9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Geschichte

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.03.2024 - Geschichte

Kerstin Schweighöfer berichtet in der FAZ über die Eröffnung des Holocaust-Museums in Amsterdam (die Gäste mussten sich den Weg durch ein Spalier propalästinensischer Demonstranten bahnen, die sich an der Anwesenheit des israelischen Staatspräsidenten störten): "Anders als viele andere Holocaustmuseen wurde das Amsterdamer Institut bewusst hell und lichtdurchflutet gestaltet. 'Die Farbe des Holocaust ist weiß', sagt (Mitbegründer Emile) Schrijver. 'Es war nicht dunkel, es geschah am helllichten Tag.' Auch in den Niederlanden schauten viele Menschen weg. Ein zweiter Unterschied zu ähnlichen Museen besteht darin, dass sich das Amsterdamer Institut an einem historischen Ort befindet. Es musste nichts inszeniert werden. Die Schouwburg war der Ort, an dem Denunzianten ihr Kopfgeld abholen konnten. Sieben Gulden fünfzig für jeden aufgespürten Juden."
Stichwörter: Holocaust-Museum, Amsterdam

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.03.2024 - Geschichte

Der Autor Matthias Jügler erzählt iin "Bilder und Zeiten" (FAZ) die alptraumhafte Geschichte der Karin S. aus Sachsen-Anhalt, die überzeugt ist, dass die DDR ihr ihr neugeborenes Baby weggenommen und für tot erklärt hat. Wahrscheinlich ist das Kind woanders unter anderem Namen aufgewachsen. Offenbar ist diese besondere Perfidie von den Behörden der DDR häufiger ausgeübt worden: "Vermutlich haben die allermeisten schon von Zwangsadoptionen in der DDR gehört: Damit aus Kindern von 'Staatsfeinden' systemtreue DDR-Bürger wurden, hat man sie zwangsadoptiert. Kinder aber für tot zu erklären, obwohl sie es nicht sind - dass es diese Praxis in der DDR gab, davon wissen vermutlich nur die wenigsten. Im Zuge meiner Recherchen habe ich viel mit Andreas Laake gesprochen. Er ist der Gründer der 'Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR'. Mehr als zweitausend Mütter, so sagt er, haben sich bei ihm in den letzten Jahren gemeldet, darunter auch Karin, und alle äußerten den begründeten Verdacht, dass ihr Kind in der DDR zwar für tot erklärt wurde, heute aber noch lebt."
Stichwörter: DDR, Zwangsadoptionen

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.03.2024 - Geschichte

Der Historiker Franz Walter versucht in der FAZ eine Ehrenrettung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, das vor hundert Jahren gegründet wurde und in dem sich die demokratischen Parteien der Weimarer Republik gegen die Milizen der Nazis und Kommunistien verteidigten: "Anfang der Dreißigerjahre hatten sich dem Bund bis zu zwei Millionen Mitglieder, vielleicht mehr, angeschlossen, wodurch er mehr Männer vereinte als alle antirepublikanischen Organisationen zusammengenommen." Das Reichsbanner setzte sich unter anderem durch Bildungsarbeit und Kampf gegen Antisemitismus von Rotfront und SA ab: "Die Gefahren des Nationalsozialismus unterschätzte das Reichsbanner nicht, auch wenn dergleichen Urteile bis heute kolportiert werden. Schließlich taten es sich die Mitglieder des Reichsbanners nicht aus Langeweile an, alle paar Tage Dienst in ihrem Verband zu schieben, Schulungsabende auf sich zu nehmen und bei Straßenkämpfen Prügel oder gar Schussverletzungen zu riskieren. Sie wussten schon genau, dass es um das Ganze ging."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.02.2024 - Geschichte

Lucien Scherrer erinnert in der NZZ an die Slansky-Prozesse in Prag 1952, die Teil der antisemitischen Kampagne im späten Stalinismus war. Einer der Angeklagten war Rudolf Margolius, der vor Gericht ein erfoltertes Geständnis ablegte, bevor er hingerichtet wurde, Scherrer trifft auch Margolius' 1947 geborenen Sohn Ivan Margolius, der heute in London lebt und auch heute noch um die Rehabilitierung seines Vaters kämpft. Bücher und Filme gibt es einige zum Thema, auch von Ivan Margolius selbst: "Dennoch werden die seelischen und die politischen Verheerungen, die der Prager Schauprozess angerichtet hat, bis heute unterschätzt. Das Schicksal der Familie Margolius zeigt, wie Diktaturen Menschen zerstören und wie linksextreme Ideologen Prinzipien wie Frieden, Antifaschismus und den Kampf gegen Nazis missbraucht haben, um politische Verbrechen zu legitimieren. Es offenbart auch die Ursprünge jenes 'antizionistischen' Hasses auf Juden und auf Israel, der sich derzeit an propalästinensischen Kundgebungen in Zürich, Berlin, New York und anderen Städten entlädt."

In der taz stellt Anna Lindemann den Niederländer Salo Muller vor, dessen Eltern 1942 erst mit Zügen der Niederländische Staatsbahn und dann der Reichsbahn nach Auschwitz deportiert wurden, wo sie ermordet wurden. Die Staatsbahn hat er schon dazu gebracht, den Opfern und Hinterbliebenen 50 Millionen Euro Entschädigung zu zahlen. Jetzt ist die Deutsche Bahn am Zuge. Aber die will nicht zahlen. Rechtlich ist sie dazu nicht verpflichtet, lernt Lindemann von dem Historiker Constantin Goschler. Dennoch sollte es "eine Debatte über Teilverantwortung geben. Das Unternehmen habe Tausende Menschen wissentlich in Viehwagen in den Tod transportiert und niemand habe versucht, das zu stoppen. Das sei der wichtige Punkt: 'Die Bahn hat eine Rolle im arbeitsteiligen Prozess der Massenermordung eingenommen. Und das muss sie genauso einsehen: Sie hat einen Beitrag zum Holocaust geleistet', so Goschler. Auch [Mullers Anwalt] Klingner fordert, dass die Bahn moralische Verantwortung für die 7.000 niederländischen Opfer und Hinterbliebenen übernimmt. Er sagt, das gehöre auch zur Prävention, zu einem 'Nie wieder'. Gerade in Zeiten, in denen die AfD in Parlamente gewählt wird und die Anzahl an antisemitischen Straftaten steigt. Deshalb versuche er öffentlich Druck aufzubauen, Verbündete in der Politik zu finden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.02.2024 - Geschichte

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Der Historiker Frank Bösch, Autor von "Deals mit Diktaturen", zeichnet im Gespräch mit Till Schmidt von der taz kein besonders sympathisches Bild von Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Unter dem Deckmantel friedlicher Gesinnung, weil man ja aus der Geschichte gelernt habe, zielte die Politik - vor allem übrigens seit Helmut Schmidt - auf Kungelei mit Diktaturen um der ökonomischen Vorteile willen. Da zählte noch nicht mal der Einspruch Amerikas: "Brasilien und der Iran etwa erhielten trotz der US-Proteste deutsche Atomkraftwerke. Ebenso baute die Regierung Schmidt die Zusammenarbeit mit Libyen aus. Libyen wurde zum größten Handelspartner der BRD in Afrika - obwohl Gaddafi ein unberechenbarer Diktator war, gegen Israel agitierte und seit dem Münchener Olympia-Attentat 1972 als Unterstützer des internationalen Terrorismus bekannt war. Wegen des libyschen Öls galt die Kooperation als unumgänglich. Riesige Hermes-Deckungen sicherten die Investitionen und den Handel ab. Die USA hingegen bauten in den 1980ern ihre Sanktionen gegen Libyen aus."

Ebenfalls in der taz erinnert Julian Weber an den Prozess gegen Hitler vor hundert Jahren und den Beitrag der Justiz zu dessen aufhaltsamem Aufstieg.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.02.2024 - Geschichte

In der FR erinnert Arno Widmann an die Gründung des "Reichsbanner Schwarz Rot Gold" vor hundert Jahren, also des Wehrverbands der demokratischen Parteien in der Weimarer Republik. Mit ungefähr drei Millionen Mitgliedern war er der damals größte Wehrverband. "Wir sprechen heute wieder von 'wehrhafter Demokratie'. Damals hatte das einen deutlich härteren Klang. Erstens ging es tatsächlich auch um Straßenkampf. Zweitens aber durfte Deutschland - das waren die Bestimmungen des Versailler Vertrages - nur über ein sehr limitiertes Kontingent an bewaffneten Truppen verfügen. 'Wehrhaft' war also nach innen und nach außen eine riskante Ansage. Sie war außerdem auch noch eine Misstrauenserklärung gegenüber der Reichswehr, der man immer mehr zutraute, sich im Zweifelsfall gegen die Republik zu stellen. Die Millionen überzeugten Republikaner des Reichsbanners waren so etwas wie eine Schutztruppe der Weimarer Republik. Sie waren aber natürlich zunächst einmal der Beleg dafür, dass Weimar nicht zum Scheitern verurteilt war."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.02.2024 - Geschichte

In der NZZ erinnert Ulrich M. Schmid an die Ausbürgerung Alexander Solschenizyns 1974, die die Sowjet-Führung anordnete. Anlass bot damals die Veröffentlichung des "Archipel Gulags" und der "Brief an die sowjetische Führung". "Für seine Heimat empfahl Solschenizyn keineswegs die Demokratie, die er von manipulierten Emotionen und Ränkespielen geprägt sah. Er wünschte sich ein autoritäres System, das aber die bürgerlichen Freiheiten respektieren solle. (...) Überhaupt zog Solschenizyn bereits in diesem Brief gegen die 'katastrophale Schwäche des Westens' vom Leder. (...) Russland habe sich zwar entschlossen, zum Westen zu gehören, aber im Gegensatz zu Europa und den Vereinigten Staaten blieben dem weniger entwickelten Russland noch zwanzig Jahre bis zum Ende der Sackgasse. Diese Zeit gelte es jetzt zu nutzen. Solschenizyn bezeichnete dabei den 'nationalen Egoismus' als hohen politischen Wert. Bereits im 'Brief an die sowjetische Führung' sind also alle Elemente angelegt, die Anfang der 2000er Jahre zum historisch unwahrscheinlichen und ideologisch naheliegenden Schulterschluss zwischen dem ehemaligen Lagerhäftling Solschenizyn und dem ehemaligen Geheimdienstoffizier Putin führten."

Deutschland war schon immer ein Export-Land, erklärt der Historiker Frank Bösch im Tagesspiegel-Interview mit Jan Kixmüller. Alte NS-Eliten gaben hierbei in den 1950ern den Ton an, mit wem Geschäfte gemacht werden sollten. "Die Kontinuität von NS-Eliten, etwa im Auswärtigen Amt und anderen Institutionen, förderte ein Verständnis für autoritäre Staaten. Viele Botschafter berichteten tolerant über Militärputsche und sahen diese als Garant für Sicherheit und Ordnung. Auch viele Unternehmen bewerteten die Ausschaltung von Gewerkschaften und Protesten als Stabilität. Mit Verweis auf die nationalsozialistische Vergangenheit argumentierten viele Eliten, dass die Deutschen nicht als 'Schulmeister' für Menschenrechte und Demokratie auftreten sollten. Die Linke argumentierte seit den 1960er Jahren genau umgekehrt: Gerade wegen unserer Vergangenheit sollten die Deutschen sich einmischen und Opfern helfen."

Arno Widmann erinnert in der FR an das Ende des Afghanistan-Krieges vor 35 Jahren, an dessen Ende eine Millionen Afghanen gestorben waren. "In Afghanistan mochte die Sowjetunion davon ausgegangen sein, dass ihr die blamable Niederlage, die das britische Weltreich hier Ende des 19. Jahrhunderts erlitten hatte, erspart bleiben würde, weil es inzwischen Flugzeuge gab, die auch in entlegensten Bergtälern versteckte Stellungen bombardieren konnten. Aber es gab inzwischen auch leicht transportierbare Abwehrraketen. Und die USA statteten den afghanischen Widerstand großzügig damit aus. Angebot erzeugt Nachfrage: In Windeseile entstanden immer neue kampfbereite Gruppierungen (...). Auch die Frage der Verschleierung oder Nichtverschleierung von Frauen spielte eine Rolle. Sie alle wurden von den USA und ihren Verbündeten - zu denen damals in der Afghanistanpolitik die Volksrepublik China zählte - mal mehr, mal weniger massiv unterstützt."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.02.2024 - Geschichte

"Der Umgang der NS-Behörden mit Schwarzen war insgesamt widersprüchlich", sagt die Historikerin Susann Lewerenz im taz-Gespräch: "Klar ist aber, dass es früh rassistische Ausgrenzung sowie individuelle Verfolgung durch Polizei und politische Gruppierungen gab. Ein Einschnitt war die Ermordung des Schwarzen Kommunisten Hilarius Gilges 1933 wohl durch SS und SA in Düsseldorf. Überhaupt wurden Schwarze Linke, die sich in den 1920er-Jahren im Zuge der Antikolonialismus-Bewegung zusammengefunden hatten, gleich nach der Machtübergabe an Hitler 1933 massiv verfolgt." Aber: "1934 gab es eine Diskussion zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Reichsinnenministerium darüber, ob man Menschen aus den ehemaligen Kolonien aus der Diffamierung ausnehmen könnte. Das hatte nichts mit Menschenfreundlichkeit zu tun, sondern man glaubte die an Frankreich und Großbritannien verlorenen Kolonien auf diplomatischem Wege zurückbekommen zu können. Daher sollten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, die den Deutschen ohnehin ihre Grausamkeit in den Kolonien vorwarfen, nicht sagen können, dass Schwarze Menschen aus den Kolonien auch hierzulande diskriminiert würden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.02.2024 - Geschichte

In georgischen Tbilissi wurde die Ikone der heiligen Matrona von Moskau, von der Stalin 1941 den Segen zum Sieg über Deutschland erhalten haben soll, mit Farbe besprüht, was auch in Russland für Empörung sorgte, berichtet Konstantin Akinsha in der NZZ. An der Figur, die die russisch-orthodoxen Kirche erst 1993 heiliggesprochen hat, lässt sich das Verhältnis von der Kirche zu Stalin ablesen, meint Akinsha: "Der Kult um die heilige Matrona ist von zentraler Bedeutung, da er zur Verschmelzung zweier Ideologien beiträgt - des orthodoxen Christentums und des militaristischen Kults von Putin um den großen Sieg im 'Vaterländischen' Krieg. Auch heute braucht Russland verzweifelt ein Wunder, um den Sieg über die sogenannten ukrainischen Faschisten zu erringen. Um dieses Ziel zu erreichen, scheinen Putin und Patriarch Kirill bereit zu sein, in ihren Gebeten den heiligen Stalin anzurufen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.02.2024 - Geschichte

Gerade gegen Ende entfaltete der europäische Kolonialismus noch äußerste Gewalt, schreibt der Afrikanist Andreas Eckert in der virtuellen FAZ-Beilage "Bilder und Zeiten" und erinnert etwa an das Wüten der Briten zur Zeit des Mau-Mau-Aufstands mit 20.000 Toten. Und doch lässt sich für Eckert Kolonialismus nicht auf ein einseitiges Gewaltgeschehen reduzieren, denn "der koloniale Staat stand auf dünnem Eis. Er brauchte die Legitimität und die Erzwingungsmacht einheimischer Autoritäten, um Steuern einzutreiben und Arbeitskräfte zu mobilisieren. Und er brauchte lokales Wissen. Diese Konstellation ließ Zwischenräume entstehen, in denen sich diverse einheimische Gruppen Möglichkeiten schufen, ihre Interessen in und mit dem Kolonialismus durchzusetzen. Dies galt etwa für jene Einheimischen, die in der kolonialen Verwaltung tätig waren."