9punkt - Die Debattenrundschau

Dieses systematische Element

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.06.2023. Ein Regime, das Demokratie nach innen zerstört, wird auch nach außen gefährlich: Oleksandra Matwijtschuk benennt in der SZ das Versagen einer "realistischen" Außenpolitik, die Menschenrechte als nebensächlich ansieht. In der FR spricht die Strafrechtlerin Julia Geneuss über die Frage, wie sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen dingfest gemacht werden kann. Ferda Atamans Forderung nach Diversität in Unternehmen verstößt auf krasse Weise gegen Datenschutz- und Persönlichkeitsrechtsgesetze, schreibt der Anwalt Emrah Erken auf Twitter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.06.2023 finden Sie hier

Europa

"Viele Deutsche … dachten, weil sie Frieden und Handel wollten, wolle Russland ebenfalls Frieden und Handel. Sie dachten dies sogar noch nach 2014 (oder taten so, als ob sie dies dachten) - da war aber bereits klar, was Russland wollte: Krieg und Handel", schreibt in der SZ Oleksandra Matwijtschuk, Direktorin des mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Center for Civil Liberties in Kiew: Allzulange, so kritisiert sie deutsche und EU-Politik gegenüber Russland, dominierte geotrategischer "Realismus" das Verhältnis. Aber ein Land, das die Menschenrechte nach innen zerstört, wird auch nach außen gefährlich. Für den Zynismus deutscher und europäische Politiker, die wegschauten, zahlt die Ukraine nun den Preis: "Was ist zu tun? Zuallererst muss man verstehen, dass die Attacken auf die Demokratie in so vielen Ländern unsere Welt gefährlicher machen. Die Unterstützung der Demokratie ist folglich eine realistische Methode, die Welt sicherer zu machen. Ein Staat, der seine Journalisten umbringt, seine Medien kontrolliert und Aktivisten einsperrt, stellt nicht nur für seine eigenen Bürger eine Bedrohung dar. Viele solcher Staaten bedeuten eine Bedrohung für ihre Region und den Frieden in der Welt."

Wäre weniger über Banalitäten diskutiert worden, wären wir vielleicht nicht in einen europäischen Landkrieg gestolpert, schreibt Nils Minkmar, der im Feuilleton der SZ unter anderem eine Überprüfung verschiedener Aspekte des Mediengeschäfts fordert: "Etwa dieser fatale Hang zur Personalisierung aller Themen. Unendlich viele Fernsehstunden wurden über den russischen Präsidenten produziert, ohne dass die von ihm ausgehende Gefahr in ihrer ganzen Dimension erkannt worden wäre. Hätte eine abstrakte Betrachtung der Spannung zwischen dem elenden Lebensstandard in den nichteuropäischen Teilen Russlands und dem obszönen Reichtum der Oligarchen vielleicht eher darauf hingewiesen, dass interne Spannungen durch externe Militärabenteuer gelöst werden könnten? "

Im FR-Interview mit Tatjana Coerschulte spricht die Strafrechtlerin Julia Geneuss darüber, wie Vergewaltigungen im Krieg als Mittel der ethnischen Säuberung eingesetzt und Kindersoldaten bereits zu Tätern ausgebildet werden und wie schwierig es ist, sexualisierte Gewalt nach dem Völkerstrafrecht zu ahnden. Es gibt "eine beweisrechtliche Hürde: Man muss ein systematisches Element beweisen können. Wenn man in der Hierarchie weiter nach oben gehen will, zu den höhergestellten Befehlshabern, muss man nachweisen können, dass es nicht einzelne Täter waren, die einen sexuellen Übergriff begangen haben, sondern dass es dieses systematische Element dahinter gibt. Das ist im Bereich der sexualisierten Gewalt noch einmal schwieriger nachzuweisen als bei anderen Verbrechen."

Die Sozialdemokraten "sind eine genauso verkommene, zynische Partei geworden wie alle anderen. Sie haben geglaubt, wenn man den Boulevard kauft, gewinnt man Wähler", sagt Robert Menasse, der im Tsp-Gespräch erklärt, weshalb er sich nun trotzdem wieder in der SPÖ engagiert: "Österreich braucht eine starke Sozialdemokratie, sonst haben wir nur das Verhängnis: auf der einen Seite eine Partei wie die ÖVP, bei der immer deutlicher wird, dass sie in der Tradition des Austrofaschismus steht, auf der anderen Seite die FPÖ, die Nachfolgepartei der Nationalsozialisten ist. Und beide beginnen, einander jetzt zu lieben. Ich möchte zur neuen Dynamik, die die Sozialdemokratie erfasst hat, etwas beitragen." Er hofft außerdem: Wenn der FPÖ-Vorsitzende Herbert Kickl "in Österreich Kanzler werden sollte, wenn die Christdemokraten diesem Liebhaber von Polizeipferden den Steigbügel machen sollten, dann wird es in Österreich Widerspruch, Widerstand, Kritik, Demonstrationen geben, wie es sie in diesem Land noch nie gegeben hat."
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Gesellschaft

Ferda Ataman ist "Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung". Als solche ruft sie Unternehmen auf, "diverser" zu werden und womöglich nach Bevölkerungsgruppen zu "quotieren". Emrah Erken, ein Schweizer Rechtsanwalt, buchstabiert Atamans Forderung in einem langen Tweet aus und kommt zu dem Ergebnis, dass sie im Schweizer, aber natürlich auch im deutschen Recht krasse Verstöße gegen Datenschutz und Persönlichkeitsrechte impliziert: "Damit ein Schweizer Arbeitgeber - so wie von Ataman hier für Deutschland gefordert hat - derartige Bestandsaufnahmen machen kann, bräuchte es die entsprechende Frage gegenüber dem Arbeitnehmer. Logischerweise würde diese bereits beim Jobinterview oder beim Eintrittsgespräch gestellt werden. Die entsprechende Frage ist allerdings rechtswidrig. So wie der Arbeitgeber gegenüber einer Kandidatin die Fragen 'Sind Sie schwanger?' oder 'Haben Sie vor, Kinder zu bekommen?' nicht stellen darf, darf er selbstverständlich die Fragen 'Sind Sie schwul?', 'Haben Sie eine Transidentität?' oder 'Was ist Ihre sexuelle Orientierung?' nicht stellen." Auch in Deutschland seien solche Fragen unzulässig, "aufgrund des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Mit anderen Worten fordert die Antidiskriminierungsbeauftragte der deutschen Bundesregierung die Verletzung dieses Gesetzes".
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Urheberrecht

Das Verfahren des Kraftwerk-Gründers Ralf Hütter gegen den Rapper Moses Pelham, das seit 1998 läuft, ist immer noch nicht zu Ende. Hütter hatte geklagt, weil Pelham einen zweisekündigen Einfall von ihm in einem Song für Sabrina Setlur wiederverwendet hatte. Wolfgang Janisch resümiert für die SZ die unendliche Geschichte, die durch EU-Recht einen neuen Dreh bekommt: "Seit Juni 2021 gilt nun eine neue Vorschrift. Nach Paragraf 51a Urhebergesetz darf man ein Kunstwerk 'zum Zweck der Karikatur, der Parodie und des Pastiches' nutzen. Pastiche, das ist ursprünglich eine stilistische Nachahmung - Schreiben wie Thomas Mann, Malen wie Picasso. Gemeint ist aber wohl auch die Übernahme fremder Werkteile. Jedenfalls ist das Pastiche völliges Neuland für die BGH-Juristen, sie werden dies nun in Phase drei des Verfahrens klären. Das Urteil folgt am 14. September, man hat ja Zeit."
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