9punkt - Die Debattenrundschau

Ursachen für die Angst

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.08.2023. Ivan Krastev fürchtet im Tagesspiegel Kriegsmüdigkeit in einigen EU-Staaten: Sie könne die EU "auf ganz dramatische Weise spalten". Eine anonyme syrische Autorin berichtet bei Zeit online über Brände in Damaskus, die angeblich vom Assad-Regime gelegt werden.  Man kann Antidemokraten nicht mit Liberalität bekämpfen, meint der Rechtsprofessor Klaus Ferdinand Gärditz in der taz. Die FAZ fragt sich: Warum wählen doppelt so viele junge Männer wie junge Frauen AfD?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.08.2023 finden Sie hier

Europa

Putin wird mit 80 Prozent wiedergewählt werden, glaubt der bulgarische Politologe Ivan Krastev, der im Tagesspiegel-Gespräch mit wenig Hoffnung in die Zukunft blickt. Eine Ende des Kriegs sei nicht in Sicht, indes werde in der EU die Kriegsmüdigkeit zunehmen, mutmaßt Krastev: "Es ist anzunehmen, dass die Rufe nach einer Friedenslösung nun ... immer lauter werden, wenn sich zeigt, dass die jetzige ukrainische Gegenoffensive nicht wirklich vorankommt. Die entscheidende Frage wird sein: Wie vehement werden solche Forderungen nach einer Friedenslösung in der Öffentlichkeit vorgetragen und wie viel Gehör werden die Regierungen in der EU ihnen schenken? Selbst wenn sich die Stimmung in den EU-Staaten gegen eine weitergehende Unterstützung der Ukraine wenden sollte, wird das nicht unbedingt den bisherigen Kurs der Regierungen in den EU-Staaten ändern. Man kann nicht hinter dem Rücken der Ukrainer über eine Friedenslösung verhandeln. Schließlich sind es nicht die Bürger in den EU-Staaten, die in diesem Krieg als Soldaten eingesetzt werden. Aber die Sichtweise auf diesen Krieg ist in der EU sehr unterschiedlich. Für die baltischen Staaten und Polen stellt er eine existenzielle Bedrohung dar. Es kann daher die gesamte EU auf ganz dramatische Weise spalten, wenn eine mögliche europäische Friedensinitiative nicht von sämtlichen EU-Staaten gleichermaßen unterstützt würde."

Antidemokraten lassen sich nicht mit Liberalität bekämpfen, meint der Rechtsprofessor Klaus Ferdinand Gärditz in der taz mit Blick auf die AfD. Ein Verbot der Partei, zumindest auf regionaler Ebene, scheint er eher zu befürworten: "Demokratie ist voluntaristisch, aufgeklärte Rationalität ist nicht garantiert. Es gibt eben nicht wenige Menschen, die die antidemokratische oder rassistische Ideologie einer Partei nicht abschreckt, vielleicht auch in der Fehlannahme, selbst dadurch nichts zu verlieren. Die Kosten abgebrühter Liberalität sind meist auch recht ungleich verteilt. Die ersten Leidtragenden sind vor allem vulnerable Personengruppen, die längst als Feindbild markiert wurden und dann Repressalien unterworfen werden."

Auch der Psychologe Klaus Ottomeyer denkt in der taz über die AfD und andere Verschwörungstheoretiker nach, die reale Ängste - etwas vor dem Klimawandel - in "neurotisch-paranoide Ängste" transformieren: "Die Ängste werden dabei konkretisiert und personalisiert. Das heißt, es wird so getan, als ob es nur einige wenige dingfest zu machende Ursachen für die Angst gäbe, die von einer Gruppe beherzter Personen rasch beseitigt werden könnten, zum Beispiel durch den Sturm auf das Machtzentrum."

Natascha Koch und Anna-Lena Ripperger lesen für die FAZ eine Studie des Soziologen Ansgar Hudde, der den "Gendergap" bei jungen Wählern und Wählerinnen untersucht: Während Frauen in früheren Zeiten diejenigen waren, die konservativer wählten, sind es seit einiger Zeit Männer, das gilt vor allem bei jungen Wählern: Junge Männer stimmten doppelt so oft für die AfD, aber auch für die FDP, wie junge Frauen. Die Parteien der Ampel haben auf die Probleme dieser Wählergruppe keine Antwort: "So werden Männer etwa im Parteiprogramm der Grünen für die Bundestagswahl 2021 nur einmal explizit erwähnt, nämlich mit dem Hinweis, dass Unterstützung für Frauenhäuser auch für männliche Opfer von Partnerschaftsgewalt gelte. Die Bundesregierung betont hingegen in ihrem Koalitionsvertrag, sie stehe für eine 'gleichstellungsorientierte Jungen- und Männerpolitik' ein. Dazu gehören laut der Website des Bundesfamilienministeriums vor allem Initiativen, die 'Rollenbilder und Stereotype aufbrechen' sollen."

"Sobald rechte Kräfte erstarken, missbrauchen so manche Konservative die Stimmung, um rassistischen Klischees freien Lauf zu lassen", ärgert sich Jagoda Marinic in der SZ. "Vermeintlich Konservative kämpfen am liebsten gegen rechts, indem sie die Menschen angreifen, die von Rechtsaußen entmenschlicht werden, nach dem Motto: Wären wir die los, hätten wir auch keine Probleme mehr."

Der Frieden auf dem Westbalkan ist "akut gefährdet", warnt in der NZZ der Politikwissenschaftler Alexander Rhotert. Das liegt vor allem an den Bestrebungen des serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic gemeinsam mit dem bosnischen Serbenführer Milorad Dodik ein Großserbien zu schaffen, so Rhotert: "Seine territorialen Absichten demonstriert Milorad Dodik schon seit einigen Jahren: Bei Besuchen internationaler Vertreter in Banja Luka lässt er diese vor einer verfassungswidrigen Landkarte der Republika Srpska ablichten, die den Brcko-Distrikt als Teil des RS-Territoriums auszeichnet. Dodiks 'Staatskarte' der RS suggeriert, dass der Staat Bosnien und Herzegowina bereits nicht mehr existiert." Rhotert fordert daher eine "robust bewaffnete internationale Militärpräsenz" durch die EUfor oder die Nato in der bosnischen Stadt Brcko.
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Politik

Kaum wahrgenommen wurde in den Medien ein Brand im Stadtviertel Sarouja in Damaskus, der am 16. Juli unter anderem das Haus des Damaszener Kulturerbes, einen aus dem 19. Jahrhundert stammenden Palast, beschädigte. Es ist der "neueste Vorfall in einer Reihe von Ereignissen, die die städtebaulichen, architektonischen, die sozialen und kulturellen Spuren und Zeugnisse der Vergangenheit von Damaskus auszulöschen drohen", schreibt eine anonymisierte Syrerin, die seit 2015 in Deutschland lebt, im "10 nach 8" Blog der Zeit. Sie berichtet von Gerüchten, hinter den Bränden stecke das Assad-Regime, das den Anteil der Bevölkerung, der sich seiner Macht widersetze, zu verringern versuche - und der Iran: "Die iranische Botschaft bemüht sich seit Langem um den Erwerb von Immobilien in den historischen Vierteln, die sich zwischen der Umayyaden-Moschee und dem Bab-Touma-Gebiet im Herzen der Hauptstadt befinden. Bewohner dieser Viertel berichten immer wieder, das Assad-Regime versuche sie zu zwingen, ihre Häuser und Geschäfte an den Iran zu verkaufen. Wenn sie sich weigern, so heißt es, werden ihre Häuser angezündet, dann müssen sie diese am Ende sogar zu einem niedrigen Preis verkaufen. Auch jenseits der Altstadt hat der Iran Ambitionen in Damaskus. Unter Syrer:innen ist ständiges Gesprächsthema, dass in den Vororten der Hauptstadt regelmäßig Immobilien die Besitzer wechseln und die neuen auffällig oft iranische seien. Aufgrund der hohen Preise für Baumaterialien können es sich viele angestammten Einwohner von Damaskus nicht mehr leisten, ihre durch die Bombardierungen des Assad-Regimes zerstörten Häuser wieder aufzubauen."
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Gesellschaft

Menschen, die sich eine andere Identität erschleichen, tun das auch, um "in eine Position zu kommen, die es ihnen ermöglicht, Macht auszuüben bis dahin, dass sie andere schikanieren und verstören können", sagt der von Melanie Mühl in der FAZ befragte Psychiater Hans-Ludwig Kröber. Ein typisches Beispiel sind in Mühls Artikel Menschen, die sich als Arzt ausgeben. Man könne sich aber auch in den Medien eine ideologische Position erarbeiten wie Fabian Wolff. "Wolff hat als vermeintlicher Jude mit antijüdischen Statements die perfekte Position besetzt, um innerhalb der Medienlandschaft zu reüssieren", so Kröber. Pathologisch ist der Fall Wolff laut Kröber wohl nicht: "Ich bin ziemlich sicher, dass Fabian Wolff genau wusste, was er tat, dass er nie geglaubt hat, er sei Jude."
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Stichwörter: Wolff, Fabian