9punkt - Die Debattenrundschau

Am 35. Mai

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2023. In einem FAZ-Essay zum 75. Jubiläum Israels erklärt David Grossman die "Lage", und warum sie ihn so deprimiert. Am 17. Juni 1953 wurde nicht nur gegen Normerhöhungen protestiert, sondern auch gegen stalinistischen Terror, schreibt Anne Rabe in der Welt. Angesichts einer AfD, die in Umfragen auf 18 Prozent kommt, rät der Politologe Marcel Lewandowsky der bürgerlichen Opposition im Tagesspiegel zum Stillhalten. Und in der FR hat Peter Frankopan den Schlüssel zur Weltgeschichte gefunden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.06.2023 finden Sie hier

Europa

Die AfD bringt es in Umfragen auf 18 Prozent - genausoviel wie die Kanzlerpartei SPD. Dieses schockierende Ergebnis versucht Tagesspiegel-Interviewerin Maria Fiedler im Gespräch mit dem Politologen Marcel Lewandowsky auszuloten, der als Ratschlag allerdings auch nur anzubieten hat, dass die bürgerliche Opposition möglichst nicht gegen die Ampel polemisieren sollte, weil davon nur die AfD profitiert. Vor allem der "Woke-Wahn" solle möglichst nicht angegriffen werden: "Dämonisierungen gehen über Kritik am Regierungshandeln hinaus. Die 'politische Klasse' - in diesem Fall die Ampel - wird als Gefahr für die Bevölkerung dargestellt. Das kennen wir aus dem Populismus. Das ist nicht nur riskant mit Blick auf das eigene Wählerpotenzial. Es gibt dann auch keine Kompromissmöglichkeit mehr - in dem Moment wird die CDU zur Fundamentalopposition. Das vergessen die Bürger nicht. Wenn die CDU in Thüringen nach der nächsten Wahl mit den Grünen koalieren würde, enttäuscht sie ihre Wähler und produziert Politikverdruss."

Die Zahlen kommen aus dem "ARD-Deutschlandtrend", wo die AfD-Popularität vor allem aus der Heizungsdebatte begründet wird. Es gibt allerdings auch einige interessante regional aufgeschlüsselte Zahlen. So finden etwa 32 Prozent der Westdeutschen, aber 55 Prozent der Ostdeutschen, dass die Unterstützung der Ukraine mit Waffen zu weit gehe.

Die georgische Regierung ist prorussisch und bändelt neu mit Putin an, schreibt der georgische (im deutschen Exil lebende) Autor Zaza Burchuladze ("Zoorama") in der taz, zugleich wollen laut Umfragen 89 Prozent der Georgier in die EU. Dennoch hat die georgische Regierung den Flugverkehr wieder für Moskau geöffnet, setzt sich damit dem Risiko amerikanischer Sanktionen aus - und das Land wird überschwemmt mit putinistischen Russen, die sich mit den Russen im Exil mischen: "Heute hört man in Tiflis und Batumi eher Russisch als Georgisch auf den Straßen. Es gibt auch Cafés, deren Personal nur noch Russisch spricht. Der lang gehegte Traum der Russen, ein Georgien ohne Georgier, scheint Realität zu werden. Die jungen Leute finden in diesem schönen Land keinen Platz mehr für sich, die Zahl der Emigrant:innen ist enorm angestiegen. Wer kann, versucht auszureisen. Russland verschlingt Georgien. Was dem Kreml in der Ukraine nicht gelungen ist, soll in Georgien gelingen. Mithilfe der georgischen Regierung. Nach den Schwierigkeiten in der Ukraine braucht Putin wenigstens irgendwo einen kleinen Sieg. Warum nicht in Georgien?"
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Gesellschaft

Die viel diskutierten Bücher von Dirk Oschmann ("Der Osten: eine westdeutsche Erfindung") und Katja Hoyer ("Diesseits der Mauer") beschönigen die DDR, aber besonders das Buch von Katja Hoyer weist auf eine Lücke hin, die zu thematisieren wäre, findet taz-Redakteur Gunnar Hinck, nämlich die Lücke zwischen privater Erinnerung und großem historischem Kontext. Sie werde nicht thematisiert, weil "das offizielle DDR-Erinnerungs-Business einerseits von westdeutschen, politisch eher konservativ geprägten Historikern und andererseits von Bürgerrechtsbewegungsveteranen, die sich aus verständlichen Gründen ihre Deutung der DDR nicht nehmen lassen wollen, nahezu monopolisiert wird. Eine eher zweifelhafte Rolle nimmt dabei die 'Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur' ein, deren geförderte Forschungsvorhaben immer kleinteiliger werden. Überraschende, frische Sichtweisen auf die DDR sind in diesem hermetisch abgeriegelten, sich selbst bestätigenden Milieu nicht möglich; neue und überraschende Fragen werden nicht gestellt."

Alexandra Hilpert erklärt in der taz, was "Solarpunk" ist, eine eskapistische Bewegung, die sich ein Leben mit nachhaltigen Technologien und im smarten Einklang mit der Natur ausmalt. "Die Bewegung tauscht sich vor allem im Internet aus und formiert sich auf Plattformen wie Reddit oder Tumblr. Gewissermaßen kann man Solarpunk als Gegenbewegung zu Cyberpunk verstehen. Cyberpunk-Welten sind von Technologien geprägt. Roboter haben dort die Weltherrschaft übernommen, kapitalistische Unternehmen kontrollieren die Menschheit und die Natur wird vollständig eliminiert. Im Gegensatz zu diesen pessimistischen Zukunftserzählungen entwirft Solarpunk optimistische, hoffnungsstiftende Welten."

Eine Videovision dieser Bewegung stammt aus einer Joghurt-Werbung:

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Geschichte

In den Kontext der DDR-Beschönigung und einer wie nie blühenden AfD fällt der siebzigste Jahrestag des 17. Juni, an den Anne Rabe ("Die Möglichkeit von Glück") in der Welt erinnert. Protestiert wurde damals nicht nur gegen Normerhöhungen, betont sie, sondern auch gegen stalinistischen Terror. Sie erzählt die Geschichte einer Gruppe von Jugendlichen aus Werder bei Potsdam, die sich 1952 der FDJ verweigerte und die Kontakt zu antikommunistischen Gruppen im Westen aufnahm. "Auf eine erste Verhaftungswelle, auf nächtliche Verhöre, denen sie, von denen einige noch Teenager waren, kaum standhielten, folgte eine zweite und schließlich eine Reihe von Urteilen. 24 junge Menschen wurden 1952 vor ein sowjetisches Militärgericht gestellt und sieben von ihnen zum Tode verurteilt. Für die Verteilung von Flugblättern. Ohne ihre Familien darüber zu informieren, setzte man sie in einen Zug nach Moskau, wo sie per Genickschuss hingerichtet wurden. Erst nach dem Ende der DDR erfuhren die Angehörigen, was passiert war." Etwa tausend solcher Todesurteile, so Rabe, seien bis 1953 vollstreckt worden.

Zwei Artikel in der FAZ greifen den polnischen Streit um die polnische Rolle während des von Deutschen verübten Holocaust auf. Am Deutschen Historischen Institut in Warschau gab es während eines Vortrags des Historikers Jan Grabowski einen Eklat, schreibt Felix Ackermann, bis vor kurzem Leiter des Instituts. Ein rechtsextremer Abgeordneter des Sejm erzwang durch Zerstörung von Mikro und Lautsprechern den Abbruch der Veranstaltung, in der Grabowski über "Das (wachsende) polnische Problem mit dem Holocaust" reden wollte. Maciej Górny thematisiert in einem zweiten Artikel die Drohungen gegen unabhängige Medien und Wissenschaftler nach einem Interview mit der Holocaust-Forscherin Barbara Engelking (unsere Resümees): "Die Sprache, der sich die Kritiker Barbara Engelkings bedienten, die Parallelen zur antisemitischen Hetze des Jahres 1968 aufweist, ist die Blüte der Geschichtspolitik der polnischen Rechten. Dass die aggressiven Reaktionen zudem durch eine Äußerung zu polnischen Juden hervorgerufen wurden, bestätigt den Eindruck. Das mithilfe dieser Sprache gezeichnete Geschichtsbild ist nationalistisch, feierlich und exaltiert. Begleitet wird es von antiintellektuellen Motiven, die typisch für den Populismus sind."
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Ideen

Hieß es früher bei Karl Marx "It's the Economy, Stupid", hat jetzt der britische Historiker Peter Frankopan ("Zwischen Erde und Himmel - Klima, eine Menschheitsgeschichte") einen anderen, alles erklärenden Schlüssel für die Menschheitsgeschichte gefunden: Klima. Im Gespräch mit Michael Hesse von der FR führt er vor, wie sich so gut wie jeder Aufstieg oder Fall eines Imperiums aus Klimageschichte erklären lässt. Das bedrohlichste Szenario ist für ihn ein Vulkanausbruch, der paradoxerweise auch dem Klimawandel ein Ende bereiten könnte: "Bei einem großen Ausbruch würden riesige Mengen von Asche und Gas in die Atmosphäre gelangen. Die Konsequenzen wären immens, die Folgen des Klimawandels würden keine Rolle mehr spielen. Es würde zu einem Temperatursturz kommen. Nicht nur die Pflanzenwelt wäre betroffen, sondern in der Folge auch Tiere und Menschen. Benjamin Franklin sagte einmal: 'Wer bei der Vorbereitung versagt, bereitet sein Versagen vor.' Daran sollten wir uns erinnern."
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Politik

In einem brillanten und deprimierten FAZ-Essay zu Israels 75. Jahrestag definiert der Schriftsteller David Grossman, was man in Israel unter der "Lage" versteht: den dauerhaft tragisch-paradoxen Status besonders der besetzten Gebiete, in denen sich keine Friedenslösung auch nur andeutet: "Die meisten der in diese 'Lage' Hineingeborenen, die seitdem in ihr leben müssen, haben die Hoffnung, sie jemals reparieren zu können, inzwischen aufgegeben. Die Komplexität des Konflikts wirkt lähmend. Der unendliche Kreislauf, der Mechanismus von Gewaltbereitschaft und Gegengewalt. Die Schablonenhaftigkeit, mit der die ganze Geschichte wieder und wieder aufbereitet wird. Die Verwandlung authentischer menschlicher Schicksale in ein manipulatives 'Narrativ'. Die Kränkung derjenigen, deren Lebensessenz zu einem Klischee verkommen ist."

Qiu Mu schildert im Tagesspiegel das Ausmaß der chinesischen Zensur anhand eines Jahrestags: "Der 4. Juni des Jahres 1989 ist in China ein ausgelöschter Tag. Die Zensurbehörden haben dafür gesorgt, dass im chinesischen Internet zu den Ereignissen von 1989 nichts zu finden ist. Die Zahlenfolge '64' für den 4. Juni zu benutzen, ist unmöglich. Wer in Chinas sozialen Medien über den 4. Juni 1989 diskutieren will, muss immer neue Arten von Hinweisen erfinden. Einige schreiben '8 mal 8' statt '64'*, andere sprechen vom '35. Mai', von einem Tag, den es nicht gibt."
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