9punkt - Die Debattenrundschau

Und dann gute Nacht!

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.01.2024. Aktuell gilt es, den Fokus vor allem auf muslimischen Antisemitismus zu legen, sagt der Berliner Antisemitismus-Beauftragte Samuel Salzborn in der taz. Die SZ warnt vor den katastrophalen Folgen einer Wiederwahl Donald Trumps für das demokratische Europa: Es drohe eine Situation wie 1938. Auch Richard Herzinger malt in seinem Blog aus, was passiert, wenn Trump regiert und Putin die EU angreift. Auf ZeitOnline beerdigt Can Dündar letzte Reste der Demokratie in der Türkei. Und in der FAZ sieht die Klimaforscherin Ricarda Winkelmann keinen Spielraum mehr in Sachen Klimakrise.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.01.2024 finden Sie hier

Europa

"Wir haben im Moment eine extreme Situation der antisemitischen Eskalation und sehen, dass Gruppen aus einem islamistischen Kontext, auch aus einem arabischen Kontext, das massiv anheizen", sagt der Berliner Antisemitismus-Beauftragte Samuel Salzborn im taz-Gespräch, auch wenn ihn die Interviewerin Uta Schleiermacher immer wieder weg vom muslimischen Antisemitismus zu führen versucht. "Dazu kommen antiimperialistische Gruppen. Insofern haben wir das Problem dort ganz konkret. Es geht um Volksverhetzung, Antisemitismus, Gewaltverherrlichung, im Zweifelsfall auch Gewalt. Insofern finde ich das grundsätzlich den richtigen Fokus, in dieser Situation." Von muslimischen Verbänden hätte er sich mehr Distanzierungen gewünscht: "Auch in dem Milieu ist ja entscheidend, was die repräsentierenden Personen sagen: Wie steuern die, wie wirken die ein? Islamisten fokussieren auf den Judenhass, und wenn aus einem muslimischen Milieu keine Gegenstimmen kommen, bleibt das im Raum hängen. Die Frage ist: Wohin orientieren sich die Menschen, die sich diesem Glauben verbunden fühlen? Da ist jede einzelne muslimische Stimme, die sich eindeutig und klar gegen Antisemitismus und gegen die Hamas positioniert, extrem wichtig."

Die historischen Schicksale von Deutschland und Polen sind eng miteinander verknüpft, erinnern Robert Parzer und Agnieszka Wierzcholska von der "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" in der Welt. Die Vergangenheit war allerdings bestimmt von gegenseitigen Ressentiments. Das deutsch-polnische Haus, das nun in Berlin entstehen soll, soll das ändern: "Dass im heutigen Deutschland mit unserem Nachbarn allzu oft polnische Putzfrauen oder Bauarbeiter assoziiert werden, aber selten polnische Denker oder Nobelpreisträger wie etwa Czesław Miłosz oder Jerzy Giedroyc, die visionäre Ideen für ein gemeinsames Europa entwickelten, ist kein Zufall. Bei jeder politischen Auseinandersetzung sind die altbewährten Stereotype schnell zur Hand - bedauerlicherweise auf beiden Seiten von Oder und Neiße. Aufzuzeigen, woher sie kommen, sie aufzubrechen und eine neue Perspektive auf den Nachbarn zu ermöglichen, wird die deutsch-polnischen Beziehungen auf eine neue Grundlage stellen und helfen, eine starke Europäische Gemeinschaft weiterzuentwickeln. Hierzu will und wird das Deutsch-Polnische Haus seinen Beitrag leisten."

Die "Wolke der Repression" verdunkelt sich über der Türkei und Can Dündar ahnt auf Zeit Online Schlimmes: Immer mehr wendet sich das Erdogan-Regime vom Westen ab, viele politische Maßnahmen entfernten die Türkei zuletzt immer weiter von der EU, so Dündar. Es droht die völlige Abkehr und das Aus für den letzten Rest von Demokratie: "Devlet Bahçeli, Erdoğans ultranationalistischer Partner, der seine Regierung von außen unterstützt, machte wiederum im letzten Jahr die Nato für die Krisen in der Türkei verantwortlich und schlug vor, das Bündnis zu verlassen und stattdessen mit 57 islamischen Ländern und der türkischen Welt in Asien eine neue Sicherheitsorganisation ins Leben zu rufen. Derlei Erklärungen mögen als Bluff gegenüber Europa betrachtet werden. Ein Blick auf die Veränderungen in Diplomatie, Politik, Militär und Kultur der Türkei zeigt aber, dass es keine bloße Erpressung ist. In den 100 Jahren ihres Bestehens wurde die Türkei als Brücke zwischen Osten und Westen verstanden und tendierte stets zum Westen, in den vergangenen zehn Jahren aber wurde sie immer mehr Teil der autoritären Welt, in der freie Wahlen, Gewaltenteilung, Menschenrechte, Pressefreiheit, unabhängige Justiz, Laizismus und Gleichberechtigung der Geschlechter missachtet werden."
Archiv: Europa

Politik

Deutschland muss sich dringend damit auseinandersetzen, was passieren könnte, wenn Donald Trump die Wahlen gewinnt, mahnt Joachim Käppner in der SZ. Wahrscheinlich wird es nicht direkt einen Austritt der USA aus der Nato geben, aber die militärischen Folgen könnten für Europa katastrophal sein: "Würde Putins Russland etwa einen der baltischen Nato-Staaten attackieren, also der Bündnisfall gegeben sein, könnten die USA schlicht nichts Konkretes tun oder jedenfalls so wenig, dass die Verteidigung bei den Europäern allein liegen würde, und dann gute Nacht. Natürlich, das sind Szenarien des schlimmsten Falls. Doch der schlimmste Fall ist so nahe gerückt, wie es noch vor zwei Jahren für die meisten Europäer völlig unvorstellbar war. Der schlimmste Fall würde bedeuten, dass ohne US-Ausrüstung und Aufklärung erst der Widerstand der Ukraine kollabieren würde und sich Europa dann selbst helfen müsste gegen eine militärische Bedrohung durch ein triumphierendes Putin-Russland. Dann wäre das demokratische Europa ungefähr dort, wo es 1938 stand: Politisch, mental und militärisch unvorbereitet auf eine jäh wachsende Bedrohung und auf Kriegstreiber, die keinerlei Verständigung wünschen. Faktisch verlässt sich die Europäische Union weiterhin auf den Schutzschirm der Weltmacht USA und setzt ihre Zukunft auf den verlässlichen Senior Biden."

Wer glaubt, Putin würde davor zurückscheuen, Länder der EU und Nato anzugreifen, hat seinen aggressiven Expansionismus immer noch nicht verstanden, meint Richard Herzinger in seinem Blog und verweist auf Berichte aus Geheimdiensten: Sie warnen vor der Übergangsperiode nach den amerikanischen Wahlen, die sich von Anfang November 2024 bis zur Amtseinführung Ende Januar 2025 erstreckt, und in der die USA nur eingeschränkt handlungsfähig sind. Das Risiko erhöht sich, sollte Präsident Joe Biden nicht wiedergewählt werden und der ehemalige Präsident Donald Trump, der aus seiner Affinität zu Putin keinen Hehl macht und die Militär- und Finanzhilfen für die Ukraine drosseln will, die Macht zurückgewinnen."

Auch SZ-Redakteur Stefan Kornelius warnt vor dem Hintergrund der russischen Angriffe auf ukrainische Wohnviertel in den letzten Tagen: "Die Aggression rückt näher, auch eine gespaltene und vom Krieg physisch und psychisch verheerte Ukraine wäre ein Unsicherheitsfaktor für die europäischen Nachbarn. Putins Terror pflanzt sich im Baltikum fort, später in Polen, in Südosteuropa. Da gibt es kein Entrinnen."

In der SZ hatte Bernard-Henri Levy die Parallelen zwischen den Kriegen in der Ukraine und in Nahost dargelegt, eine direkte Verbindung zwischen Putin und der Hamas nachgezeichnet, und geschlossen, "in einem planetarischen Konflikt stünden wir Demokraten gegen die 'Internationale des Schlimmsten'". (Unser Resümee) Er habe das mit "wachsendem Widerwillen" gelesen, schreibt heute Robert Misik in der taz: "BHL sagt ein paar durchaus richtige Dinge, aber eben auf furchtbar falsche Weise. (…) Das Manichäische, gewürzt mit Selbstgerechtigkeit, ist definitiv mehr Teil des Problems als der Lösung... Die Manichäiker sind die Totengräber des Westens. So wie Benjamin Netanjahu mit seinem Extremismus die schlimmste Bedrohung für Israels Sicherheit ist. (…) Sehen wir die Dinge nüchtern: Selbst befreundete progressive Staatsmänner sind der Meinung, der Westen habe es völlig verbockt. Ganze Generationen junger Leute haben zudem im Westen seit den neunziger Jahren die Erfahrung gemacht, dass nur noch das Geld zählt und jede Art von Gier und Bereicherung gerechtfertigt sei. Und dass das Motto regiert: Tanzen, solange die Musik spielt - und nach uns die Sintflut. Eine globale Wohlstandsschicht lebt auf Kosten der Welt."

Die Tötung von Saleh al-Arouri, einem ranghohen Hamas-Führer, ist bisher der größte militärische Erfolg Israels im Gaza-Krieg, meint Bernd Dörries in der SZ. Sie könnte den Konflikt aber auch weiter eskalieren lassen: "Der Tod von Arouri könnte die Lage verändern. Er war in den Libanon gezogen, weil ihn erst die Türkei und dann wahrscheinlich auch Katar nicht mehr haben wollten, weil seine Rolle als Finanzier und aktiver Kommandeur der Hamas zu heikel wurde. Im Libanon hat der Staat wenig zu sagen, die Hisbollah aber viel. Mit der Hamas eint sie das Ziel, Israel zerstören zu wollen. Leute wie Arouri fungierten als Bindeglied, es gab aber auch Differenzen: Die Hamas warf der Hisbollah nach dem 7. Oktober immer wieder vor, ihren Krieg gegen Israel nicht ausreichend zu unterstützen, nicht die totale Konfrontation zu suchen. Der Tod von Arouri könnte nun der Moment sein, in dem die Hisbollah glaubt, nicht mehr anders zu können, als Israel massiver anzugreifen."

Die Abweisung von wichtigen Teilen der Justizreform durch das Oberste Gericht in Israel, erzürnt die Regierung, schreibt Peter Münch ebenfalls in der SZ: "Von Premier Netanjahu war zunächst nichts zu hören, aber in einer Erklärung seiner Likud-Partei heißt es, die Gerichtsentscheidung 'widerspricht dem Willen des Volkes nach Einigkeit vor allem in Zeiten des Kriegs'. Der rechtsextreme Minister für Innere Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, warf den Richtern vor, mit ihrer Entscheidung den Kampfgeist der Soldaten zu schwächen. Solche Dolchstoß-Legenden und patriotischen Aufrufe zur Einheit wirken schal angesichts der tiefen Spaltung, die die Regierung mit ihren Justizplänen selbst hervorgerufen hatte. Hunderttausende Menschen auf den Straßen, ein Generalstreik und ernste wirtschaftliche Folgen hatten die rechte Koalition nicht von ihrem Kurs abgebracht. Ignoriert wurden auch die möglichen Folgen für Israels Sicherheit, als die Protestwelle das Militär erreichte und Tausende Reservisten ankündigten, den Dienst zu verweigern, wenn Israels Demokratie in der geplanten Form beschädigt werde."

In der Welt kommentiert Deniz Yücel: "Nach dem 7. Oktober tat Netanjahu gut daran, ein Kriegskabinett unter Einschluss der Opposition zu bilden. Sollte er nun versuchen, sich der höchstrichterlichen Entscheidung zu widersetzen, würde er zwar den unter dem Schock des Hamas-Angriffs wiedergefundenen gesellschaftlichen Zusammenhalt riskieren. Langfristig dürfte er damit aber nur gefährden, was infolge des 7. Oktober ohnehin fraglich ist: seine politische Zukunft. So, wie es der einzigen Demokratie im Nahen Osten würdig ist."
Archiv: Politik

Gesellschaft

Nicht allein wegen der Antisemitismus-Vorwürfe (unsere Resümees), sondern auch wegen sich häufender Plagiatsvorwürfe ist Claudine Gay, Präsidentin der Harvard University, nun zurückgetreten, meldet Christian Zaschke, der das in der SZ nicht nur bedauert, sondern auch unerträglich findet, wie die Republikaner dies als persönlichen Erfolg verbuchen: "Es dauerte nicht lang, bis Elise Stefanik in den sozialen Medien reagierte, gewohnt aggressiv. Der Rücktritt der 'antisemitischen Plagiats-Präsidentin' sei lange überfällig, schrieb sie, und er sei nur der 'Anfang des größten College- oder Universitätsskandals der Geschichte'. Was sie damit im Detail meinte, führte sie nicht aus. Nachdem Stefanik zudem behauptet hatte, das Aus von Claudine Gay sei vor allem ihr Verdienst, meldeten sich bald weitere Republikaner zu Wort, die geltend machten, der Rücktritt sei vielmehr ihnen zu verdanken. (...) Es wirkte wie ein Wettkampf darum, wer behaupten darf, Gay zu Fall gebracht zu haben."

Der Mittelschicht geht es besser als sie meint, erfährt Melanie Mühl in der FAZ von dem Soziologen Holger Lengfeld: "Es geht uns besser, als wir denken - doch die öffentliche Debatte über die Mitte entspricht immer noch dem 'Immerschlimmerismus'. Den Begriff hat Matthias Horx geprägt. 'Diese Geisteshaltung, dieser Fokus, mit dem man auf die Welt blickt, ist sehr sensibel für Verschlechterungen und eher unsensibel für Dinge, die sich verbessern.' Die Deutschen malen die Welt lieber in dunklen als in hellen Farben, und darüber kann schon mal der klare Blick verloren gehen. Lengfeld hat die Beobachtung gemacht, dass unsere Ansprüche an ein gelungenes Leben im wirtschaftlichen Bereich im Zeitverlauf stärker gestiegen sind als unser faktischer Wohlstand. 'Deshalb reagieren wir sehr sensibel auf konkrete oder auch nur abstrakte ökonomische Bedrohungen, die erscheinen uns sehr groß.'"
Archiv: Gesellschaft

Wissenschaft

Wir haben "auch vergangenes Jahr trotz aller Diskussionen zum Klimawandel wieder einmal mehr Kohlendioxid ausgestoßen als je zuvor", sagt die Klimaforscherin Ricarda Winkelmann, die im FAZ-Gespräch wenig Grund für Optimismus sieht: "Die Klimaerwärmung ist direkt an den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre gekoppelt, und dieser steigt durch unsere Emissionen noch immer stetig an. Entsprechend steigen auch die globalen Temperaturen. Die wärmsten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen liegen alle innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre. Und diese Entwicklung zu immer neuen Rekordtemperaturen wird sich weiter fortsetzen, solange wir den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre weiter erhöhen. Leider lässt uns die Physik des Klimasystems da keinen wirklichen Spielraum. (…) Selbst wenn wir die globale Erwärmung heute stoppen könnten, wird zum Beispiel der Meeresspiegel weltweit noch über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende ansteigen. Unser heutiges Handeln kann also das Gesicht unseres Planeten über Generationen hinweg verändern. Wir Menschen sind wahrlich zu einer geologischen Kraft geworden. Das betrifft aber nicht nur das Klima, sondern zum Beispiel auch den Verlust von Biodiversität oder das Einbringen neuer Substanzen wie Mikroplastik in unsere Umgebung."
Archiv: Wissenschaft