9punkt - Die Debattenrundschau

Das Adrenalin des Widerstands

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.07.2023. Die taz fragt, warum sich der Westen in Srebrenica schon wieder von serbischen Nationalisten auf der Nase herumtanzen lässt. Im Guardian fordert Timothy Garton Ash von der Nato einen Energieschub für die Ukraine. Auf ZeitOnline schildert die Journalistin Sabina Brilo den seit drei Jahren andauernden Raubzug der belarussischen Sicherheitskräfte. In Le Monde rechnet Thomas Piketty vor, wie Banlieue und ländliche Regionen in Frankreich gleichermaßen abgehängt wurden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.07.2023 finden Sie hier

Europa

Immer wieder testen serbische Nationalisten ihre Grenzen aus und immer wieder lässt sich der Westen von ihnen an der Nase herumführen, ärgern sich in der taz die beiden Bosnien-Kenner Manfred Dauster und Alexander Rhotert zum Jahrestag des Genozids von Srebrenica: "Vor einem Jahr, am 11. Juli 2022, hielt der Hohe Repräsentant Christian Schmidt eine 'Nie wieder'-Rede in Srebrenica. Gleichzeitig beseitigten Serben im nur 15 Kilometer entfernten Kravica Spuren in einer Lagerhalle, in der serbische Soldaten im Juli 1995 über 1.300 Menschen ermordet hatten. Das UN-Tribunal hatte die Lagerhalle als Tatort deklariert. Diese Stätte des Grauens hätte Schmidt mit einer Unterschrift erhalten können. Durch Desinteresse des Westens ist auf dem Westbalkan eine brisante Gemengelage entstanden. Von Belgrad initiierte Angriffe, wie die auf die Nato-Schutztruppe KFOR in Kosovo Ende Mai, könnten Bosnien über Nacht in Flammen setzen. Es reicht nicht, einmal im Jahr in Srebrenica eine Rede zu halten, und zugleich dabei zuzusehen, wie Milorad Dodik paramilitärische Einheiten aufstellt."

Erich Rathfelder, langjähriger taz-Korrespondent, besucht zum Jahrestags von Srebrenica den Ort des Verbrechens und trifft dort Überlebende: "Munira Subašić ist bis heute das Gesicht der Überlebenden, die Repräsentantin der Mütter von Srebrenica, sie spricht für die gefolterten, vergewaltigten und getöteten Menschen. Die Endsiebzigerin spricht über das Leben in der Stadt, wie es einst war, als in ihrem Wohnblock noch Serben, Kroaten, Juden und Bosniaken Tür an Tür lebten, als man die religiösen Feste gemeinsam feierte: 'Es war eine glückliche Zeit.' Subašić weiß, wie aus dem Nichts heraus die Hölle sich öffnen kann. Sie ist nicht naiv. Sie verfolgt alle Reden der serbischen Extremisten. Ihre Sprache klinge heute wieder wie am Anfang des Krieges 1992. Plötzlich waren 1992 viele der serbischen Bewohner der Stadt verschwunden, sie waren zu den Angreifern übergelaufen, die Stadt wurde dann umzingelt und beschossen."

Im FR-Gespräch mit Sophie Tiedemann beklagt Selma Jahic, Überlebende des Genozid von Srebrenica, dass das Gesetz, das das Leugnen des Genozids unter Strafe stellt, nicht innerhalb der Republika Srpska entstand, sondern von "außen diktiert" wurde: "Wenn man weiterhin Politiker an der Macht hat, die davon leben, den Hass weiter zu schüren, wird sich nichts ändern. Die heutige Generation lebt in dem gleichen Trauma, in dem gleichen Koma wie wir. Sie kommen nicht weiter, weil ihnen falsche Helden eingetrichtert werden. Helden, die eigentlich Massenmörder sind."

Natürlich wissen die Ukrainer, dass sie nicht in die Nato können, solange der Krieg andauert, aber sie möchten wenigstens eine Einladung erhalten, schreibt Timothy Garton Ash im Guardian und unterfüttert seine Mahnung mit eigenen Beobachtungen aus dem kriegsversehrten Land. Nach 500 Tagen seien die Menschen erschöpft, ausgepowert und um fünf Jahre gealtert: "In einer kürzlich durchgeführten Umfrage gaben 78 Prozent der Ukrainer an, dass enge Familienangehörige oder Freunde seit der russischen Invasion im vergangenen Jahr verwundet oder getötet wurden. Der Schmerz wird teilweise durch das Adrenalin des Widerstands überdeckt, aber nach dem Krieg wird das Land mit einem weit verbreiteten Trauma konfrontiert sein... In einer weiteren Umfrage gaben 87 Prozent der Ukrainer an, sie sähen die Zukunft ihres Landes optimistisch, doch privat herrscht eine zunehmend nüchterne Stimmung. Uns wurde gesagt, dass inzwischen jedes fünfte ukrainische Kind im Ausland lebt".

Mit seiner Meuterei hat Jewgeni Prigoschin vieles geklärt, aber fast nichts verändert, beobachtet Viktor Jerofejew in der FAZ: Die Eliten zogen Putin vor, und die restliche Bevölkerung begnügte sich mit lustigen Memes im Internet: "Was jedoch Prigoschin betrifft, der Putins Bestrafung als Verräter entging und seine Zelte in Belarus aufschlug, so könnte er im Weiteren sowohl kaltgemacht als auch benutzt werden - seine Erfahrung, die keine moralischen Grenzen kennt, ist schließlich unschätzbar wertvoll für die Zerstörung des Westens. Ein zweiter Prigoschin, der das Vertrauen des Präsidenten gleichermaßen genießt, findet sich nicht so leicht. Die Stalin'sche Losung aus der Zeit des Großen Terrors 'Danke für gestern, für heute trägst du die Verantwortung!' lässt sich auch auf Prigoschin beziehen." Jerofejew hat den Artikel wohl geschrieben, bevor bekannt wurde, dass sich Putin und Prigoschin ein paar Tage nach der Meuterei im Kreml getroffen haben (mehr hier) - an seiner Einschätzung wird es wohl nichts ändern.

Selbstverständlich müssen wir die Ukraine im Kampf gegen Russland unterstützen, schreibt Slavoj Zizek in der Welt, aber: "Wir verschließen die Augen davor, wie der ukrainische Kampf von der dominanten Clique der Oligarchen monopolisiert wird, sodass wir nicht überrascht sein sollten, wenn die Nachkriegs-Ukraine der korrumpierten Oligarchie vor dem Krieg ähnelt, die von großen westlichen Konzernen kolonisiert wird, die das beste Land und die natürlichen Ressourcen kontrollieren - kurz gesagt, wir leiden in dem schrecklichen Krieg, aber wir sind blind für die Tatsache, dass sich unsere Feinde unsere Erfolge aneignen." Um nach dem Krieg eine neue Art von Oligarchie zu verhindern, fordert er: "Wir können die Ukraine nur unterstützen, wenn wir die auf russisches Öl angewiesene fossile Industrie bekämpfen und gleichzeitig für soziale Gerechtigkeit kämpfen."


Im Sommer 2021 hatte ein belarussischer KGB-Beamter im Fernsehen "die Säuberung von radikal eingestellten Personen" angekündigt, erinnert sich auf ZeitOnline die belarussische, im Exil in Vilnius lebende Journalistin Sabina Brilo. Die Drohung wurde wahr, heute gibt in Belarus keinen offenen Protest mehr: "Dennoch setzen die Machthaber, Raubtieren gleich, die Blut gerochen haben, ihren Raubzug fort, suchen und bestrafen alle, die vor drei Jahren die Wahlfälschung kritisiert oder die Protestierenden unterstützt haben. Es sind drei Jahre vergangen, und immer noch werden Menschen, die einfach nur Freiheit für ihr Land wollten und dafür an friedlichen Demonstrationen teilnahmen, ins Gefängnis gesteckt. Viele furchtbare Informationen verlassen Belarus nicht, sondern bleiben in den Familien, die von diesem schweren Leid betroffen sind - der ungerechtfertigten Inhaftierung geliebter Angehöriger. Die Menschen hören auf zu reden, bitten nicht mehr um Hilfe. (...) Auch Anwälte werden in Belarus vor Gericht gestellt und inhaftiert - mindestens vier Anwälte, die politische Häftlinge verteidigt haben, sitzen aktuell selbst im Gefängnis. Hunderte Anwälte arbeiten nicht mehr in ihrem Beruf, Dutzende haben aus Angst vor Verfolgung das Land verlassen."

Nach der großen Randale in der Banlieue stehen sich die migrantischen Milieus und die Anhänger von Marine Le Pens Rassemblement National feindlich gegenüber. Dabei stehen die Bewohner des abgehängten Frankreichs nicht weniger elend da als die migrantischen Milieus in der Banlieue, rechnet Thomas Piketty in Le Monde vor, während die reichen Gegenden in und um Paris abheben: "In Creil (Oise), Grigny (Essonne), Grande-Synthe (Nord) oder Roubaix (Nord) liegt das Durchschnittseinkommen zwischen 8.000 und 9.000 Euro pro Jahr und Einwohner. In Neuilly-sur-Seine (Hauts-de-Seine), Le Vésinet (Yvelines) oder Le Touquet (Pas-de-Calais) erreicht es 70.000 bis 80.000 Euro. Im 7. und 8. Arrondissement der Hauptstadt liegt es sogar bei über 100.000 Euro pro Einwohner (einschließlich Kinder!). Der entscheidende Punkt ist, dass es im ganzen Land erhebliche Ungleichheiten zwischen den Gemeinden gibt, sowohl innerhalb der großen Ballungsräume als auch in den Städten und Dörfern. An der Spitze der territorialen Hierarchie befinden sich die reichsten Vororte der großen Metropolen, ein Teil der Stadtzentren sowie eine Reihe von gehobenen Kleinstädten und Dörfern. Am unteren Ende der Pyramide befinden sich die ärmsten Vorstädte, die von der Deindustrialisierung stark betroffen waren. Sie sind nun genauso arm wie die ärmsten Dörfer und Städte, was historisch gesehen nicht der Fall war."

taz-Korrespondent Michael Braun traut seinen Augen nicht: Ausgerechnet Giorgia Meloni und ihre ausländerfeindlichen Fratelli d'Italia setzen jetzt auf die Einwanderung von migrantischen Arbeitskräften: "Monatelang hatte die Meloni-Regierung sich und dem Land eingeredet, es gebe schon jetzt ein nicht abgeschöpftes Reservoir heimischer Arbeitskräfte. Immerhin meldet das Statistikinstitut Istat, 1,7 Millionen junger Leute zwischen 15 und 29 Jahren seien als sogenannte Neet (Neither in Employment, Education or Training) schlicht untätig. Und Meloni dachte, sie müsse nur die allgemeine Grundsicherung abschaffen, um das faule Pack vom Sofa aufzuscheuchen. Jetzt ist die Grundsicherung gekippt, doch immer noch bilden sich keine Schlangen Arbeitssuchender vor den Hotels und Restaurants, die dringend Personal brauchen; sei es deswegen, weil Arbeitsbedingungen und Löhne absolut unattraktiv sind, sei es weil die Neets mangels auch elementarer Qualifikation nicht vermittelbar sind."
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Gesellschaft

Politisch gesehen ist die Cancel Culture von links "weniger gefährlich als der Kulturkampf der Rechten", sagt Ian Buruma im Tagesspiegel-Gespräch mit Daniel Bax: "Der zielt darauf, liberale Institutionen zu zerstören und durch etwas Autoritäreres zu ersetzen. Den sogenannten 'woke'-Diskurs führt dagegen eine progressive Kulturelite. In dieser Sphäre, der Welt der Medien und Filmstudios, der Museen und der Kulturstiftungen, ist er aber wirkmächtig. Und er ist gefährlich, weil er die liberale Linke unterminiert. Die Zielscheiben der Cancel Culture, wenn man sie so nennen will, sind Linksliberale: Universitätsprofessoren, Schriftsteller und Redakteure, so wie ich. Nicht Konservative. Wenn man andere Linksliberale bekämpft, schwächt man aber die Opposition gegen die Rechte."
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Kulturmarkt

"Als Händler bin ich der Sklave von Jeff Bezos", sagt der Antiquar Wolfgang Rüger, dessen Wut auf Amazon sich im FR-Gespräch mit Arno Widmann entlädt: "Ihm gehören heute alle Internetplattformen, über die hauptsächlich die Buchgeschäfte laufen: Amazon, abebooks, zvab. Es gibt nichts, was ich mehr hasse als diese Firma. Amazon ist das Nordkorea des Internets. Die perfekte Diktatur. Als Händler haben Sie bei Amazon nur Pflichten und absolut keine Rechte. (…) Alle Pflichten unterliegen bei Amazon einer Statistik. Jeder Händler hat zum Beispiel eine Stornoquote von 2,5 Prozent, die nicht überschritten werden darf. Wenn ich nur eine Bestellung in der Woche stornieren muss, zum Beispiel weil ich das Buch vor einer halben Stunde im Laden verkauft habe, bin ich schon über 2,5 Prozent. Storniere ich zwei Bestellungen erhalte ich eine Abmahnung. (…) Ich habe bei über 9000 Kundenbewertungen ein Ranking von 99 Prozent, erhalte von Amazon in meiner Gesamtperformance aber nur 220 von 1000 möglichen Punkten. Wenn ich unter 200 rutsche, ist mein Konto 'gefährdet' und es 'besteht das Risiko einer Kontodeaktivierung'. Bei Amazon sind Sie vollkommen hilflos Computerprogrammen ausgeliefert."
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Stichwörter: Amazon, Buchhandel, Nordkorea