Efeu - Die Kulturrundschau

Heiliger lieber Vater, der Duce ist gut

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03.01.2024. Die Welt möchte keine Documenta, zu der man nur mit zionistischem Leumundszeugnis und unter Absingen postkolonialer Reverenzformeln Zutritt erhält. Die FAZ präsentiert einen verblüffenden Archivfund, einen Brief Else Lasker-Schülers an Papst Pius zur Rettung Mussolinis. Der Rias-Kammerchor hat Händels "Israel in Ägypten" abgesetzt und setzt bei seinem Neujahrskonzert dennoch auf dröhnendes Erz und lärmende Pauke, moniert ebenfalls die FAZ. Lawrence Lessig feiert die urheberrechtsbefreite Micky Maus mit einem lustigen Remix.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.01.2024 finden Sie hier

Kunst

Neues Jahr, altes Thema: die Documenta. In der Welt liest sich Hans-Joachim Müller ziemlich entgeistert durch einen Verhaltenscodex, den eine Consulting-Firma der Kunstschau aufs Auge drücken will. Wenn das, was da gefordert Schule macht, kann man das Ganze auch gleich lassen, so sein Fazit: "Man reibt sich die Augen, wenn man die Kasseler Compliance-Regel liest. Seit wann müssen verantwortliche Kuratoren und Kuratorinnen für 'Formen der Diskriminierung' sensibilisiert werden? Seit wann müssen Künstlerinnen und Künstler ermahnt werden, die Menschenwürde nicht zu verletzen? Weit über ein halbes Jahrhundert lang haben die Documenta-Teams Ausstellungen organisiert, auf denen es mitunter heftig zuging, leidenschaftlich, kämpferisch, problematisch im Ton und der Argumentation. Aber von den strammen Alt-Nazis Werner Haftmann und Kurt Martin in den frühen Fünfzigerjahren bis zum meinungsverschlossen-agierenden Adam Szymczyk des Documenta-Jahres 2017 hat sich niemand, der mit der Regie betraut gewesen war, vor einer Grundwertekommission verteidigen müssen. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie eine Documenta aussehen könnte, auf der künstlerischen Zugang nur hat, wer ein tadelloses zionistisches Leumundszeugnis nebst beglaubigter BDS-Abstinenz vorweisen kann - und dazu die Formeln des postkolonialen Diskurses mit der gedämpften Emphase einer Parole aufzusagen versteht."

Sylvia Sleigh, Paul Rosano, liegend (Paul Rosano Reclining), 1974 Tate. Purchased with the support of the Estate of Sylvia Sleigh 2015, Foto und ©: Tate

Insgesamt durchaus angetan ist Luca Vazgez in der FAZ von der Ausstellung "Nudes" im LWL-Museum für Kunst und Kultur Münster. Die Schau widmet sich, der Titel legt es nahe, der Darstellung von Nacktheit in der Kunst und sie spürt ihrem Thema vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach. Es gelingt der Ausstellung oft, kohärente Argumentationslinien aufzuzeigen, so Vazgez. Allerdings: "Der Beigeschmack eines identitären Aktivismus verschwindet nie ganz. Er ist mal provokant verdienstvoll, wenn er Motive zu enttabuisieren sucht, die ins Pornografische zielen, die individuelle Verletzlichkeit zum Sujet haben oder keinen konventionellen Schönheitsidealen entsprechen. Oder wenn er einst als unzivilisiert gescholtene Werke von schwarzen Künstlern zur Geltung bringt wie Bhupen Khakhars monumentales Gemälde 'You Can't Please All' von 1981, in dem die Figur vom Balkon auf eine surreale Stadtszene blickt - was Gregor Samsa das Käfersein war, ist ihr die Nacktheit. (...) Bisweilen aber wird der Aktivismus zur identitären Pose."

Weitere Artikel: Peter Geimer bespricht in der FAZ Oskar Bätschmanns Buch "Das Kunstpublikum - Eine kurze Geschichte". Daniel Lampert plädiert in der NZZ dafür, in der Schweizer Debatte um Kunst, die während der NS-Zeit den Besitzer wechselte, den Begriff "Fluchtgut" zu erhalten. Die neue polnische Regierung zieht eine umstrittene Einreichung zur Biennale di Venezia zurück, die auf die nationalistische Vorgängerregierung zurückgeht, berichtet der Guardian.

Besprochen werden die Ausstellung "Sieh Dir Die Menschen an!" im Kunstmuseum Stuttgart (Tagesspiegel) (siehe auch hier), eine Schau der Künstlerin Karen Kilimnik in der Berliner Galerie Sprüth Magers (taz Berlin) sowie die Schau "The Bad Mother" im Haus am Lützowplatz, Berlin (Monopol).
Archiv: Kunst

Bühne

Für die taz Nord unterhält sich Katrin Ullmann mit drei Mitgliedern der Werkgruppe2 (Website), die sich in Bühnen-, Film- und Hörpsielarbeiten der sozialen Wirklichkeit zu nähern versucht. Befragt nach Unterschieden zu ähnlichen Dokumentartheaterprojekten wie den Rimini-Protokollen erläutert Dramaturgin Silke Merzhäuser: "Wir sind oft gefragt worden, warum wir nicht die Menschen, die wir interviewt haben, auf die Bühne stellen. Das hat verschiedene Gründe: Wir arbeiten sehr musikalisch, das bedingt oft die Arbeit mit professionellen Musiker*innen. Auch sind manche Themen so intim, gerade wenn es um Traumatisierungen geht, dass die Stellvertretung durch eine professionelle Schauspieler*in die einzige Möglichkeit ist, eine Geschichte zu erzählen. Was bei Rimini-Protokoll die 'dokumentarische Beglaubigung' durch die Lai*innen ist, ist bei uns vielleicht die mündliche Sprache." Die Regisseurin Julia Roessler wiederum betont: "Es geht uns um eine Fokusverschiebung. Aber es geht nicht nur darum, unterrepräsentierten Menschen eine Stimme zu geben, sondern auch auszuloten, wie ist mein Verhältnis zu diesen Menschen? Was geht mich deren Lebensrealität an?"

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel blickt Rüdiger Schaper auf die kommenden Berliner Theatermonate. Claudia Roth will den Kulturpass gemeinsam mit Frankreich entwickeln, berichtet unter anderem Zeit Online.

Bespochen wird die Rimski-Korsakow-Aufführung "Schneeflöckchen" auf den Festspielen in Erl (SZ).
Archiv: Bühne

Architektur

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Gleich zwei Bücher zum Jugendstil bespricht Bernhard Schulz im Tagesspiegel - und macht dabei die Entdeckung, dass der Architekturstil in Berlin präsenter ist, als im Allgemeinen angenommen wird. Während Birgit Ströbel in "Jugendstil in Berlin" sieben Protagonisten der Zeit porträtiert, unternimmt Heike Maria Johennings "Fassadendämmerung" einen eindrücklichen visuellen Streifzug durch die Stadt. Keineswegs geht es dabei um architekturhistorischen Purismus: "Ganz unabhängig von einer lupenreinen Kennzeichnung als 'Jugendstil' sind (Johennings Aufnahmen) Staunen erregend. Denn welcher Reichtum sich an den Fassaden Berliner Mietshäuser teils erhalten hat, teils erst in jüngster Zeit wiederhergestellt worden ist, scheint kaum glaublich - sähe man nicht die Fülle der Farbaufnahmen der Autorin, die die im Vorbeigehen übersehenen Details herausstellen, die immer neu variierten Blumenmotive, aber auch die Drachen und Dämonen, die sich gerne in Giebelfeldern tummeln. Fast ganz am Schluss des umfangreichen Buches findet sich dann auch ein Innenraum: der des Hallenbades in der Charlottenburger Krummen Straße, dem Walter Benjamin ein literarisches Denkmal gesetzt hat."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Jugendstil

Film

Bis Ende 2023 wollte Claudia Roth die seit langem von vielen eingeforderte Reform der Filmförderung auf den Weg bringen, getan hat sich aber wenig, schreibt Helmut Hartung in der FAZ. Die deutschen Produzenten sehen derweil mit 2024 aufgrund einer einbrechenden Produktioslage einem Annus horribilis entgegen. Zahlreiche Interessensverteter der Branche haben sich daher nun mit einem "Brandbrief" mit Forderungen an Roth gewandt: Filmkunst und kommerzieller Film sollen demnach unterschiedlich gehandhabt werden. Die Förderung solle "künftig aus zwei Quellen bestehen: der jury-gestützten Förderung, die bei der Filmförderungsanstalt FFA angesiedelt sein soll, und einer automatischen Alimentierung durch Investitionsabgaben und Branchenmittel im Rahmen der FFA-Förderung. Zusätzliche Unterstützung sollen 'Tax Incentives' bieten."

Außerdem: Nach 95 Jahren immer wieder verlängerten Urheberrechtsschutzes ist die allererste Version der Micky Maus, wie sie in den ersten entsprechenden Disney-Cartoons zu sehen war, ist seit dem 1. Januar gemeinfrei, informiert David Steinitz in der SZ. Warum es mit Blick auf die komplizierten Verästelungen des Urheberrechts dennoch nicht zwingend ratsam wäre, beherzt zuzugreifen, erklärt Daniel Herbig bei Heise. Hier "Steamboat Willie", der zwar nicht erste produzierte, aber erste veröffentlichte Micky-Maus-Cartoon aus dem Jahr 1928:



Lawrence Lessig, der große Vorkämpfer einer Liberalisierung eines von den Verwerterindustrien beherrschten Urheberrechts, feiert auf seiner Seite in Medium, dass dem Disneykonzern nicht eine weitere Verlängerung gelungen ist. Und präsentiert auch gleich einen lustigen, bis vor kurzem nicht erlaubten Remix:


Besprochen werden Hayao Miyazakis Animationsfilm "Der Junge und der Reiher" (taz, FAZ, mehr dazu bereits hier), Sofia Coppolas "Priscilla" (Presse), Ayşe Polats "Im toten Winkel" (taz, Tsp) und die ARD-Serie "Haus aus Glas" (Welt).
Archiv: Film

Literatur

In der FAZ ordnen die Kirchenhistoriker Hubert Wolf und Barbara Schüler einen Archivfund aus dem Vatikan ein: Else Laske-Schüler wandte sich 1942 in einem Brief an Papst Pius XII., den sie mit erheblichem Pathos ersehnte, ihren "Indianerfreund" Mussolini zu retten. Offenbar fürchtete sie dessen Sturz durch die Deutschen und deren Machtübernahme in Italien. Die jüdische Autorin und Mussolini pflegten in den mittleren Dreißigerjahren einen freundlichen Austausch. "Bei aller Kritik an der antisemitischen Wende Mussolinis, die sich in den italienischen Rassegesetzen von 1938 zeigte, wollte Else Lasker-Schüler dem Duce die sprichwörtliche Indianertreue halten, weil sie ihn zu kennen glaubte, wie er eigentlich sei: den 'Oberoberoberprimaner'. Diese unverbrüchliche Treue begründet die Dichterin in ihrem Brief an Pius XII. geradezu heilsgeschichtlich, indem sie Mussolini mit Ruben in der Josephs-Geschichte des Alten Testaments vergleicht, der als Einziger der Brüder gegen eine Ermordung Josephs eintritt. In eine Zisterne geworfen, wird Joseph als Sklave nach Ägypten verkauft, wo er Karriere macht und während einer großen Hungersnot zum Retter seiner Brüder und damit des ganzen Volkes Israel wird. Ausgerechnet der Duce in der Rolle des biblischen Ruben habe ihren Glauben wieder erhöht, schrieb Else Lasker-Schüler dem Papst."

In dem Brief heißt es: "Er holte mich aus der Grube der Hyänen - erhöhte meinen Glauben wieder - wie einst Ruben an Joseph tat. In tiefster Wahrheit, Heiliger lieber Vater, der Duce ist gut; die Sorge um die ärmste ital. Bevölkerung machte ihn ungerecht und - aber ich liebe alle indianische Freundschaftstreue und nie vergesse ich, was der Duce für mich tat, sein Schiff brachte mich nach Jerusalem, wie schwer auch mein Herz getroffen! Mein 'armes' immer immer beschuldetes Volk, hat er plötzlich tötlich beleidigt. Aber ich erkannte den Duce einst und halte meine Treue ihm."

Außerdem: Alexander Brüggemann (Tsp) und Gerhard Matzig (SZ) erinnern an den Comiczeichner André Franquin, der heute vor 100 Jahren geboren wurde. Besprochen werden unter anderem die von Marjane Satrapi herausgegebene Comicsammlung "Frau, Leben, Freiheit" (taz), Alain Mabanckous "Das Geschäft der Toten" (FR), Bora Chungs Erzählband "Der Fluch des Hasen" (FAZ), János Székelys "Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann" (SZ) und Annette Mingels' "Der letzte Liebende" (NZZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Musik

Im Vorfeld des Neujahrskonzerts des RIAS Kammerchors hatte es einige Kritik daran gegeben, dass Händels "Israel in Egypt" unter Verweis auf den Krieg in Nahost aus dem Programm genommen wurde. Sehr schade, findet Clemens Haustein in der FAZ, denn "mit der Unaufdringlichkeit im Ohr, der Eleganz, der vokalen Schönheit, die der britische Dirigent Justin Doyle hier kultiviert hat, hätte sich etwaige Kritik an einer Aufführung des Oratoriums leicht entkräften lassen. ... Stattdessen kann man sich nun fragen, ob die betont große Geste, mit welcher der Abend beginnt, nicht viel weniger feinfühlig ist: Die brausende Orgel (Martin Baker) leitet Hubert Parrys 'I was glad' ein, eine Vertonung von Versen aus Psalm 122, komponiert 1901 für die Krönungszeremonie Edwards VII., gesungen auch bei der Krönung Charles' III. im vergangenen Mai. Mit tönendem Ausrufezeichen wird hier Jerusalem besungen als Stadt, in der Friede und Einheit herrschen sollen, mit Bestimmtheit und beschwörender, nahezu befehlender Geste. So eindrucksvoll das ist, so bleibt von Parrys Chorsatz auch ein eher wenig friedvoller Eindruck von dröhnendem Erz und lärmender Pauke."

Der Jazzmusiker Les McCann ist tot. SZ-Kritiker Jakob Biazza erblickt in dessen Werk ein "ganzes Universum aus Wahnsinnsgroove und Lässigkeit, aus einer Eingängigkeit, die nie gefällig wurde, und einer Komplexität, die nie Selbstzweck war. Stimmt vermutlich schon: McCann machte Jazz für Menschen, die Jazz schnell als anstrengend empfinden und Funk für jene, denen Funk irgendwann zu dusselig, zu sehr um den Unterleib herum angesiedelt ist. Aber das hieß eben nicht, dass dieser so ansatzlos souveräne Innovator, der als einer der Ersten Rhodes, Clavinet und Synthesizer in den Jazz brachte, dabei jemals irgendwo Abstriche machte. Miles Davis verehrte ihn also. Quincy Jones verehrte ihn."

Außerdem: Elmar Krekeler erzählt in der Welt von seinem Treffen mit der Geigerin Anne-Sophie Mutter. Joachim Hentschel plauscht in der SZ mit Lyor Cohen, der in den Achtzigern Hiphop-Acts wie die Beastie Boys und Public Enemy gemanagt hat, und nun für den Streamingdienst Youtube Music verantwortlich ist. Klaus Lederer (Jungle World) und Matthias Lohr (FR) schreiben zum Tod des Egotronic-Sängers Torsun Burkhardt (weitere Nachrufe bereits hier). Besprochen wird das von Christian Thielemann dirigierte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker (FAZ-Kritiker Christian Gohlke "hätte sich bisweilen ein wenig musikantischen Überschwang durchaus gewünscht").
Archiv: Musik