9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Art München 1938 in Zeitlupe

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.02.2024. Vor zwei Jahren überfielen die Russen die Ukraine. Ja, die Russen, denn "das Volk schweigt und macht alles mit", sagt Michail Schischkin im Tagesspiegel. Von Russland dauerhaft besetzte Gebiete sind verloren, warnt die ukrainische Journalistin Anastasia Magasowa in der taz, denn Putin arbeitet in solchen Gebieten mit den Methoden des NKWD, bestätigt Galia Ackerman in Deskrussie. Außerdem verweisen wir auf Interventionen von Nataliya Gumenyuk, Viktor Jerofejew, Timothy Snyder, Richard Herzinger und Timothy Garton Ash. Außerdem: Die Ruhrbarone wollen nicht schrumpfen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.02.2024 finden Sie hier

Europa

Vor zwei Jahren überfielen die Russen die Ukraine. Es ist nicht nur Putins Krieg. Die russische Gesellschaft ließ sich gleichschalten und trottet hinter ihm her wie ein alter Pudel. "Das Volk schweigt und macht alles mit", sagt Michail Schischkin im Tagesspiegel.

Mit Sorge beobachtet Richard Herzinger in einem Essay für die Zeitschrift Internationale Politik die Erosion der Unterstützung für die Ukraine: "Was gerne euphemistisch als wachsende westliche 'Kriegsmüdigkeit' bezeichnet wird, ist nichts anderes als ein Prozess schleichender Kapitulation, eine Art München 1938 in Zeitlupe." Auch klassische strategische Analysen des Kriegs überzeugen Herzinger nicht: "Sie gehen von einer Rationalität aus, die auf russischer Seite nicht existiert. Putins Russland geht es nicht um einen Sieg im herkömmlichen Sinne, sondern darum, unter seinen vermeintlichen Feinden maximale Zerstörung anzurichten. Es kann nicht anders als den Krieg immer mehr auszuweiten, weil die entgrenzte Gewalt ihr einziger 'Wert' und Daseinszweck ist." So auch der Zeithistoriker Jan Claas Behrends in der taz: "Ein Sieg Russland Sieg in der Ukraine hätte dramatische Folgen für Deutschland und Europa. Millionen von Ukrainern würden ihr Zuhause verlieren, und unsere Sicherheitslage würde sich ein weiteres Mal dramatisch verschlechtern."


Was mit einer besiegten Ukraine geschieht, weiß man ja, mahnt Anastasia Magasowa in der taz, denn die Russen haben den Krieg vor zehn Jahren begonnen und zwanzig Prozent des ukrainischen Territoriums stehen unter russischer Besatzung, und "Russland tut alles, um diese beiden Teile der Ukraine dauerhaft zu trennen - sowohl physisch als auch mental. In einigen dieser Siedlungen gibt es noch immer keine Handy- oder Internetverbindungen, da sie von den Besatzern absichtlich blockiert werden. Seit Jahren können Kinder ihre alten Eltern nicht kontaktieren und umgekehrt. Wenn eine Familie unter der Besatzung Glück hatte, wurden ihre Kinder nicht unter dem Deckmantel der Evakuierung dauerhaft auf russisches Gebiet gebracht, also verschleppt. Diejenigen, die es geschafft haben, zu Hause zu bleiben, werden in den örtlichen Schulen dazu erzogen, zu vergessen, dass sie Ukrainer sind. Sie sollen zu neuen Russen werden."

Timothy Snyder macht im Gespräch mit Jan Pfaff von der taz klar, was mangelnde Unterstützung für die Ukrainer im Kriegsalltag bedeutet: "Das Fehlen von genügend Flugabwehr und Artilleriemunition hat ganz konkrete Auswirkungen auf das Leben der Menschen, das ist keine militärische Abstraktion. Wenn die Ukrainer nicht genug Artillerie haben und die Russen einen Durchbruch erzielen, bedeutet das, dass mehr Ukrainer unter russischer Besatzung leben müssen. Das bedeutet mehr Morde, mehr Vergewaltigungen, mehr Entführungen von Kindern, mehr Folter. Für Ukrainer gibt es in diesem Krieg keinen Unterschied zwischen einer militärischen Lage und einer sozialen Erfahrung. Es läuft auf das Gleiche hinaus."

"In Kiew mag sich das Leben tagsüber normal anfühlen, aber nachts sieht es ganz anders aus", erzählt die ukranische Journalistin Nataliya Gumenyuk im Guardian. "Zu dieser Zeit finden die meisten Angriffe statt. Inzwischen haben die Menschen herausgefunden, wie man mit diesen Risiken umgeht: Es gibt einen staatlichen Alarm und mehrere Telegram-Kanäle, die den Grad der Gefahr je nach Art der Waffen angeben. Wir alle wissen, dass es riskanter ist, in den oberen Etagen zu wohnen, große Fenster zu haben oder in Vierteln zu leben, die in der Nähe von Umspannwerken liegen."

Wer von Kompromissen mit Russland träumt, dem rät Frank Nienhuysen in der SZ auf die jüngsten Äußerungen von Dmitrij Medwedjew zu hören: "'Odessa, komm zurück nach Hause', sagte Medwedjew in einer russischen Interviewrunde über die ukrainische Schwarzmeerstadt: 'Es ist unsere russische Stadt.' Auch Kiew steht immer noch oben auf seiner To-do-Liste, 'wenn nicht jetzt, dann irgendwann später'. Das sind schlechte Grundlagen für Verhandlungsfantasien." Ebenfalls in der SZ blickt Timothy Garton Ash zurück auf die Münchner Konferenz und stellt fest: Die westlichen Regierungschefs "schaffen es nicht, ihren jeweiligen Gesellschaften das Gefühl einer existenziellen Bedrohung zu vermitteln".

Wie sähe ein Frieden mit Russland aus? Gebiete, die von Russland besetzt sind, sind verloren, warnt Galia Ackerman in Deskrussie. Putin würde die Methoden des KGB-Vorgängers NKWD anwenden: "Gleichzeitig mit dem militärischen Kommando wird die politische Polizei installiert. Anhand von Listen, die mithilfe lokaler Kollaborateure und eingeschleuster Ermittler erstellt wurden, verhaftet sie reihenweise alle, die auf die eine oder andere Weise Widerstand leisten könnten: ehemalige Beamte, Mitglieder verschiedener politischer Parteien, Lehrer, Professoren, Schriftsteller und generell alle, die zu Recht oder Unrecht verdächtig erscheinen. Einige werden sofort erschossen, andere in den Gulag oder ins sibirische Exil geschickt, wieder andere durchlaufen Filterlager, aus denen nur wenige körperlich und seelisch verstümmelt wieder herauskommen."

Noch beschönigen wir in Deutschland unsere Lage, so Jörg Lau in Zeit online: Aber "wir haben einen Feind, der mit allen uns verfügbaren Mitteln gestoppt werden muss... Denn dieses russische Regime hat uns als Feind identifiziert. Und es schert sich nicht darum, dass wir derartige absoluten Kategorien ablehnen. Putin sieht im Westen seinen Todfeind, den er immer weiter dämonisiert - als dekadent, böse, unwert. Auch die Ukraine wurde für Putin zum absoluten Feind ('Nazis'), seit sie den Weg in den Westen eingeschlagen hatte."

Muss man ein Literat sein, um Putins Wahnsinn zu begreifen und vor Augen stellen zu können? Viktor Jerofejw, der in der taz erklärt, warum "Gopnik" ein Putin-Roman ist (mehr heute in efeu), porträtiert den Finsterling im Feuilleton-Aufmacher der FAZ: "Den Zaren kann man nicht von der Magie der Macht losreißen, er badet förmlich darin. Darum ist der große Krieg mit der Ukraine auch kein Zufall, er stand schon lange auf der Agenda, denn der Zar weist noch eine andere Besonderheit auf: Er ist schrecklich schnell beleidigt und verzeiht Beleidigungen niemals. Die Ukraine hat ihn sowohl mit ihrem Drang nach Europa beleidigt als auch mit ihrem 'hinterfotzigen' Ungehorsam. Ebenso widerwärtig ist ihm das 'russophobe' Polen, das, so meint er, Hitler in den Zweiten Weltkrieg getrieben oder, anders gesagt, diesen provoziert habe."

Hendrik Kafsack und Katharina Wagner stellen im Wirtschaftsteil der FAZ die ganz konkreten Fragen: Was nützen die Sanktionen? Ihr Befund ist zwiespältig. Durch die Investitionen in die Rüstung ist die russische Wirtschaft sogar noch gewachsen. Zugleich läuft das System auch auf Reserven aus dem Nationalen Wohlfahrtsfonds, die demnächst verbraucht sind. Ziel der Sanktionen müsse es sein, "dass Putin weniger Geld habe, das er in die Rüstung stecken könne. In diesem Sinne wirkten die Sanktionen natürlich, sagt der in Barcelona lehrende Ökonom Ruben Enikolopow: Ohne sie würde Russland noch deutlich mehr Geld verdienen. Nur könne der Effekt noch größer sein, wenn die Umsetzung strukturierter wäre. Brüssel und Washington müssten eine Infrastruktur aufbauen, Organe schaffen, die die Einhaltung der Sanktionen überwachen, sagt Enikolopow."
Archiv: Europa

Geschichte

Buch in der Debatte

Bestellen Sie bei eichendorff21!
Der Historiker Frank Bösch, Autor von "Deals mit Diktaturen", zeichnet im Gespräch mit Till Schmidt von der taz kein besonders sympathisches Bild von Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Unter dem Deckmantel friedlicher Gesinnung, weil man ja aus der Geschichte gelernt habe, zielte die Politik - vor allem übrigens seit Helmut Schmidt - auf Kungelei mit Diktaturen um der ökonomischen Vorteile willen. Da zählte noch nicht mal der Einspruch Amerikas: "Brasilien und der Iran etwa erhielten trotz der US-Proteste deutsche Atomkraftwerke. Ebenso baute die Regierung Schmidt die Zusammenarbeit mit Libyen aus. Libyen wurde zum größten Handelspartner der BRD in Afrika - obwohl Gaddafi ein unberechenbarer Diktator war, gegen Israel agitierte und seit dem Münchener Olympia-Attentat 1972 als Unterstützer des internationalen Terrorismus bekannt war. Wegen des libyschen Öls galt die Kooperation als unumgänglich. Riesige Hermes-Deckungen sicherten die Investitionen und den Handel ab. Die USA hingegen bauten in den 1980ern ihre Sanktionen gegen Libyen aus."

Ebenfalls in der taz erinnert Julian Weber an den Prozess gegen Hitler vor hundert Jahren und den Beitrag der Justiz zu dessen aufhaltsamem Aufstieg.
Archiv: Geschichte

Medien

Für Unruhe in den sozialen Medien sorgt ein doch etwas kaltschnäuziger Titel der SZ.

Andrian Kreye resümiert in der SZ eine Konferenz über die Auswirkungen der KI auf die Medienbranche. Die Muster, die er schildert, sind die üblichen: Man ergeht sich in apokalyptischen Szenarios und Appellen an die Regulierer - und will vor allem etwas von dem vielen schönen Geld ab: "In den USA ist man schon weiter. Dort gibt es neben der Klage der New York Times mehrere Sammelklagen von Urheberrechtsinhabern gegen Firmen wie OpenAI, Microsoft, Google und Meta. In Deutschland und Europa noch nicht."
Archiv: Medien
Stichwörter: Künstliche Intelligenz

Ideen

"Degrowth"-Anhänger wie Niko Paech oder Ulrike Herrmann lesen sich als links. Aber der Linke Stefan Laurin rät bei den Ruhrbaronen von ihren Ideen ab und empfiehlt, auf Optimismus und technischen Fortschritt zu setzen: "Anstatt der reaktionären Degrowth-Doktrin zu folgen, käme es jetzt darauf an, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die Durchbrüche neuer Technologien ermöglichen. Und diese Rahmenbedingungen sind vor allem in Europa und Deutschland nicht gegeben. Technik war immer ein Treiber auch des gesellschaftlichen des Fortschrittes. Autoritäre Ideologien, und zu denen gehört die Postwachstumsideologie, arbeiten mit Angst. Sie wollen die Menschen nicht befreien, wollen nicht, dass sie ein gutes Leben haben, sondern dass sie sich aus Furcht fügen."
Archiv: Ideen
Stichwörter: Degrowth