9punkt - Die Debattenrundschau

Komm, Behemoth, gib uns den Roman

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.07.2023. Russische Manuskripte brennen vielleicht nicht, ukrainische schon, schrieb die getötete Schriftstellerin Victoria Amelina vor einem Jahr. Eurozine bringt noch einmal ihren bitteren Text über die Zerstörung der ukrainischen Kultur. Im Guardian mahnt Amelinas Kollegin Natalja Gumenjuk, die russischen Angriffe auf zivile Ziele in Kramatorsk nicht hinzunehmen: Es sind Kriegsverbrechen. Für den Historiker Martin Schulze Wessel markiert in der FAZ Prigoschins Meuterei den gänzlichen Verfall des Politischen in Russland. In der Welt sieht Slavoj Zizek den französischen Staat allerdings auch ganz schön heruntergekommen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.07.2023 finden Sie hier

Europa

Der russische Drohnenangriff auf das Restaurant von Kramatorsk am 27. Juni, bei dem 13 Menschen getötet wurden, gehört wie die Sprengung des Kachowka-Staudamms zu den Ereignissen, die von der hiesigen Öffentlichkeit mit einer gewissen Taubheit aufgenommen wurden. Mit dem Tod der Schriftstellerin Victoria Amelina geriet er wieder in die Aufmerksamkeit.

Luis de Vegas Artikel aus El Pais erzählte das Ereignis schon vor fünf Tagen aus Sicht des bekannten kolumbianischen Autors Hector Abad, der bei dem Angriff ebenfalls verletzt worden war - da war Amelina noch nicht ihren Verletzungen erlegen. Im Guardian schreibt die bekannte Journalistin Natalja Gumenjuk über ihre Freundin Amelina, die genau bei einer jener Attacken starb, auf die sie die Weltöffentlichkeit aufmerksam machen wollte: "Je häufiger diese Angriffe stattfinden, desto mehr lässt die Aufmerksamkeit nach... Russland hat es geschafft, diese Raketenangriffe auf Zivilisten zu normalisieren."

Der Anschlag auf das Restaurant ist bereits das zweite Kriegsverbrechen, das die Russen in der Stadt Kramatorsk begehen. Im letzten Jahr beschossen sie den Bahnhof der Stadt, wo sich zu diesem Zeitpunkt 3.000 Menschen befanden, um evakuiert zu werden. Es war ein Beschuss mit Streumunition, eindeutig ein Kriegsverbrechen, halten Natalja Gumenjuk und Olena Nizhelska, die mit vielen Zeugen gesprochen haben, in Newsline fest. Die russische Armee behauptetet zwar, sie hätte ukrainisches Kriegsmaterial vernichten wollen - doch das beschießt man eben nicht mit der geächteten Streumunition, die vor allem dazu dient, Menschen zu verletzen. Wie man sich die Szenerie vorstellen muss, erfährt man aus einem Zeugenbericht der jungen Olena Sementsov: "Die zweite Rakete landete am Eingang des Bahnhofs neben Olenas Auto, wo sie Wasser trinken wollte. Es war 10:28 Uhr. 'Es gab eine Explosion, gefolgt von vielen weiteren. Es schien, als würde es kein Ende nehmen', erinnert sich Olena. Ihr Mann reagierte nicht auf ihre Rufe. 'Als ich aus dem Auto stieg, sah ich die Leichen von Menschen, die noch vor wenigen Minuten am Leben waren - eine Mutter und ein Kind, dem ein Teil des Schädels weggesprengt worden war. Ich sah ein Mädchen, dessen Beinen das Fleisch von den Knochen abgerissen worden war, und sie schrie nicht einmal. Sie starrte sie nur mit diesen unnatürlich großen Augen an. Ich sah einen Vater, der sein Kind in den Armen hielt, dem die Füße weggesprengt worden waren. Olena sagt, dass sie diesen Moment nie vergessen wird. Sie watete in Blut; es war unmöglich, einen Schritt zu machen, ohne in das Blut zu treten."

Eurozine hat einen Text Victoria Amelinas vom März 2022 online gestellt, in dem sie mit bemerkenswerter Schärfe daran erinnerte, wie oft und erfolgreich Russland die ukrainische Kultur zerstörte: "In den 1930er Jahren ermordete das sowjetisch-russische Regime die Mehrheit der ukrainischen Schriftsteller und Intellektuellen. Die wenigen, die überlebten, waren verängstigt und unfrei. Und das war natürlich nicht das erste Mal, dass die ukrainische Elite ausgelöscht oder gezwungen wurde, sich an die russische imperiale Kultur anzupassen. Die Säuberungen und Jahrhunderte eines unvorstellbaren Drucks sind der Grund, warum man nicht oft von großer ukrainischer Literatur, Theater und Kunst hört. Wenn man sich die Landkarte Europas ansieht, sieht man hier Dante und Shakespeare, aber nur eine riesige Lücke, wo die ukrainische Kultur hätte sein sollen, um Europa ganz und sicher zu machen ... 'Manuskripte brennen nicht', sagt der Teufel in Michail Bulgakows 'Meister und Margarita'. Dann wendet sich der Teufel an seinen Diener, die Katze: 'Komm, Behemoth, gib uns den Roman.' Russische Manuskripte brennen vielleicht. Aber die Ukrainer können nur bitter lachen. Es sind die imperialen Manuskripte, die nicht brennen. Unsere schon."

Im Guardian schreibt Emma Graham-Harrison einen sehr informativen Nachruf auf Amelina, Juri Durkot nimmt Abschied in Welt und SZ, weitere Nachrufe stehen in FAZ und Tagesspiegel.

Während sich Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin mit seiner Rebellion in die Linie der russischen Volksaufstände stellte, obwohl er nur seine privaten Interessen verfolgte, antworte Wladimir Putin mit einer glatten Geschichtslüge, stellt der Historiker Martin Schulze Wessel in der FAZ klar: General Lawr Kornilow hat Russland keineswegs um den Sieg im Ersten Weltkrieg gebracht, als er 1917 erfolglos putschte, das Land war längst besiegt. Aber noch etwas springt Schulze Wessel ins Auge: "Der Aufstand verweist auf den Verfall des Politischen. Während Russland in den Neunzigerjahren über vielfältige öffentliche und wissenschaftliche Reflexionsräume verfügte, ist es inzwischen zu einem gesellschaftsfreien Raum regrediert. Die einzigen Figuren, die auf dem Schauplatz zwischen Moskau und Rostow das Spiel bestimmten, waren der Herrscher, der Aufständische und eine Reihe von Höflingen und Militärs, die ihre Chancen kalkulierten."

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Auch wenn die Revolten in den Banlieues seit den achtziger Jahren nach dem immergleichen Muster abzulaufen scheinen, kann man nicht sagen, dass sich nichts getan habe, meint im Interview mit Le Monde der Soziologe François Dubet: "In vielen Vierteln haben sich die Verhältnisse verbessert: Wohnungen wurden renoviert, die kaputtesten Gebäude abgerissen, Schulen und soziale Einrichtungen eröffnet, Buslinien ausgebaut und so weiter. ... Das große Problem besteht darin, dass man eher auf die Bausubstanz als auf die Bevölkerungsstruktur einwirkt. Die Stadtpolitik hat die soziale und ethnische Segregation nicht verringert: Die Bewohner der 'vorrangigen' und 'schwierigen' Stadtviertel sind immer noch die ärmsten und unsichersten, sie sind Einwanderer oder haben einen Migrationshintergrund. Häufig verstärken sich diese Merkmale im Laufe der Jahre, da diejenigen, die es durch Arbeit und Bildung 'geschafft' haben, das Viertel verlassen und durch noch ärmere Familien ersetzt werden, die aus noch weiter entfernten Einwanderungsländern stammen."

"Die Wut ist berechtigt. Wir Abkömmlinge von Migranten, egal ob Männer, Frauen, Kinder haben genug von diesem unwürdigen Leben", kommentiert die als Kind malischer Eltern in Frankreich aufgewachsene Schriftstellerin Aya Cissoko im Welt-Gespräch mit Jonathan Fischer die aktuellen Ausschreitungen in Frankreich: "Ich bekomme das als Frau weniger ab, da sich die Polizeigewalt hauptsächlich gegen junge Männer richtet. Sie werden nicht als Bürger, sondern eher wie Feinde behandelt. Dazu passt es, dass in Meinungsumfragen fast drei Viertel der Polizisten sich als Sympathisanten des Rassemblement National, also einer rechtsextremen und rassistischen Partei, bezeichnen. Viele von ihnen haben sich sogar Nazisymbole tätowieren lassen."

Slavoj Zizek sucht derweil ebenfalls in der Welt nach Parallelen zwischen Prigoschins Meuterei in Russland und den Protesten in Frankreich: Beide Ereignisse offenbaren das Scheitern eines Staates, meint er. "Es gibt deutliche Anzeichen für den zunehmenden Verfall der öffentlichen Umgangsformen, für jugendliche Banden, die öffentliche Plätze terrorisieren, von Busbahnhöfen und Bahnhöfen bis hin zu Einkaufszentren. Die bloße Erwähnung dieses Verfalls wird oft als eine weitere Obsession der Rechten abgetan, die sich gegen Einwanderer richtet, und die Standardreaktion ist, dass wir die 'tieferen sozialen Wurzeln' solcher Phänomene (Arbeitslosigkeit, Rassismus ...) betrachten müssen. Wenn wir jedoch so handeln, räumen wir dem Feind einen wichtigen Bereich der Unzufriedenheit ein, der viele nach rechts treibt."

"Wir unterschätzen manchmal, wie viel in unserem politischen System bislang nur deshalb so gut funktioniert, weil die Akteure sich demokratischen Umgangsformen verpflichtet fühlen", sagt im SZ-Interview mit Ronen Steinke die Verfassungsrechtlerin Nora Markard. Sie warnt vor den Schwachstellen der Justiz, die die AfD für sich nutzen könnte, um die verfassungsmäßige Ordnung zu ändern: "Ein Mittel der rechtspopulistischen Regierung in Polen war, dass sie eine neue, niedrigere Altersgrenze für Richter eingeführt hat. Das klingt erst einmal politisch unverdächtig. Aber so mussten auf einen Schlag ganz viele Richterinnen und Richter pensioniert werden, und die Regierung hatte plötzlich die Chance, die Justiz mit ihren Gefolgsleuten zu fluten, also gewissermaßen den Vetospieler zu neutralisieren."
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Ideen

In einem großen ZeitOnline-Essay diagnostizieren Georg Diez und Max Krahé mit Blick auf die Razzien gegen die Letzte Generation eine Veränderung der liberalen Demokratie im Zeichen des Klimawandels: "Es sind nicht die Aktionen der Letzten Generation, die undemokratisch sind oder die Demokratie gefährden, es sind die derzeitigen Maßnahmen gegen die Letzte Generation, die gesellschaftliche Überzeugungsprozesse blockieren und damit der Demokratie und dem Rechtsstaat von morgen gefährliche Altlasten hinterlassen", verteidigen die beiden die Aktivisten unter anderem mit Blick auf das Buch "Überfluss und Freiheit - Eine ökologische Geschichte der politischen Ideen" des französischen Philosophen Pierre Charbonnier, der dort die materiellen Bedingungen von Freiheit analysiert: "Die planetare Klimakrise, schreibt Charbonnier, stelle die wesentlichen Annahmen liberaler Politik infrage, die mit menschlicher Freiheit sowie Autonomie zu tun haben - und untrennbar mit Wohlstand oder sogar Überfluss verbunden sind. Freiheit sei in der Moderne dadurch ermöglicht worden, dass symbolisch wie materiell die Verbindung zur Natur, zum Land, das man bewirtschaftet, gekappt worden sei - ein Bruch zwischen Natur und Kultur, dem Menschen und seiner Umwelt. Doch gerade deshalb bestand von vornherein eine grundlegende Schieflage innerhalb unserer Konzeption von Freiheit. Diese wurde nämlich nur durch Externalisierung möglich, 'Emanzipation als Ausbeutung', wie Charbonnier es formuliert."
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