9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Gesellschaft

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2024 - Gesellschaft

In der Welt ist Arnd Diringer einigermaßen fassungslos, welche Rechte das neue Selbstbestimmungsgesetz Eltern über ihre Kinder gibt: "Bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres können Eltern jetzt deren offizielles Geschlecht willkürlich festlegen. Wenn beispielsweise ein Paar sechs Monate nach der Geburt ihres Kindes feststellt, dass es lieber einen Andreas als eine Andrea großziehen will, genügt dafür ein Gang zum Standesamt. Eltern sind dabei gesetzlich nicht verpflichtet, das Kindeswohl zu achten. Eine Überprüfung durch ein Gericht oder eine Behörde erfolgt nicht. ... Um das Kind wird, wie es Rechtsanwalt Udo Vetter auf seinem mit dem Grimme Online Award ausgezeichneten Law Blog formuliert hat, dann 'ein Kordon des pflichtgemäßen Schweigens' errichtet. Großeltern, Kindergärtner und andere dürfen das tatsächliche Geschlecht des Kindes grundsätzlich nicht offenbaren. Machen sie es, drohen Bußgelder bis zu 10.000 Euro, Berufsträgern zudem arbeits- bzw. dienstrechtliche Konsequenzen."

Ein Gericht hat eine Verurteilung Harvey Weinsteins wegen Vergewaltigung aus juristischen Gründen aufgehoben. In der FAZ macht sich Claudius Seidl deshalb keine Sorgen: "Dass die alten, bösen Machtverhältnisse restauriert würden, muss trotzdem keiner befürchten. Juristische und moralische Urteile unterscheiden sich manchmal - und das moralische Urteil gegen Männer wie Weinstein wird durch die New Yorker Entscheidung nicht aufgehoben."

Naja, dieses ganze #metoo-Gedöns ging ja auch wirlich zu weit, nicht wahr, meint eine sarkastische Marina Hyde im Guardian: "Als sie die Nachricht hörten, dass Weinsteins Verurteilung am Donnerstag aufgehoben worden war, schaute eine ganze Reihe von Reportern zufällig auf genau die Stelle in dem New Yorker Gerichtssaal, in dem er gesessen hatte, als das ursprüngliche Urteil verkündet worden war. Das lag daran, dass sie ebendort auf die Verhandlung Donald Trumps in seinem Schweigegeldprozess warteten. Wie Sie sich vielleicht erinnern, steckt Donald Trump in so großen Schwierigkeiten, dass er der Kandidat der Republikaner und derzeitige Favorit der Buchmacher für die US-Präsidentschaftswahlen ist, obwohl er zugegebenermaßen hinter Weinstein, was sexuelle Übergriffe angeht, zurückbleibt: Nur 26 Frauen haben Trump beschuldigt. Letztendlich stellt sich aber wohl die Frage: Wenn #MeToo 'zu weit ging', wie hätte dann 'gerade weit genug gehen' ausgesehen?"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.04.2024 - Gesellschaft

Auf den Seiten der Friedrich-Naumann-Stiftung erzählt die deutsch-israelische Journalistin Sarah Cohen-Fantl, warum sie mit ihrer Familie nach Israel zurückzieht. Sicher, in Israel ist im Moment Krieg. Aber ist Deutschland sicher? "Zur ganzen Wahrheit gehört, dass ich auch in Berlin Angst habe. ... Im Grunde ist dieser Judenhass natürlich nichts Neues. Schon bei unserem Umzug vor zwei Jahren, war ich skeptisch, wie sicher es gerade für meinen Mann, der kein Deutsch spricht, in Berlin sein würde. Doch der Hamas-Überfall am 7.Oktober und seine Folgen, die von Hetzpropaganda und Lügen bis hin zu antizionistischen Parolen und einem extremen Anstieg in antisemitischen Übergriffen reichen, haben es uns unmöglich gemacht, hier weiterhin eine Zukunft zu sehen und aufbauen zu wollen."

In der Welt überlegt der Rechtsprofessor Kai Möller durchaus abwägend, weshalb dem Bundesverfassungsgericht zu raten wäre, der von einer Expertenkommission vorgeschlagenen Liberalisierung des Abtreibungsrechts (Unsere Resümees) zu folgen. Zwar sei es aus moralischer Sicht "gut vertretbar, gegen Abtreibung zu sein. Aber als verfassungsrechtliche Vorgabe ist diese Haltung verfehlt, denn sie erklärt die politischen Überzeugungen aller derjenigen, die aus guten, rechtfertigbaren Gründen für die Legalisierung der Abtreibung eintreten, für illegitim. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts haben in ihren Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch ihre eigenen moralischen Präferenzen dem ganzen Land aufgezwungen. Dadurch haben sie über Jahrzehnte hinweg die vielen Millionen Deutschen und ihre Repräsentanten im Bundestag, die aus vernünftigen, rechtfertigbaren Gründen eine andere Meinung hatten, um ihr demokratisches Recht gebracht, mit ihrer Mehrheit ein liberales Abtreibungsrecht zu verabschieden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.04.2024 - Gesellschaft

Buch in der Debatte

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Die ukrainisch-deutsche Politikerin (ehemals Piratenpartei, heute bei den Grünen)  Marina Weisband sieht im Tagesspiegel-Interview mit Barbara Nolte und Hans Monath die Demokratie in Deutschland massiv bedroht. In ihrem neuen Buch plädiert sie daher für frühe Demokratieförderung in Schulen. Als Jüdin sieht sie sich in den letzten zehn Jahren verstärkt Antisemitismus ausgesetzt, noch einmal mehr nach dem 7. Oktober. Das hat auch mit der Erstarkung der deutschen Rechtspopulisten zu tun, denen schnell ein Riegel vorgeschoben werden muss, wie sie findet: "Das Allererste, was wir tun müssen, ist ein AfD-Verbot anzustreben, und zwar selbst dann, wenn wir die Partei nicht sofort verbieten können. Denn: Wenn man ein Verbotsverfahren einleitet, wird es juristisch relevant, was die Parteiführung so in die Kameras sagt. Und dann hat sie Druck von zwei Seiten. Sie darf nichts Verfassungsfeindliches sagen, muss aber ihre Basis bedienen, die Verfassungsfeindliches hören will. Das wird zu Konflikten führen. Die Basis wird sich von der Führung abwenden. Es werden Köpfe rollen. Die AfD wird zerstört, weil sie nicht mehr ihre Message offen kommunizieren kann."

Inna Hartwich berichtet in der NZZ, dass zwei Männer, von der Presse rasch als "Deutschrussen" bezeichnet, verdächtigt werden, im Auftrag der Russischen Föderation Sabotageaktionen in Deutschland geplant haben. Hartwich nimmt das zum Anlass, über die Bezeichnung "Russlanddeutsche" oder "Deutsch-Russen" nachzudenken: Immer noch ist der Begriff mit Klischees behaftet, die deutsche Gesellschaft weigere sich beharrlich, sich mit dem historischen Hintergrund und der Lebensrealität der ehemals Geflüchteten auseinanderzusetzen: "Die Vorurteile befördern mitunter genau das, was so unerwünscht ist: dass sich Parallelgesellschaften bilden, dass sich viele der Angekommenen nie als Menschen mit eigener Geschichte - einer leidvollen Geschichte - wahrgenommen fühlen und deshalb ihr Glück dort suchen, wo sie hoffen, die Aufmerksamkeit zu bekommen, die ihnen fehlt: in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, vor allem in Russland, das sich solcher 'Suchender' bestens zu bedienen weiß, zu seinen Gunsten in seinem menschenverachtenden Sinne."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.04.2024 - Gesellschaft

Die Szenen, die sich an der Columbia University ereignet haben (unser Resümee), erinnern Jennifer Wilton in der Welt an die dreißiger Jahre in Deutschland, so "brutal" offenbare sich hier der Antisemitismus. Wie groß wäre wohl der Aufschrei, würde es sich um Schwarze oder Homosexuelle und nicht um gejagte Juden handeln, meint Wilton. Dass sich ein "totalitärer Diskurs" an den Universitäten etablieren konnte, habe auch mit den Institutionen und Lehrenden zu tun: "Einige wenige Stimmen machen in den USA seit Jahren darauf aufmerksam, dass Pluralität unter den Lehrenden gerade in den renommiertesten Bildungseinrichtungen immer geringer wird, dass sich bestimmte Narrative zu einer Mastererzählung entwickelt haben - in der, nebenbei, antiisraelische und antizionistische Motive ihren Platz haben - gegen die immer weniger Widerspruch geduldet wird. Sie warnen davor, dass Aktivismus und Lehre verknüpft werden, ohne dass man sich daran sehr stören würde. Es sollte aber ein deutliches Störgefühl geben, wenn nicht mehr gelehrt, sondern indoktriniert wird."

Immer bizarrere und düstere Szenen spielen sich derweil auf dem Campus ab, der seit Tagen von Pro-Hamas-Gruppen besetzt ist. Dieses Video zeigt, wie eine Gruppe jüdischer Studenten, die auf dem Campus Präsenz zeigen wollte, unter Sprechchören vom Gelände gedrängt wird: "We have Zionists who have entered the Camp."



"Nein, nicht jeder hat einen Anspruch auf eine Debatte", ruft in der taz Jonas Reese den Coronaleugnern zu. Er erinnert sich noch gut an die Aidsdebatte. Schon damals gab es "Leugner und Querdenker. In der Aids-Pandemie hatte ihr Handeln schwerwiegende Folgen. In Südafrika sind zahlreiche Menschen gestorben, weil ihr Land eine Zeit lang vom Aids-Leugner Thabo Mbeki regiert wurde. Man hätte daraus einiges lernen können. Dass das nicht passiert ist, ist ein großes Versäumnis. Bei Corona darf sich das nicht wiederholen." Zwar sei es "richtig und wichtig, über Leugner und ihre Behauptungen zu berichten. Solche Narrative lassen sich nicht einfach ignorieren. Nur ist es ein Fehler, ihre Aussagen als Beitrag zu einer Debatte einzustufen. Ihre Verschwörungserzählungen dürfen nicht gleichberechtigt neben erwiesenen Fakten stehen. Coronaleugner haben nichts in Talkshows verloren. Sie haben nichts zum Diskurs beizutragen. ... Das hätte man aus der Aids-Pandemie für die Zeit mit Corona längst lernen können."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.04.2024 - Gesellschaft

Die New Yorker Polizei hat die Ausschreitungen auf dem Campus der Columbia University offenbar nicht in den Griff bekommen, ein Rabbiner der Universität hat jüdischen Studenten geraten, nicht mehr in die Uni zu kommen. Videos in den sozialen Medien zeigen zahlreiche Ausfälle von Pro-Hamas-Demonstranten, heißt es in einem dpa-Ticker, der etwa bei Spiegel online nachzulesen ist: "In einem ist zu hören, wie Teilnehmer rufen: 'We say justice, you say how? Burn Tel Aviv to the ground' (deutsch: 'Wir sagen Gerechtigkeit, ihr sagt wie? Brennt Tel Aviv bis auf den Grund nieder'). In einer anderen Aufnahme werden die jüdischen Studierenden aufgefordert, zurück nach Polen zu gehen. Aus Sicht des Rabbis haben die Ereignisse deutlich gemacht, dass weder die Universität noch die Polizei für die Sicherheit jüdischer Studierender garantieren könnten."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.04.2024 - Gesellschaft

Die Sozialforscherinnen Friederike Lorenz-Sinai und Marina Chernivsky führen eine Studie zu den "Auswirkungen des 7. Oktober auf die jüdische und israelische Community" durch. Vielen sei "Indifferenz bis hin zur Billigung der Gewalt" entgegengekommen, sagt Chernivsky im Gespräch mit Frederik Eikmanns in der taz: "Ihnen begegnet emotionale Kälte, wenn es darum geht, die Wirkung des Terrors und die eindringliche Präsenz der Bedrohung anzuerkennen. Interviewpartner*innen nehmen auch den scharfen Kontrast zur erlebten Solidarität mit der Ukraine wahr. Einige haben Familien, die gleichzeitig von zwei Kriegen in der Ukraine und in Israel betroffenen sind. Manche beschäftigt die Verleugnung sexualisierter Gewalt im Zuge des Angriffs und der Geiselnahmen."
Stichwörter: 7. Oktober, Ukraine

9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.04.2024 - Gesellschaft

Mit Entsetzen blickt Torsten Harmsen in der Berliner Zeitung auf eine im Rahmen des TU-Forschungsprojektes "Decoding Antisemitism" von Matthias J. Becker geleitete Studie, die den drastisch gewachsenen Antisemitismus in Nutzerkommentaren in Medien aus Großbritannien, Frankreich und Deutschland untersuchte: "Eine international völlig neue Form antisemitischer Kommunikation habe der Terrorangriff auf Israel vom 7. Oktober 2023 hervorgerufen, sagt Matthias J. Becker. Die bisherigen antisemitischen Stereotype seien am Tag selbst und in der Woche danach in eine offene Glorifizierung von Gewalt und Mord gegen Juden umgeschlagen, mit Kommentaren wie: 'Ist richtig so', 'Das sollte jetzt jeden Tag passieren', 'Die weiblichen Opfer verdienen das.' 'Auf der britischen Seite waren das teils mehr als 50 Prozent der Kommentare, auf französischer Seite manchmal sogar 60 Prozent und in Deutschland bis zu 25 Prozent.' Als schockierend empfinden die Forscher die Verbindung von 'dehumanisierenden Äußerungen' mit Sexismus und pornografischen Inhalten. In den Folgewochen sei der Online-Diskurs wieder zurückgekehrt 'zu den üblichen Mustern der Dämonisierung Israels'."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.04.2024 - Gesellschaft

In der Zeit wundert sich Peter Neumann über das angebliche "Klima der Angst", das laut New York Times, London Review of Books oder dem Guardian in Deutschland herrschen soll. Sogar von einem "philosemitischen McCarthyismus" als Ausfluss deutscher Erinnerungskultur ist die Rede, der jede Kritik an Israel unterbinden solle. Diese Bezichtigungen sind mittlerweile "selbst zur Pose im erinnerungspolitischen Kulturkampf geworden", meint Neumann. "Es ist aber nicht nur die überzogene Kritik, die zur Verteidigung aufruft: Das Besondere an der deutschen Erinnerungskultur ist ihre Resilienz. Ihre Widerstandskraft gegen allzu schrille Bekenntnisse. Es ist äußerst befremdlich, dass ausgerechnet jene, die nach dem Terror der Hamas jeden Sinn für die Trauer um die israelischen Opfer vermissen ließen, nun ihrerseits die Unfähigkeit zu trauern beklagen. Das heißt nicht, einer Opferkonkurrenz das Wort zu reden, eine solche darf es nicht geben. Es zeigt nur, wie weit gerade viele linke Stimmen in den vergangenen Monaten immer noch von der grundlegenden Einsicht entfernt sind, dass jedes menschliche Leben gleich viel wert sein sollte, mag es sich dabei um das einer Israelin oder eines Palästinensers handeln."

Im taz-Interview hält der Rechtsanwalt Michael Plöse den Abbruch des Palästina-Kongresses für nicht grundrechtskonform. Plöse beriet am Wochenende die Veranstalter und macht als einen Grund für den Abbruch die mediale Berichterstattung im Vorfeld des Kongresses aus: "Es gab in jedem Fall eine politische Erwartung, das war doch den Medien deutlich zu entnehmen. (...) Für mich ist offensichtlich, dass der zuständige Polizeidirektor mit einer abweichenden Entscheidung karrieretechnisch einen Fehler begangen hätte. Hätte er grundrechtskonform entschieden und die Versammlung weiterlaufen lassen, hätte er den in ihn gesetzten Erwartungen nicht entsprochen und Schlagzeilen provoziert, dass die Polizei Antisemiten schützt. Dass es sich um einen 'Israelhasser-Kongress' handelt, war ja vorher schon überall zu lesen. Er hat also ohne einschlägige Rechtsgrundlage entschieden und mildere Maßnahmen verworfen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.04.2024 - Gesellschaft

Als die jetzige Bundesregierung antrat, versprach sie, auch den Paragrafen 218 zu ändern, der Schwangerschaftsabbrüche für grundsätzlich rechtswidrig hält, unter bestimmten Voraussetzungen jedoch straffrei stellt. Jetzt hat eine unabhängige Kommission zum Thema einen Entwurf für eine Reform vorgestellt. Im Interview mit der taz erklärt die beteiligte Strafrechtlerin Liane Wörner das Ergebnis: "Derzeit werden zu Beginn von Schwangerschaften rechtswidrige, aber straffreie Abbrüche durchgeführt. Das betrifft die meisten der in Deutschland durchgeführten Abbrüche. Rechtmäßigkeit ist die Ausnahme und bedarf der Feststellung einer Indikation, also zum Beispiel der medizinischen oder kriminologischen. Wir empfehlen: Am Anfang der Schwangerschaft grundsätzliche Rechtmäßigkeit, gegen Ende grundsätzliche Rechtswidrigkeit mit Ausnahmen. Doch auch dann müssen Regelung und Ausnahmen nicht zwingend im Strafgesetzbuch geregelt sein."

"218 ist ein Unrechtsparagraf, der nichts befriedet", kommentiert Bascha Mika in der FR: "Gibt es für Männer irgendein vergleichbares Gesetz, das dermaßen stark in ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung eingreift? Hier wird Machtpolitik über Körperpolitik - den weiblichen Körper - ausgetragen. Seit der Spätantike müssen Frauen um das Recht auf Abtreibung streiten. Die Herrschaft über Frauenkörper ist die älteste und effektivste Form weiblicher Unterdrückung. Wen wundert's, dass Papst Franziskus den Schwangerschaftsabbruch noch vor wenigen Tagen als Verstoß gegen die Gott gegebene Würde des Menschen geißelte. Dabei zeigen alle Untersuchungen: Weder hat die Kriminalisierung der Abtreibung jemals geholfen, Abbrüche zu verhindern, noch sind diese nach einer Liberalisierung gestiegen. 60 Länder haben in den vergangenen drei Jahrzehnten ihre Abtreibungsregeln zugunsten der Frauen liberalisiert."

Die Expertinnenkommission hätte in ihren Forderungen noch weitergehen müssen, meint Ronen Steinke in der SZ: "Die Pflicht, dass eine Schwangere sich einen Beratungsschein holen und drei Tage warten muss, bevor sie in den ersten zwölf Wochen abtreiben darf, wird schon lange kritisiert - die Kommission aber hält sich hier auffallend bedeckt."

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Die Philosophin Theodora Becker, die gerade das Buch "Dialektik der Hure" veröffentlicht hat, hat selbst zehn Jahre als Prostituierte gearbeitet, worauf aber weder sie noch der Verlag gerne eingehen. Ihr Buch solle für sich sprechen, erklärt sie im NZZ-Gespräch, in dem sie sich auch deutlich gegen ein Prostitutionsverbot ausspricht: "Schweden wird immer als Vorbild genannt. Dort ist die Prostitution aber nicht verschwunden. Das Verbot hat zu einer noch stärkeren Diffamierung und Diskriminierung der Frauen geführt, die trotzdem dieser Tätigkeit nachgehen. Es findet eine Remoralisierung der Gesellschaft statt. Wer für ein Prostitutionsverbot ist, will einen Aspekt der Sexualität verbannen, der einem schmutzig, unkorrekt, gewaltsam, gefährlich oder überschreitend vorkommt. Das Überschreiten von Normen ist nicht nur positiv, aber es ist ein Teil der Sexualität, der sich in der Prostitution gesellschaftlich auf sehr sichtbare Weise äußert."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.04.2024 - Gesellschaft

Aufsehen erregte diese Woche nicht nur ein Bericht, der zu dem Schluss kommt, die grundsätzliche Rechtswidrigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen sei "nach verfassungs-, völker- und europarechtlicher Prüfung 'nicht haltbar'"(Unser Resümee). Es wurden auch die Ergebnisse der Elsa-Studie vorgelegt, in der ein Team um die Fuldaer Wissenschaftlerin Daphne Hahn die prekäre Versorgungslage von ungewollt Schwangereren untersuchte, berichten Patricia Hecht und Dinah Riese in der taz: "Mehr als jede vierte Frau musste mehr als eine Einrichtung kontaktieren, um einen Termin für einen Abbruch zu bekommen. 15 Prozent mussten für den Eingriff weiter als 50 Kilometer fahren, mitunter sogar weiter als 100 Kilometer. Was auch daran liegt, dass die Zahl der Ärzt*innen, die Abbrüche vornehmen, seit Jahren sinkt. Rund 100.000 Abbrüche gibt es jedes Jahr, aber nur rund 1.100 Stellen melden derzeit, dass sie diese durchführen - die Zahl hat sich seit 2003 fast halbiert."

Das 2004 in Frankreich verabschiedete Kopftuchverbot hat "einer unerbittlichen Islamophobie Tür und Tor geöffnet, die sich in einer Fixierung auf das Aussehen muslimischer Frauen und Mädchen verkörpert", behauptet die französische Journalistin und Autorin Rokhaya Diallo im Guardian: "Hidschab tragende Sportlerinnen wurden inzwischen aus den Teams ausgeschlossen und durften ihren Sport nicht ausüben, auch nicht bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris. Ironischerweise dürfen französische Sportlerinnen in ihrem eigenen Land keinen Hidschab tragen, während die Regeln des Internationalen Olympischen Komitees Frauen aus anderen Ländern erlauben, mit Hidschabs anzutreten. Unternehmen in Privatbesitz sind nicht wie der öffentliche Sektor an die Regeln des Laizismus gebunden. Doch die Verwirrung ist so groß, dass viele so tun, als ob sie es wären, wie eine Kontroverse in dieser Woche über die Behandlung einer Hidschab tragenden Aushilfskraft in einem Schuhgeschäft in Straßburg zeigte. Laizismus, konzipiert zum Schutz der Freiheit, ist zu einem Instrument der Belästigung, Demütigung und Ausgrenzung geworden."