9punkt - Die Debattenrundschau

Sehr viel Brennmaterial

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.08.2023. Rechte und Linke streiten um Musliminnen und beide tun ihnen Unrecht, beklagt die Autorin Najat El Hachmi in der taz. Ebenfalls in der taz hat Peter Sloterdijk zwei Schuldige am Klimawandel gefunden: China und die Kühe. In der FR ruft Joseph Vogl einen weiteren üblichen Verdächtigen auf, den Kapitalismus, von dem wiederum die Rechten profitieren. Die "Letzte Generation" fragt sich unterdessen laut Welt: Sollten wir die Gleichsetzungen mit dem Holocaust unterlassen?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.08.2023 finden Sie hier

Europa

Auch in Spanien werden muslimische Frauen mit Kopftuch von der extrem Rechten zu einem ausländerfeindlichen Abziehbild gemacht, schreibt die  Schriftstellerin und Aktivistin Najat El Hachmi in einem lesenswerten taz-Essay. Aber der Verteidigungsreflex der Linken gegen diesen Rassismus macht sie kein bisschen froher. Sie ist überzeugt, dass selbst Frauen, die noch in Spanien unter den Hidschab gezwungen werden, wissen, "dass ihr schlimmster Albtraum die Rückkehr in ihre Heimat wäre". Auch sie wüssten die Vorteile einer Demokratie zu schätzen. Dies ruft El Hachmi angeblichen Feministinnen in Erinnerung, "die glauben, dass sie den Respekt vor der Vielfalt verkörpern, indem sie das Gegenteil dessen tun, was die extreme Rechte will". Wenn die Frauen, die sie angeblich verteidigen wollen, "etwas sagen könnten, würden sie sicher mit ihnen über das sprechen, was ihr Leben bestimmt hat: immer unter der Macht eines Mannes zu stehen, erst des Vaters, dann des Ehemannes, ein Kind nach dem anderen zu gebären, weil wir akzeptieren müssen, was Gott für uns will, kein Mitspracherecht in der Partnerschaft zu haben, Hausarbeit zu übernehmen oder nicht einvernehmlichen Sex zu dulden, sich mit einer zweiten Frau zu begnügen, wenn der Ehemann beschließt, von seinem polygamen Privileg Gebrauch zu machen, oder zu wissen, dass sie per Gesetz nur halb so viel erben werden wie ihre männlichen Geschwister."

Neulich machte eine Umfrage Sensation, laut der eine Wagenknecht-Partei in Thüringen auf 25 Prozent käme und stärkste Partei wäre, gefolgt von AfD mit 22 Prozent und Linkspartei mit 18 Prozent, quasi eine Zweidrittelmehrheit für nicht (so) demokratische Parteien also (mehr hier). Robert Misik will in der taz nicht daran glauben, dass eine Wagenknecht-Partei solche Erfolge würde feiern können. Äußerst fraglich sei, "ob es überhaupt ein nennenswertes Milieu für solch ein Parteiprojekt gibt. Die Wagenknecht-Strategie geht implizit ja von einer männlichen, weißen Arbeiterklasse aus, die sich nicht mehr repräsentiert fühlt, weil sie ökonomisch links ist, aber in Wertefragen rechts, traditionell und konservativ und die gesellschaftlichen Modernisierungen wütend ablehnt. Das ist eine Art von Proletkult, der von Verachtung des Proletariats kaum mehr zu unterscheiden ist. Das Wählerpotential ist chronisch überschätzt, weil medial eine Art Karikatur des Proletariats kursiert, die real existierenden arbeitenden Klassen aber in jeder Hinsicht einfach vielgesichtiger sind." In der gleichen Ausgabe der taz fragt der Politologe Thomas Biebricher, ob die "Brandmauern" gemäßigt konservativer Parteien gegenüber Rechtspopulisten und -extremistinnen in Europa halten werden.

Was wurde nicht über die angebliche Meuterei Jewgeni Prigoschins gerätselt. Das Ergebnis aber ist für den Westen nicht entlastend, sondern eher bedrohlich, resümiert Richard Herzinger in seinem Blog: "Das unmittelbare Resultat der Turbulenzen um Prigoschin jedenfalls ist, anders als von zahllosen westlichen 'Experten' vorschnell herbeigeträumt, keine Erschütterung des Putinschen Machtsystems. Ihre direkte Folge ist vielmehr, dass die 'Wagner'-Söldner jetzt in Belarus stehen, wo sie angeblich die dortigen Truppen 'zur Verteidigung' ausbilden sollen - in Wahrheit aber, um eine weitere Front gegen die Ukraine sowie gegen die Nato-Staaten Polen und Litauen aufzubauen."
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Kulturmarkt

Randomhouse ist mit seinem Versuch, den amerikanischen Großverlag Simon & Schuster zu kaufen, an amerikanischen Kartellgerichten gescheitert. Nun wird der Verlag vom Investor KKR (der auch Anteile an Springer hält) übernommen. Für Lothar Müller in der SZ eine neue Qualität: "Für einen Finanzinvestor wie KKR gibt es kein branchenbezogenes Kerngeschäft. Hier ist das Kerngeschäft das Investieren selbst, in welche Branche auch immer. Chef der Mediengruppe bei KKR ist Richard Sarnoff, der jahrzehntelang in der Verlagsbranche gearbeitet und 1998 Bertelsmann beim Kauf von Random House beraten hat. Das programmatische Ziel von KKR, das seine Rhetorik prägt, ist das ökonomische Wachstum der Firmen, in die es investiert." Müller erzählt nebenbei, dass der Autor Joshua Cohen mit dem Versuch, das Imprint Schocken von Randomhouse zu kaufen (unsere Resümees), inzwischen gescheitert ist - Randomhouse will es behalten, obwohl es nicht mehr mit Inhalt gefüllt wird.
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Medien

Spätestens der RBB-Skandal um Patricia Schlesinger hat bewiesen, dass öffentlich-rechtliche nicht unbedingt moralische Anstalten sind. Schlesinger war in ihrer bräsigen Unverschämtheit nur die Spitze des Eisbergs, resümiert Caspar Shaller in der taz. Darunter kam ein ganzes System von Ruhegeldern und und komfortablen Abfindungen für unfähige Hierarchen zum Vorschein, das Höhlenforscher bis heute nicht erschlossen haben. Und auch beim RBB ist mit der Wahl Ulrike Demmers nur die Ratlosigkeit der Instanzen deutlich geworden. Spätestens jetzt wisse man, "dass der Filz damit nicht vorbei ist. Demmer war Regierungssprecherin unter Angela Merkel und hat zwei hagiografische Bücher über Ursula von der Leyen geschrieben, in der die gescheiterte Verteidigungsministerin als nächste Kanzlerin gehandelt wurde. Demmers Verstrickung mit der CDU scheint indes kein Ausschlusskriterium zu sein. Die oft beschworene Staatsferne erscheint so wie ein Hohn. Mittlerweile haben das Missmanagement und die Selbstbedienungsmentalität ein riesiges Loch in die Kassen gerissen. Vernau verkündete im Frühjahr, der Sender müsse 50 Millionen Euro sparen. Hundert Stellen sollen langfristig gestrichen und mehrere Sendungen eingestellt werden."
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Ideen

Peter Sloterdijk hat mit "Die Reue des Prometheus - Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung" ein Buch zur Klimakatastrophe vorgelegt. Im Gespräch mit Stefano Vastano für die taz wird er recht konkret: "Die Kühe sind in diesem Zusammenhang als die wahren Feinde der Menschheit zu identifizieren. Sie stehen quasi gleichwertig neben der chinesischen Diktatur, deren Führer meinen, ein Anrecht auf nachholende Umweltverbrechen zu besitzen, die bis 2060 fortgehen sollen. Zurzeit verbrennt man dort 4 Milliarden Tonnen Steinkohle pro Jahr mit entsprechenden Emissionen, Tendenz steigend, sofern man das jetzt dazukommende russische Erdöl hinzunimmt. Was wir hierzulande veranstalten, um die Treibhausgasemissionen zu reduzieren, spielt sich vor dem chinesisch-amerikanisch-indischen Hintergrund in den Größenordnungen eines Flohzirkus ab. Deutschland hat aktuell 1,8 Prozent Anteil an der Globalbelastung der Atmosphäre, doch 75 Prozent entfallen auf die infernalischen großen drei."

"Die Zukunft der deutschen Demokratie ist so wenig gewiss wie die des deutschen Fußballs", unkt der gerade emeritierte Literaturwissenschaftler und - laut FR - Finanzmarktexperte Joseph Vogl im Gespräch mit Michael Hesse. Schuld ist der Kapitalismus. Und es profitiert die extreme Rechte, weil sie anders als die in solchen Dingen offenbar unschuldige Linke, Ressentiments bewirtschaften kann. Die gegenwärtige Krise nutze der Rechten, "weil die Rechten das Ressentiment kostengünstig und mit einem breiten Angebot von Schuldigen bedienen: Nicht die Klimakatastrophe, sondern die Grünen machen Ärger; nicht eine Seuche, sondern perfide Wissenschaftler waren das Problem; und wenn die Wirtschaft kriselt und crasht, macht sich eben eine Verschwörung von Globalisten oder der Migrant von nebenan daran, mir meinen Wohlstand wegzuschnappen. Es gibt für eine rechte und rechtsextreme Politik also sehr viel Brennmaterial, und es verwundert darum nicht, dass auch einige Funktionäre konservativer Parteien nun wieder einmal ihr Herz daran erwärmen."
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Gesellschaft

Die Holocaust-Gleichsetzung ist doch irgendwie zu verführerisch! Einige Aktivisten der "Letzten Generation" scheinen zu denken, dass man die Klimakatastrophe nicht ausreichend dramatisiert hat, wenn man sie nicht als ein Übertreffen des Holocaust darstellt. Lennart Pfahler macht in der Welt auf den Einfluss des britischen Aktivisten Roger Hallam bei der "Letzten Generation" aufmerksam, der einst solche Vergleiche bei "Extinction Rebellion" gerne zog (unsere Resümees) - Hallam ist heute offenbar in der "Letzten Generation" eine einflussreiche Figur. Einige Aktivisten der Bewegung drohen nun mit Rückzug, falls diese Vergleiche anhalten, so Pfahler. Andere reizt der Vergleich weiterhin: "Auch vor Gericht hatte die 'Letzte Generation' den Klimawandel im März dieses Jahres ins Verhältnis zur NS-Zeit gesetzt. Der Verteidiger der Klimaaktivistin Carla Hinrichs sagte damals: 'Meine Generation hat ihre Eltern gefragt: Habt ihr den NS-Staat toleriert oder gar unterstützt, oder habt ihr Handlungsspielräume ihn zu bekämpfen ausgenutzt?' Diese Frage stelle sich heute wieder angesichts der 'noch viel größeren Katastrophe, die auf uns zukommt'."
Archiv: Gesellschaft