9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Geschichte

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.03.2023 - Geschichte

Unter lastseen.org sammeln einige Gedenkstätten Fotodokumente von Deportationen jüdischer Mitbürger unter den Nazis. Klaus Hillenbrand stellt die Datenbank in der taz vor. Es "überwiegen die Bilder aus kleineren Orten, aus Berlin oder Hamburg konnte bis heute kein einziges Deportationsfoto entdeckt werden. Akim Jah von den Arolsen Archives erklärt, warum das so ist: 'Deportationen waren kleinstädtische Sensationen.' Hier gab es keine Stapoleitstelle, stattdessen halfen Mitarbeiter vom Rathaus und vom Landratsamt aus, ganz zu schweigen von Ordnungspolizisten, Lkw-Besitzern und Eisenbahnbediensteten. Fotografieren war dabei zwar nicht ausdrücklich verboten, aber jedem Zeitgenossen war doch klar, dass man da vorsichtig sein musste. Das erklärt, warum manche der Bilder verwackelt sind und offenbar aus der Hüfte geschossen wurden."
Stichwörter: Holocaust

9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.03.2023 - Geschichte

Willy Brandts Ostpolitik, die Anerkennung von Polens Westgrenze, war politisch und historisch richtig, schreibt Joachim Käpnner in der SZ: "Die Probleme, die in die Verkennung des Putin'schen Imperialismus führen sollten, begannen erst viel später. Schon in der Ära Kohl fiel es der nun wieder in die Opposition verbannten SPD auffällig schwer, sich mit den Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa, selbst in der DDR, solidarisch zu zeigen. Sie schienen die Realpolitik zwischen Staaten und Blöcken zu gefährden. Der Fehler der deutschen Russlandpolitik nach dem Zerfall der Sowjetunion war es dann aber nicht, überhaupt einen Kurs der Entspannung zu verfolgen. Was anderes hätte man denn versuchen sollen? ... Das Problem war, diesen Kurs nach der Annexion der Krim und des Donbass 2014 fortzusetzen, als sei sie blind und taub zugleich für das Abgleiten Putins in neoimperialistisches Weltmachtgebaren."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.03.2023 - Geschichte

Jasenovac in Kroatien war das größte Todeslager des Zweiten Weltkriegs, das nicht von den Nazis betrieben wurde. Über die kroatischen Täter unterhalb der Leitungsebene weiß man wenig, schreibt Michael Martens in der FAZ. Nun hat der dänische Historiker Emil Kjerte dazu geforscht. Er fand zum Beispiel heraus, dass viele Wächter aus der Herzegowina kamen: "Viele Männer aus der damals bitterarmen Region gaben den Werbern der Ustascha demnach vor allem aus einfachsten materiellen Gründen nach. Die Aussicht auf regelmäßige Mahlzeiten, festes Schuhwerk und eine beheizte Stube im Winter waren oft entscheidend. Das galt auch für kroatische Gastarbeiter, die unter schwierigsten Bedingungen in Belgien lebten und so empfänglich für Ustascha-Propaganda wurden." Das weibliche Personal war dagegen ideologisch motivierter, so Martens, denn sie mussten sich für den Einsatz im Lager aus eigener Initiative bewerben.
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9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.03.2023 - Geschichte

Die Hohenzollern haben, so heißt es auch in brav referierenden Medien, "Verzicht" auf ihre angeblichen Ansprüche geleistet. Sie wollten bekanntlich Tausende von Kunstwerken und Immobilien zurück, die ihnen wegen der Naziverstrickungen des letzten deutschen Kronprinzen Wilhelm von Preußen genommen worden waren. Diesen hatten sie in einer systematisch aufgezogenen PR-Kampagne als harmlosen eitlen Clown dargestellt, der überhaupt keinen Einfluss auf den Gang der Ereignisse genommen hätte. Der Historiker Stephan Malinowski, der in der Sache das maßgebliche Buch geschrieben hat, lässt ihnen das in der FAZ nicht durchgehen. Die zugleich mit dem "Verzicht" präsentierten neuen Quellen wiederholen laut Malinowski nur Altbekanntes. Sein Urteil bleibt vernichtend: "Es ist nicht leicht zu erkennen, über wen oder was genau nun noch debattiert werden soll. Im juristischen Sinn ist die angekündigte Klagerücknahme gleichbedeutend mit einer verlorenen Gerichtsverhandlung. Die Klagerücknahme macht den im Jahr 2015 von der zuständigen Potsdamer Behörde erlassenen Ablehnungsbescheid bestandskräftig. Hätte man eine offene Debatte gesucht und die oft angerufene historische 'Verantwortung' empfunden, dann hätte die Familie statt der Zusammenarbeit mit einem kleinen Kreis bevorzugter Historiker bereits vor zehn Jahren eine internationale, unabhängige und mit NS-Spezialisten besetzte Historikerkommission anregen können."

In der NZZ erinnert Jürgen Pelzer an den lange Zeit vergessenen Massenmord an der jüdischen Bevölkerung in Griechenland, der im März 1943 in der "Mutter Israels" genannten Stadt Saloniki begann: Am 15. März 1943 verließ "der erste Transport mit 2600 in Viehwaggons eingepferchten Menschen die Stadt. Bis zum August folgten regelmäßig weitere Transporte. Insgesamt gelangten ungefähr 48 000 Menschen nach jeweils fünf Tagen Fahrt nach Auschwitz. Etwa 37 000 Menschen wurden sofort nach ihrer Ankunft getötet, weitere 8000 bis 9000 gingen an Zwangsarbeit, Krankheiten und Unterernährung zugrunde. Am Ende des Krieges bestand die sephardische Gemeinde Saloniki aus einer Gruppe von etwa 1200 Menschen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.03.2023 - Geschichte

Die Hohenzollern verzichten endlich auf einen Teil ihrer angeblichen Ansprüche. Aber wie demokratisch ist der Adel in Deutschland, fragt der Historiker Steffen Greiner in der taz. Anders als in Österreich wurde der Adel hierzulande nicht abgeschafft: Und "demokratisch lässt sich besonders gut sein, wenn man sich sicher auf der Gewinnerseite wähnen kann. Wie die vielen adligen Familien, die noch immer auf den Reichenlisten auftauchen - oder scheinbar erblich in Führungspositionen in Unternehmen, Kultur, Medien. Oder wie einst der CSU-Politiker und Ex-Kronprinz Otto von Habsburg, der mit gleich vier Staatsangehörigkeiten eine Partei vertrat, die rassistisch Stimmung gegen die doppelte machte. Man bleibt dann eben doch ein bisschen edler."
Stichwörter: Adel, Hohenzollern

9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.03.2023 - Geschichte

Bildrecherchen sind ein wenig aus der Mode gekommen, aber durchaus sinnvoll, wie der Historiker Andreas Kötzing in einem interessanten Thread zeigt.




Die FAZ druckt Eva Menasses Rede zum Gedenken an die Proteste in der Rosenstraße von 1943, mit denen nichtjüdische Frauen ihre jüdischen Ehemänner aus der Gestapo-Haft herausbekamen. Umgekehrt ließen sich übrigens die meisten nichtjüdischen Männer von ihren jüdischen Frauen scheiden. Auch Menasses katholische Großmutter blieb mit ihrem jüdischen Mann verheiratet. Menasses Schlussfolgerung: "Mit einem glasklaren Satz von Michel Friedman: 'Wenn du mit deinem Argument recht hast, brauchst du nicht Auschwitz dafür. Wenn du nicht recht hast, nützt dir Auschwitz auch nichts, aber du hast es missbraucht.' Gerade weil wir an der Schwelle stehen, die Erinnerung an die NS-Verbrechen ohne die letzten Zeitzeugen in die Zukunft tragen zu müssen, glaube ich, dass es an der Zeit wäre, die Genealogien zu verlassen, mit der heutige Debattenteilnehmer in Nachfahren von Täter- und Opferfamilien sortiert werden oder sich selbst sortieren. Zur Beglaubigung einer produktiven Position braucht es das nicht mehr. Die Ermordung meiner Urgroßmutter Berta Menasse in Theresienstadt stützt genauso wenig irgendeine meiner Meinungen, wie es sie entwertet, dass ihre Schwiegertochter, meine tapfere Großmutter Dolly, nicht formell zum Judentum übertrat. Andere Kriterien sind wichtiger geworden, historische Expertise, moralische Standfestigkeit, Sorgfalt und die Gelassenheit, auch andere begründete Meinungen ohne Empörung gelten zu lassen."
Stichwörter: Rosenstraße, Menasse, Eva

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.03.2023 - Geschichte

Die Historikerin Alexandra Bleyer und der Literaturwissenschaftler Jörg Bong haben Bücher zur 48er-Revolution vorgelegt, die vor 175 Jahren niedergeschlagen wurde (hier und hier). In der Zeit legen sie ihre Positionen zu diesem Ereignis dar, das im deutschen Bewusstsein eine so geringe Rolle spielt. Aber selbst wenn der erste Anlauf scheiterte, die Ideen waren in der Welt, sagt Bleyer in dem von Christian Staas moderierten Gespräch. Bongs Resümee klingt bitterer: "So wahr es ist, dass die Ideen von 1848 nicht erschossen werden konnten, war die blutige Niederschlagung dieses demokratischen Frühlings nicht nur ein Scheitern, sondern eine Katastrophe, eine katastrophal verpasste Gelegenheit. Der Dichter und Revolutionär Georg Herwegh sprach von 'verpfuschter' Geschichte. Womöglich wäre die deutsche Geschichte tatsächlich anders, weniger fürchterlich verlaufen, wenn der Aufbruch gelungen wäre."

Auch Arno Widmann erinnert in der FR an den Anlass: "Am 9. März des Jahres 1848 beschließt der Bundestag des Deutschen Bundes in Frankfurt am Main: Die Farben Schwarz-Rot-Gold sind die Bundesfarben. Das ist der Sieg der Revolution."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.03.2023 - Geschichte

"280 Millionen Menschen weltweit haben in irgendeiner Form Deutsch gelernt oder sprechen es", in Frankreich wählen aber nur noch 15 Prozent Deutsch als Schulfach, schreibt der Sprachwissenschaftler Roland Kaehlbrandt, der in der SZ fordert, mehr für die deutsche Sprache zu werben und deshalb ihre Vorzüge preist: "Die deutsche Sprache wurde errungen, über Jahrhunderte, gegen Widerstände der Fürstenhöfe und auch gegen Teile der Wissenschaften und des Klerus. Oft war der Wunsch nach Exklusivität das Motiv, aus dem heraus die Elite-Sprachen Französisch und Latein der Volkssprache vorgezogen wurden. Diejenigen hingegen, die daran arbeiteten, das Deutsche als voll ausgebildete Sprache zu kodifizieren und durchzusetzen, hatten aufklärerische Absichten: Alle Bürger sollten die Sprache verstehen. Es war ein langer und steiniger Weg zur Hochsprache, immer wieder behindert durch Geringschätzung. Das Deutsche ist - anders als so manch andere Sprache - von unten, aus dem Volk heraus als Landessprache geformt und durchgesetzt worden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.03.2023 - Geschichte

Der Tod eines Tyrannen kann ein ganzes Land erlösen und mehr als ein Land. Peter Sturm erinnert in der FAZ an die Umstände von Stalins Tod vor genau siebzig Jahren. Stalin, so zeigte sich da, lebte in eisiger Isolation. Nach einem Saufgelage hatte er einen Schlaganfall. Als er sich am nächsten Morgen nicht blicken ließ, traute sich niemand nachzusehen. "Auch die nach Stalin angeblich mächtigsten Männer der Sowjetunion wagten es über Stunden nicht, sich vom Wohlergehen des Führers zu überzeugen. Als sie schließlich die Privaträume doch betraten und Ärzte hinzuzogen, lebte Stalin zwar noch, sein Zustand war aber so, dass ihm nicht mehr geholfen werden konnte."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.03.2023 - Geschichte

Armin Fuhrer erzählt im Spiegel, gestützt auf Recherchen des Historikers Jan Grabowski und seiner Kollegin Shira Klein, wie nationalistische polnische Historiker die englischsprachigen Wikipedia-Artikel zum Holocaust systematisch unterwanderten und im Sinne der polnischen Nationalmythen schönten und verfälschten: "Dabei, so der Vorwurf von Grabowski und Klein, spielten sie die Bedeutung des unbestritten in der polnischen Gesellschaft existenten Antisemitismus vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg herunter und rechneten die Zahl der dem deutschen Terror zum Opfer gefallenen Polen hoch, um sie der der Juden gleichzustellen." Der Artikel von Grabowski und Klein ist im Journal of Holocaust Research frei zugänglich.
Stichwörter: Wikipedia, Polen, Holocaust