9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Gesellschaft

2046 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 205

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.03.2023 - Gesellschaft

In einem Punkt hat Dirk Oschmann mit seinem Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" auf jeden Fall recht, meint der Historiker Rainer Eckert in der Berliner Zeitung: "unser Land braucht eine gleichmäßige Verteilung der Herkunft seiner Eliten, Ostdeutsche sind nicht zweitklassig". Aber Klagen hilft nicht weiter, Eckert ermuntert statt dessen zu einem offensiveren Umgang mit der Ostherkunft: "Nie habe ich verschwiegen, Ostdeutscher zu sein, und nie hatte ich dadurch Nachteile. Ganz im Gegenteil erwies es sich für einen Historiker und Politikwissenschaftler als Vorteil, in zwei Gesellschaftssystemen gelebt zu haben - man musste daraus aber die richtigen Schlüsse ziehen. Selbstmitleid und Klagen über das Verlorene waren nicht hilfreich, sondern es ging darum, den westlichen wissenschaftlichen Diskurs zu verstehen, mitzugestalten und eigene Ideen einzubringen. Wichtig war es für mich, auf andere Menschen offen zuzugehen und auch Konflikte zu bestehen."

Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach bereitet für die FAZ die jüngste Umfrage zur Einwanderung in Deutschland auf. Was sie gelernt hat, ist, dass "sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die Kapazitäten für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgeschöpft sind". Das verändert auch die Einstellung zum Asylrecht: "Die Bevölkerung stand mehrheitlich hinter dem Asylrecht, auch nach 2015. Noch 2017 hielten es 52 Prozent für richtig, dass Deutschland Flüchtlingen, die in ihrer Heimat verfolgt werden, Asyl gewährt, 39 Prozent forderten eine Einschränkung. Seither ist die Unterstützung jedoch erodiert: Aktuell unterstützen nur noch 39 Prozent das geltende Asylrecht, 49 Prozent fordern Einschränkungen. ... Qualifikation, Integrationsfähigkeit und eine an diesen Kriterien orientierte Zuwanderungspolitik sind die Schlüssel zur Akzeptanz von Zuwanderung. Die Mehrheit zieht zwar eine negative Bilanz der bisherigen Zuwanderung, unterstützt aber Regelungen, die qualifizierte Zuwanderung fördern."

Erst die Rechtschreibreform und nun noch Gendern, kein Wunder, dass die Schreibkultur in diesem Land vor die Hunde geht, stöhnt Dankwart Guratzsch in der Welt und zitiert zustimmend den Vorsitzenden des Rats für deutsche Rechtschreibung, Josef Lange: "Für ein Land, in dem 12 Prozent der über 18-jährigen Deutschsprechenden nicht in der Lage sind, auch nur einfache Texte zu lesen und zu schreiben, ein Drittel der zehnjährigen Schüler nicht den orthographischen Mindeststandard erreicht (in Berlin 45 Prozent), und 20 Prozent der Migranten keinen Schulabschluss haben - für ein solches Land müsse das Erlernen der Sprache Priorität haben, nicht dessen Erschwerung. Das 'Grundrecht auf Verständlichkeit' dürfe nicht verletzt werden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.03.2023 - Gesellschaft

Das Demokratiefördergesetz soll einige "zivilgesellschaftliche" Akteure auf Dauer auf Staatsfinanzierung stellen, ohne dass sie alle drei Jahre mit einer störenden Evaluation rechnen müssen - die "Zivilgesellschaft" wird dadurch sozusagen verbeamtet. Wer sich dagegen stellt, wie jetzt in der Ampelkoalition die FDP, muss sich von taz-Autor Aziz Bozkurt vorwerfen lassen, dass er dem Rechtsextremismus in die Hände arbeitet: "In Zeiten, da Reichsbürger Umstürze planen, Bundeswehr wie Polizei immer wieder Skandale um rechtsgerichtete Demokratiefeinde entfachen, in manchen Regionen im Osten der Republik rechte Parteien mit Fake News Oberwasser erlangen, ist es höchste Zeit, den Initiativen die notwendige Wertschätzung entgegenzubringen."
Stichwörter: Demokratiefördergesetz

9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.03.2023 - Gesellschaft

Der neue Klimareport ist raus und alle klagen. Dabei hat Deutschland seine CO₂-Ziele übererfüllt. Auf Spon versteht Nikolaus Blome die Welt nicht mehr. "Niemand Ernstzunehmendes leugnet den Klimawandel, aber zählt nicht erst einmal, wie viel CO₂ insgesamt ausgestoßen wird? Oder ist CO₂ immer dann schlimmer, wenn und weil es aus dem Verantwortungsbereich eines FDP-Ministers stammt? Kurzum: Mir ist der Eifer nicht geheuer, mit dem die Zahlen in eine vollumfängliche Versagenserzählung gepresst wurden." Selbst die Einsparungen der Industrie würden runtergeredet, seien sie doch nur kriegsbedingt: "An dieser Stelle habe ich mich gefragt, was die Klimaschützer und ihre politmedialen Milieus eigentlich wollen: Es war doch die ganze Idee, CO₂-überproduzierendes Verhalten aus dem Markt zu preisen, sei es durch höhere Steuern, Abgaben oder die Verteuerung der Emissionsrechte. Nun hat es der Krieg gefügt, und die Preise werden trotz aller Bremsen auch darüber hinaus viel höher als früher bleiben. Vergleichbares hätte die neue Bundesregierung niemals geschafft". Man könne das Glas aus motivationstechnischen Gründen ja auch mal halb voll, statt halb leer nennen, findet Blome.

In Berlin findet am Sonntag der Volksentscheid "Berlin 2030 Klimaneutral" statt, in dem der Stadt gar nicht einzuhaltende "Klimaschutzverpflichtungen" abverlangt werden. Sollte das Vorhaben durchkommen, ist das vor allem eine Niederlage der Demokratie, meint Bernd Rheinberg bei den Salonkolumnisten: "Der Demos hat sich einer 'Weisheit' der Wenigen unterzuordnen. Denn der Demos habe seine Rechte verwirkt, weil er in einer Ansammlung egoistischer 'Partikularinteressen' Ressourcen rücksichtslos verbraucht und emittiert hat. Aus berechtigter ökologischer Kritik glauben nun Aktivisten das Recht ziehen zu können, ohne angemessene demokratische Legitimation, nämlich aus Minderheitsvolksentscheiden und wie auch immer genannten 'Räten' und Aktionen, eine sogenannte 'fortschrittliche' Politik zu installieren, die unser Fundament aus Verfassung inklusive Grundsätzen, Werten und geschützten Freiheiten unterminiert."
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9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.03.2023 - Gesellschaft

In der taz bringt Lea Fiehler eine erstaunliche Meldung. Die brandenburgische Initiative "Opferperspektive", die rassistische Gewalt im Land beobachtet, veröffentlicht eine Statistik, nach der die Zahlen rassistischer Straftaten gesunken seien und kritisiert die Polizei, die von höheren Zahlen berichtete - ungewöhnlich für eine Organisation, die an möglichst dramatischen Zahlen interessiert sein dürfte. Hintergrund ist ein Streit darüber, welche Taten als "rassistisch" einzustufen sind. Die Polizei bezieht sich nämlich auf das "PMK-Erfassungssystem" (Politisch motivierte Kriminalität), wo neuerdings auch "Deutschfeindlichkeit" neben "Fremdenfeindlichkeit" als Unterkategorie im Themenfeld "Hasskriminalität" eingeführt wurde. Das stört Anne Brügmann von "Opferperspektive": Taten, welche "dieser Logik zufolge nur deshalb fremdenfeindlich seien, weil Täter und Opfer unterschiedliche Nationalitäten haben, würden als rassistische Straftaten gewertet. 'Das hat die Statistik der Polizei nach oben getrieben', sagt Brügmann. … Von einem Rassismus gegen Deutsche zu sprechen, so Brügmann, das verkenne das Grundprinzip von Rassismus, der stets auf ungleichen Machtstrukturen beruht."

Im Interview mit hpd spricht die deutsch-iranische Schriftstellerin Noshin Shahrokhi über die Aufstände im Iran, den sie vor 36 Jahren verlassen musste, und ihren neuen Roman "So leicht kommst du nicht ins Paradies", der den Hintergrund für die Wut vieler Muslime auf Frauen aber auch für Anschläge wie den auf Salman Rushdie thematisiert: "Es ist mir wichtig, dass die Deutschen die kulturellen Hintergründe verstehen, warum bestimmte Menschen, ohne sein Buch gelesen zu haben, denken, dass sie verpflichtet sind, ihn zu vernichten. Wenn man versteht, findet man einen Weg. Aber wenn einem die Kultur und diese Taten fremd sind, kann man auch keine Lösung finden. Ich finde, viele Wege zur Integration in Deutschland sind nicht richtig. Viele Mädchen werden in den muslimischen Familien allein gelassen. Das Kindeswohl, über das man so viel spricht, gilt nicht für diese Mädchen, weil Religion als Privatsache angesehen wird. Wenn diese Religion aber so fundamentalistisch ausgeübt wird, dass Kinder darunter leiden, muss ihnen geholfen werden, und es ist keine Toleranz, sondern Ignoranz, zu sagen, das sei Sache der Familie.

Wenig bekannt ist die Geschichte von Säuglingsheimen, die sowohl in der DDR als auch in Westdeutschland in den Fünfzigern und Sechzigern boomten und in denen sich die Moralvorstellungen der Zeit grauenhaft ausprägten. Überlebende können nicht berichten, weil sie sich schlicht nicht erinnern können, schreibt der Historiker Felix Berth, der zum Thema forscht, in der FAZ. Meist richteten sich die Institutionen gegen alleinstehende Mütter: "Diese Frauen waren gezwungen zu arbeiten, hatten aber kein Netzwerk aus Großeltern oder Freunden, das ihnen bei der Kinderbetreuung geholfen hätte. Meist waren sie schlecht oder überhaupt nicht ausgebildet, waren häufig chronisch krank, und zumindest in Westdeutschland wurde ein Teil von ihnen in den Akten der Behörden als Prostituierte geführt. Das Säuglingsheim galt den Ämtern damals noch als Lösung dieser Probleme, weil Kinder dort alles erhielten, was man als wichtig ansah: ausreichend Nahrung, saubere Windeln und eine von Hygieneprinzipien geprägte Pflege durch rigides Personal, das man für professionell hielt."

Den Arbeitskräftemangel könnten wir ausgleichen, wenn mehr Frauen weniger Teilzeit und mehr Rentner arbeiten würden. Viele wollen auch, meint der Zukunftsforscher Daniel Dettling in der Welt, man muss sie nur lassen, und vor allem ersteren brauchen Unterstützung. Und nicht nur vom Staat, meint Dettling Richtung Arbeitgeber. "Von den 58.500 Kitas in Deutschland sind nur etwas mehr als ein Prozent Betriebskitas. Mehr Kitas in den Unternehmen hätten einen doppelten Effekt: zufriedene Beschäftigte und mehr Babys. Mehr Geschlechter- und Generationengerechtigkeit sind die Bedingungen für eine moderne Arbeitsgesellschaft. Hohe Teilzeitquoten von Frauen und Müttern und geringe Erwerbsquoten von Älteren sind Relikte einer Arbeitsgesellschaft, die demografisch auf Kosten der Zukunft gelebt hat. Tragen wir diese alte Arbeitsgesellschaft endlich zu Grabe."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.03.2023 - Gesellschaft

Im NZZ-Gespräch mit David Signer befürchtet der Soziologe Nicolas Langlitz, dass die zunehmende dominante "Opferkultur" an Universitäten die Wissenschaftsfreihheit bedrohe: Viele amerikanische Hochschulen haben "Microaggression Policies erlassen, die Studierende dafür sensibilisieren, Mikroaggressionen zu erkennen und zu ahnden. Das produziert Rückkoppelungseffekte: Studierende lernen, wachsamer zu werden und ihr Umfeld ständig auf Mikroaggressionen zu überprüfen. Der Gesundheitsdienst meiner Universität nennt als Beispiele für solch inakzeptables Verhalten Kurse, in denen primär weiße Autoren gelesen werden, zu schmale Stühle, auf denen beleibtere Menschen nicht bequem sitzen können, Studierende, die andere nicht nach ihren Geschlechtspronomen fragen, Professoren, deren Identität nicht das Identitätsspektrum der Studierenden abbildet. Mit dem Konzept der Mikroaggression sollen die Hochschulen umgestaltet werden."
Stichwörter: Langlitz, Nicolas, Opferrolle

9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.03.2023 - Gesellschaft

In San Francisco und New York hat die Ansiedlung der Digitalkonzerne bereits zu urbanen Katastrophen geführt, München wird noch weniger Widerstandskraft gegen die Invasion der Techies aufbringen, fürchtet Andrian Kreye in der SZ: "In New York konnte man das in den Nullerjahren gut beobachten. Da landeten die Start-ups und Techkonzerne entlang der Silicon Alley, wie sie den Broadway südlich der 23. Straße nannten, wie Sternenkreuzer und saugten links und rechts alles Leben (Normalverdiener, Bühnen, Buch- und Plattenläden) auf, um dann Filialen von Khakihosen-, Designerbrillen- und Coffeeshopketten auszuspucken, in denen die Techies stumm auf ihre Schirme starrten und nebenbei die Mieten hochtrieben. New York ist nicht die einzige Stadt, die das schon hinter sich hat. Seattle, Austin und Boston sind inzwischen solche Hochburgen der digitalen Welt. Ausgewählte Platten und Bücher kann man dann beim Klamottendiscounter Urban Outfitters kaufen, dem Evil Empire der 'Fauxhemia'- und 'Zombie Urbanism'-Phänomene."

In der Welt knöpft sich Peter Huth jene Staranwälte vor, die gern Angeklagte der Organisierten Kriminaltität verteidigen, ohne zu fragen woher das Geld ihrer Mandanten stammt. Warum fallen sie nicht wie andere Berufe auch unter Geldwäsche-Regelungen? "Viele dieser Kanzleien findet man in den besten Lagen der Städte, in der Hauptstadt beispielsweise sehr gerne im Bereich um den feinen Kurfürstendamm. Die Anwälte selbst trifft man auf Vernissagen, Charity-Events oder bei der Berlinale-Eröffnung, sie schlendern sicher über das gesellschaftliche Parkett, parlieren mit Politik und Wirtschaft und sind vor allem: hervorragend ausgebildet. Sie zählen ohne Zweifel zu den besten ihres Fachs. Kurz - sie kennen alle Tricks und haben keine Skrupel, sie anzuwenden. Mein Lieblingsbeispiel ist nach wie vor ein presserechtlicher Prozess, der gegen die Berliner B.Z. angestrengt wurde, deren Chefredakteur ich war. Es ging darum, dass wir einen Zuhälter eben als Zuhälter bezeichnet hatten. Das Verfahren ging für uns verloren. Die Anwältin des Clanmitglieds konnte das Gericht davon überzeugen, dass ihr Klient keineswegs als 'Zuhälter' bezeichnet werden dürfe, sondern lediglich als jemand, der Berliner Bürgersteige an Prostituierte vermiete. Dass das Gericht dieser Einlassung folgte, bleibt hier unkommentiert."
Stichwörter: Staranwälte, Technokratie

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.03.2023 - Gesellschaft

Am Montag hatte die grüne EU-Parlamentarierin Hannah Neumann in der Welt davor gewarnt, dass der Freiheitskampf der Iranerinnen im Westen teils missbraucht werde, "um überholte anti-muslimische und anti-feministische Ressentiments zu schüren", so Neumann, die kein Problem hat, die Protestierenden im Iran mit den Kopftuchbefürworterinnen im Westen gleichzusetzen. "Wer seine Leidenschaft für Frauenrechte und Gleichberechtigung nur beim Thema Kopftuch entdeckt oder wenn es (scheinbar) gegen den Islam geht, der lebt aber einfach nur seine Islamophobie - und, ja, auch seine patriarchalen Fantasien - aus: Es wird sich ein Weltbild zurechtgeruckelt, in dem böse muslimische Männer ohnmächtige Frauen unterdrücken, die der weiße Mann dann befreien muss. Doch das verkennt völlig die Lage. Denn es sind die Frauen im Iran und aus der Diaspora, die die Proteste anführen. Und sie kämpfen dafür, dass keine Religion und kein Mann ihnen mehr sagt, wie sie sich zu kleiden haben. Sie wollen selbst entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen - oder eben nicht. Und genau das wollen Frauen hierzulande auch."

Darauf antwortet heute Frederik Schindler, ebenfalls in der Welt: Neumann blende aus, "dass auch das gegensätzliche Phänomen stark verbreitet ist. Kritikwürdig sind nämlich auch diejenigen, die ihre Leidenschaft für Gleichberechtigung plötzlich ausblenden, wenn es um Islam und Islamismus geht. Die zwar - zu Recht - weiterhin vorhandenen Sexismus, Frauenhass und häusliche Gewalt im Westen skandalisieren, aber zum Kopftuchzwang und der Geschlechtertrennung im Iran, zum Schulverbot für Mädchen in Afghanistan, dem Jungfrauenwahn in vielen konservativ-muslimischen Familien oder Zwangsverheiratungen, Morden im Namen der 'Ehre' und Genitalverstümmelungen in Deutschland plötzlich nichts mehr zu sagen haben. Genau das ist antimuslimisch und antifeministisch, weil Mädchen und Frauen, die von solcher häufig islamisch begründeten Gewalt betroffen sind, durch dieses Schweigen im Stich gelassen werden."

Im taz-Interview mit der Sozialwissenschaftlerin Jennifer Eckhardt erfährt man, dass eine erstaunlich große Anzahl von Menschen in Deutschland keine staatliche Hilfe beantragen, obwohl sie einen Anspruch darauf hätten. Eckhardt macht dafür hauptsächlich die "Zumutungen" der Ämter verantwortlich: "Eine Person hat mir erzählt, dass sie im Jobcenter als Missgeburt bezeichnet worden sei, als zu alt, als zu kaputt für den Arbeitsmarkt. Einer anderen Person, einem gelernten Feinmechaniker, sei gesagt worden, er habe nichts gelernt, er sei zu alt. Er hat eine schwere Depression und das auf seinen Kontakt mit dem Jobcenter zurückgeführt. Diese Menschen haben durch den Verzicht der Zumutung ein Ende gesetzt und sich ihrer eigenen Menschenwürde wieder versichert." Solche Einzelfälle erklären aber wohl kaum, dass rund 40 Prozent der Anspruchsberechtigten allein auf das ihnen zustehende Arbeitslosengeld II verzichten.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.03.2023 - Gesellschaft

Überraschende Fürsprache bekommen die Aktionen der "Letzten Generation" von dem Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich im Tagesspiegel, der es für völlig "absurd" hält, den Aktivisten zu unterstellen, sie hätten etwas gegen Kunst oder gegen das Grundgesetz. "Wann gab es das schon mal, dass etwas beschmutzt wurde, nicht um es zu desavouieren, sondern um damit stellvertretend-symbolisch vor einem viel größeren Unheil zu warnen? Das, was man bewahren will, kontaminiert man mit dem Ziel, Verlustängste zu erzeugen, um auf diese Weise Kräfte zu mobilisieren, mit denen sich den Bedrohungen etwas entgegensetzen lässt. Die Aktionen der Letzten Generation entspringen somit einem im wörtlichen Sinne konservativen Geist. Sie sind das Gegenteil einer revolutionären Bilderstürmerei."

Anders als Ullrich sieht das der Rechtsphilosoph Uwe Volkmann, der den Klimaaktivisten in der FAZ nicht nur "schwer erträgliche Selbstgerechtigkeit" sondern auch unmoralisches Verhalten vorwirft, etwa mit Blick auf die "politische Gleichheit, auf deren wechselseitiger Anerkennung gerade die Demokratie überhaupt erst basiert. Gleichheit in diesem Sinne bedeutet, dass wir allen das gleiche Vermögen, politische Fragen zu beurteilen, zuerkennen, das wir uns selbst zuschreiben. Wer sich über die für alle geltenden Regeln hinwegsetzt, weil er sich dazu berufen sieht, setzt sich damit auch über das demokratische Gleichheitsversprechen hinweg: Man erhebt sich über die anderen und maßt sich ihnen gegenüber eine privilegierte Entscheidungsbefugnis in diesen Fragen an. Das wird man auch dann als ein Problem ansehen können, wenn man für die eigene Entscheidung tiefethische Motive, von der Verteidigung der Humanität bis hin zur Rettung der ganzen Welt, anführen kann."

Zum 175. Jahrestag der 1848er-Revolution ist von den Kulturprojekten Berlin unter anderem auch eine Barrikade an einem der Originalschauplätze, der Kreuzung Friedrichstraße/Jägerstraße geplant. Genial, meint Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung, denn: "ganz nebenbei zeigen die politischen Schwergewichte den vergleichsweise subtil vorgehenden Mitgliedern der Letzten Generation und ihren über alle verbalen Stränge schlagenden Widersachern, wo der Hammer hängt. Eure Sitz- und Sekundenkleberblockaden sind Kindergarten angesichts der revolutionären Wucht, mit der vor 175 Jahren gekämpft wurde. Ihr macht Glasscheiben vor Kunstwerken oder die Gesetzestafeln am Kanzleramt schmutzig, wo die, auf deren Barrikaden wir unsere Gesellschaftsordnung gebaut haben, alles in Scherben gelegt haben. Die anheizende Lektion dieses Reenactments lautet also: Weiter voran, und traut euch mal was, ihr Westentaschenrevolutionäre und Wochenenddemokraten! Aber auch: Habt euch nicht so, wenn ihr mal ein bisschen belästigt werdet, ihr Neobiedermeierluschen!"

Auf 54Books kritisiert Simon Sahner indes eine Radikalisierung der medialen und politischen Kritik an den Klimaaktivisten: "Mit Terrorist*innen wird nicht verhandelt und mit Extremist*innen auch nicht. Wenn man also Menschen mit diskutierbaren Forderungen zu Terrorgruppen und extremistischen Organisationen erklärt, schließt man sie damit aus dem offiziellen Diskurs aus und muss sich zumindest auf einer Sachebene auch nicht mehr mit ihnen auseinandersetzen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.03.2023 - Gesellschaft

Aktivisten der "Letzten Generation" haben in Berlin ein Denkmal für die Grundrechte in unmittelbarer Nähe des Bundestags mit Erdöl beschmiert. Ganz Twitter befindet sich in heller Aufregung. Dieses Video zeigt die Aktion:


Angelika Slavik ärgert sich in der SZ über die Aktion: "Hinter vielen Provokationen, die man bei den Aktionen der Klimaaktivisten kritisch sehen kann, steht eine wachsende Bereitschaft zum intellektuellen und kulturellen Verfall. Blockierte Straßen können ärgerlich sein, aber zumindest mit Blick auf das Protestziel begründet werden. Die Beschmutzung von Kunstwerken und Denkmälern ist hingegen nur dümmlich. Ein tieferes Ziel ist nicht zu erkennen. Demonstriert wird Verachtung."
Stichwörter: Letzte Generation

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.03.2023 - Gesellschaft

Der Sozialwissenschaftler David Begrich betreibt im Gespräch mit Doreen Reinhard von Zeit online eine Art Archäologie des in den Neuen Ländern populären "Pazifismus", der mit Putin-Liebe und rechtspopulistischen Tendenzen kein Problem hat und etwa von dem populären Influencer Uwe Steimle verfochten wird: "Frieden war das zentrale Schlüsselwort der DDR-Propaganda. Aber diese Friedensideologie ging einher mit einer massiven gesellschaftlichen Militarisierung. Das begegnete einem im DDR-Alltag überall. Schüler ab der neunten Klasse mussten Wehrausbildungen durchlaufen. Es war sehr erwünscht, sich als Jugendlicher für drei Jahre in der Armee zu verpflichten, sonst wäre es schwierig geworden, Zugänge zum Abitur zu bekommen. Eine übergroße Mehrheit hat sich dem angepasst, aus welchen Gründen auch immer."
Stichwörter: Pazifismus