotografie herauskommen, um in Berlin Akzente zu setzen.
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Im Rahmen der eher für Marketingunternehmen und Eventagenturen, weniger für die Fotografie als Gegenwartskunst relevanten "Photo Week Berlin" kam es Mitte Oktober in Berlin Mitte zu einer Neueröffnung. Die Galerie "Chaussee 36" hat sich bisher einen Namen mit exquisiten Arrangements im Ambiente eines geschmackvoll restaurierten Apartments gemacht, in denen es in Ausstellungen wie "Women on View" Highlights der Mode- und Aktfotografie von Horst P. Horst, Helmut Newton, Guy Bourdin, Jeanloup Sieff und Peter Lindbergh zu sehen gab - alles, was das Herz von tendenziell im Etablierten beheimateten Berliner Fotoliebhaber*innen begehrt.

Das Ganze wirkte ein bisschen wie eine mit Liebe zum Detail in Szene gesetzte Außenstelle von "Camera Work" und der "Helmut Newton Foundation", in der es im letzten Jahr etwa die großartige Ausstellung von Saul Leiters Nudes zu sehen gab, die in der öffentlichen Wahrnehmung im Vergleich zu Leiters Arbeiten für die Beauty-Industrie lange kaum existierten. (Kein Wunder also, dass Matthias Harder, der Kurator der Newton Foundation, das Vorwort zum Ausstellungskatalog von "Women on View" schrieb.)

Nach einer Pause von einem halben Jahr präsentiert sich "Chaussee 36" in neuem Gewand und mit ziemlich großen Ambitionen.

Aus einer Location wurden nach baulichen Maßnahmen drei.
Im Hinterhof gibt es einen großen, hohen, gläsernen Ausstellungsraum, ideal für Großformate. Im Untergeschoss nebenan wurden ehemalige Stallungen aufwändig renoviert, dabei die ursprüngliche Ziegel-Bausubstanz und der Stallcharakter erhalten. Im Nebengebäude gibt es mehrere Ausstellungsräume mit Berliner Altbauwohnungs-Charakter. Alles in allem beeindruckende räumliche Ressourcen, die dauerhaft zu bespielen man als nicht ganz leicht betrachten muss.

Abgerundet wird das ausschließlich von privater Seite auf die Beine gestellte und finanzierte Setting durch Luxusapartments im Vorderhaus, die zu gegebenen Anlässen gemietet werde können, sowie einem zur Straße gelegenen Café namens "Die Anstalt".

Erwin Blumefeld in den ehemaligen Stallungen




















Die Photo Week dürfte eher ein spontaner Anlass gewesen sein, das Ensemble erstmals einem größeren Publikum samt dazugehörigem Medienaufkommen vorzuführen - die Bautätigkeiten an der Galerie im Hinterhof waren noch im Gang, und auch die Eröffnungsausstellung war nicht erste Sahne: Olaf Heines "Saudade" ist ziemlich konventionell und dementsprechend langweilig. Über den Pressetext, der behauptet, Heine würde "nicht nur den Kurvenreichtum der Gebäude und der brasilianischen Frauen", sondern "ein faszinierendes Land in all seiner Vielfalt und Schönheit" zeigen, hüllen wir den einer solchen Eröffnung gebührenden, wohlwollenden Mantel des Schweigens.

Umso spektakulärer die Ausstellung in den ehemaligen Stallungen. Zum ersten Mal überhaupt gab es eine umfassende Ausstellung der Akte aus den dreißiger und vierziger Jahren von Erwin Blumenfeld - ein in seiner Symbiose von klassischer Schönheit und avantgardistischer Experimentierfreude immer noch Funken sprühendes Ouevre, gegen das so einiges, das in der Gegenwart in dem Bereich passiert, ganz alt aussieht.

Ob Blumenfeld, der ebenso wie Saul Leiter in der Modebranche sein Geld verdiente und damit bekannt wurde, Überblendungen einsetzt oder Mehrfachbelichtungen wie Man Ray, mit Schattenwürfen arbeitet oder mit Spiegelungen und Verzerrungen wie André Kertesz - das Ergebnis macht die Ausstellung zu einem Höhepunkt des Berliner Ausstellungsjahrs 2019. Schlicht ein Muss, das es noch bis 30. November zu besichtigen gibt.

Im Nebengebäude gibt es im selben Zeitraum anlässlich des dreißigjährigen Mauerfalls die Gruppenausstellung "Walls come tumbling down", in der nicht nur ikonische Berlin-Fotos wie die von Will McBride ausgestellt, sondern auch aktuelle, neue Positionen zum Thema "Mauern" gezeigt werden wie die Grenzaufnahmen von Fanny Duval aus dem Nahen Osten.

Copyright: Estate Blumenfeld, Howard Greenberg





























Wie wird es nun weitergehen mit "Chaussee 36"?

Erst mal ist wieder eine nicht zuletzt den sich in die Länge ziehenden Bauarbeiten (schließlich wir sind in Berlin, nicht in Peking) geschuldete Pause angesagt, die nächste Ausstellung wird nicht vor April über die Bühne gehen. Im Herbst nächsten Jahres wird es eine große Ausstellung zum Thema Erotik geben. Programmatisch hat es "Chaussee 36" auf den ersten Blick nicht leicht: Das Fundament der hauseigenen Sammlung und der Schwerpunkt bisheriger Ausstellungen deckt sich sehr mit einem Segment, das in Berlin bisher schon bestens abgedeckt war: exquisite, historisch gewachsene Porträt- und Aktfotografie aus dem Umfeld der Beauty- und Fashion-Industrie. Das bietet hinsichtlich Kommunikation und Geschäft zweifellos Vorteile, birgt aber die Gefahr der Austauschbarkeit.

Alice Le Campion, der agilen Kuratorin von Chaussee 36, ist das durchaus bewusst, weshalb es vielleicht in der kommenden Erotik-Ausstellung Positionen wie die von Antoine d'Agata geben wird - eine schmerzhafte, künstlerisch kompromisslose Vehemenz, wie sie im gängigen Berliner High End-Betrieb sonst kaum zu finden ist.

Weitere zukünftige Schwerpunkte lauten "Europa" oder "Gender Equality". Das Nebengebäude böte dazu die Gelegenheit, den Nachwuchs zu präsentieren oder auch Ausstellungen zu außergewöhnlichen Buchprojekten zu realisieren, wie etwa das aktuell auf der Paris Photo zu Recht abgefeierte "Coast" von Sohrab Hura oder das mit dem Prix Nadar ausgezeichnete "So it goes" von Miho Kajioka.

Ein wichtiges Anliegen ist Le Campion außerdem eine Plattform, auf der über Fotografie und Kunst der Gegenwart intensiv und gegenwartsbezogen diskutiert wird - ein Vorhaben, an dem (nicht nur) in Berlin schon viele gescheitert sind, nicht zuletzt "C/O Berlin".

Wie auch immer: Man darf gespannt sein, ob und wie es "Chaussee 36" gelingt, (nicht nur) in der Berliner Foto-Szene eine unverwechselbare Handschrift zu entwickeln.

Peter Truschner

truschner.fotolot@perlentaucher.de