9punkt - Die Debattenrundschau

In Prigoschins Fall fiel die Bilanz recht klar aus

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.08.2023. Mit dem mutmaßlichen Mord an Jewgeni Prigoschin hat Putin seine Macht wieder gefestigt, meint Alexander Gabuev in der Financial Times: Auf den Kriegsverlauf werde er kaum Auswirkungen haben. Eine Abkehr Amerikas von der Demokratie würden auch die Nato und die EU kaum überleben, meint Richard Herzinger im Perlentaucher. Was hat die Linke nur mit Israel, fragt die NZZ. Die FAZ findet die Pläne des Berliner Stadtentwicklungssenators Christian Gaebler für Berlins letzte Brache - die historische Mitte - recht einleuchtend. China-Expertin Rebecca Arcesati warnt in Netzpolitik vor Tiktok.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.08.2023 finden Sie hier

Europa

Für den in der Financial Times kommentierenden Politologen Alexander Gabuev vom Carnegie Russia Eurasia Center ist der mutmaßliche Mord an Jewgeni Prigoschin ein Zeichen, dass es Putin gelungen ist, Kräfte, die noch zu seiner Rechten agieren, gleichzuschalten: "Die Prigoschin-Saga hat die russischen Eliten einige neue Lektionen über Putin gelehrt - seine Zögerlichkeit, wenn es darum geht, Fehler zu korrigieren, und seine emotionale Sprunghaftigkeit, wenn er mit den Folgen eigenen Irrtums konfrontiert wird. Und es hat sie an seine Gnadenlosigkeit erinnert, wenn es um den Umgang mit Feinden und Verrätern geht. Aus diesem Grund wird Prigoschins Abgang wohl kaum Auswirkungen auf den Verlauf des katastrophalen Krieges haben, der für Putin eine Obsession ist."

Inna Hartwich macht in der taz auf eine Koinzidenz aufmerksam: "Zwei Monate nach der Rebellion, auf den Tag genau, fiel Prigoschins Privatjet taumelnd vom Himmel. Ein Zufall? Selbst wenn es ein Unfall gewesen sein sollte, aufgenommen wird Prigoschins mutmaßlicher Tod als Rache des Systems. Eine Vergeltungsmaßnahme mit Mitteln des organisierten Verbrechens." Man könne zwar "nur spekulieren", sagt Sicherheitsberater Christoph Heusgen im FR-Gespräch, um dann aber doch festzustellen: "Aber nachdem Putin es nicht geschafft hatte, den Kreml-Kritiker Alexej Nawalny zu vergiften, wollte er jetzt bei Prigoschin sicher gehen. Das scheint ihm gelungen zu sein und damit auch die Wiederherstellung seiner von Prigoschin infrage gestellten Autorität. Putin bedient sich der Methoden Stalins, als dessen Nachfolger er sich sieht."

Und in der SZ meint Sonja Zekri: "Putins Machtpolitik ist gerade nicht für spontane Exzesse bekannt, sondern eher für bedächtige Grausamkeiten und langfristige Abrechnungen, für Kosten-Nutzen-Rechnungen der eigenen, machterhaltenden Art. In Prigoschins Fall fiel die Bilanz recht klar aus. Militärisch hatten die Wagner-Männer in der Ukraine ihren Zweck aufs Brutalste erfüllt, für Dienste in Afrika gibt es inzwischen andere Milizen, ein Aufstand der Prigoschin-Männer ist kaum zu befürchten - warum also ein Risiko eingehen und Prigoschin frei herumlaufen lassen? Zumal dieser in fast rührendem Missverständnis von Putins Begnadigungsinszenierung (oder zumindest in grandioser Selbstüberschätzung) immer noch so auftrat, als eile er im Dienste Russlands um die Welt, als lebe er nicht längst von geborgter Zeit."

Ein Wahlsieg Trumps wäre auch für Europa eine Katastrophe, fürchtet Richard Herzinger in seiner jüngsten Perlentaucher-Kolumne: "Sollten sich die USA .. von Europa abwenden oder gar überhaupt aus dem Kreis der liberalen Demokratien verabschieden, würde dies nicht nur das westliche Verteidigungsbündnis, sondern auch die Europäische Union kaum überleben. Und das nicht nur, weil sie politisch und militärisch zu schwach aufgestellt ist, um ihren stärksten Partner als globale demokratische Führungsmacht zu ersetzen. Sondern auch, weil sie ohne das enge Bündnis mit den USA von ihrer ideellen Quelle abgeschnitten wäre."
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Gesellschaft

"Ohne eine universalistische politische Haltung werden wir untergehen", sagt Susan Neiman, die im Welt-Interview nochmal die These ihres aktuellen Buches "Links ist nicht woke" darlegt: "Die Prioritäten der Woken sind manchmal sehr selbstbezogen und es geht sehr viel um Symbolpolitik, während die Ungerechtigkeiten wachsen, die Klimakrise sich verschärft. Wenn man sich nur auf die eigene Identität fokussiert, ist es enorm schwierig, realpolitische Veränderungen voranzubringen. (…) Die Verwirrung entsteht, weil die Woken von den linken Emotionen getrieben sind, den Unterdrückten zur Seite zu stehen und historische Ungerechtigkeiten zu korrigieren. Das Problem ist aber, dass sie unwissend von sehr reaktionären Theorien unterstützt werden."

Die Linke hat mit der Israelkritik "für sich ein neues Projekt gefunden", meint Andreas Scheiner in der NZZ: "Kein Land auf der Welt wird öfter kritisiert als Israel. 103-mal hat der Menschenrechtsrat der Uno den jüdischen Staat seit 2006 verurteilt. Syrien, die Nummer zwei in der Rangliste, brachte es auf 42 Verurteilungen. Israel-Kritik ist salonfähig. Mainstream. Trotzdem nimmt, wer Israel kritisiert, für sich in Anspruch, aus einer Minderheitsposition zu sprechen. Der Israel-Kritiker versteht sich als mutiger Überbringer von schlechten Nachrichten."

Außerdem: Lennart Pfahler hatte in der Welt kürzlich auf den Einfluss des britischen Aktivisten Roger Hallam bei der "Letzten Generation" aufmerksam gemacht, der die Klimakrise gerne mal mit dem Holocaust gleichsetzt (Unser Resümee). Das ist "dumm, primitiv und geschichtsblind", aber "nicht per se antisemitisch", schreibt Alan Posener ebenfalls in der Welt, um Haller und seinen Anhängern dann aber dennoch nochmal zu erklären, weshalb der Holocaust einmalig bleibt.
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Kulturpolitik

Es gibt noch Brachen in Berlin, dieser einst für ihre Brachen berühmten Stadt. Die größte ist das einstige Stadtzentrum südlich des Roten Rathauses, das auch aus dem kollektiven Gedächtnis der Berliner komplett verschwunden ist. Der Berliner Stadtentwicklungssenator Christian Gaebler hat nun einen Rahmenplan vorgestellt, der sowohl Anhänger eine radikal modernen Bebauung als auch Befürworter der Historisierung enttäuschen muss, so Matthias Alexander in der FAZ, der Gaebler aber verteidigt: "Die erwartbaren Reaktionen, den Rahmenplan als Mittelweg im negativen Sinne abzutun, also als Versuch, es allen ein wenig recht zu machen, haben nicht lange auf sich warten lassen. Sie verkennen den entscheidenden Punkt. Der Plan ermöglicht differenzierte städtebauliche Vorgaben, die die Nutzung und Größe der Gebäude von den Straßen und Gassen und ihrer unterschiedlichen Funktion und Lärmbelastung her denken. Es wird sich um eine annähernd klassische Blockrandbebauung handeln, die mit verschiedenen Typologien von Höfen arbeitet." Hier eine Seite des Senats mit Informationen zum Molkenmarkt, die aber nicht aktuell zu sein scheint.

Ebenfalls in der FAZ fragt Andreas Kilb, was nun aus dem geplanten Museum des Exils am Anhalter Bahnhof werden soll, nachdem Christoph Stölzl, der als Gründungsdirektor vorgesehen war, gestorben ist: "Das Schweigen der Politik zu dem Projekt, das 2011 mit einem Brief der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller an die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel begann, ist inzwischen ohrenbetäubend."
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Internet

China-Expertin Rebecca Arcesati vom Mercator Institute for China Studies hält zwar nichts von einem Verbot von Tiktok in westlichen Ländern, macht aber im Gespräch mit Chris Köver von Netzpolitik auf die Gefahren des Dienstes aufmerksam. Einerseits kann China von allen Unternehmen qua Gesetz auch alle Daten einfordern. Noch wichtiger aber findet Arcesati das Thema der Einflussnnahme. "Die größere Frage ist für mich die Manipulation von Inhalten: ob TikTok Inhalte bevorzugen könnte, die für die Kommunistische Partei Chinas vorteilhafter sind oder sogar demokratische Prozesse wie Wahlen manipulieren. Die Kontrolle von Inhalten ist etwas, an dem die Kommunistische Partei Chinas sehr interessiert ist. Es ist die Idee, die öffentliche Meinung nicht nur im eigenen Land zu beeinflussen, sondern auch außerhalb. Das haben wir nach der Covid-19-Pandemie gesehen, als chinesische Diplomat:innen eine Welle von Desinformationen in westlichen sozialen Medien veröffentlichten."
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