9punkt - Die Debattenrundschau

Gut erprobte Methoden

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.03.2024. Eva Illouz wirft Judith Butler in einer fulminanten Replik für Le Monde "doppelten Negationismus" vor - wir zitieren ausführlich. Auch Butler hat sich nochmal geäußert. "Hinter dem Verschwinden verbirgt sich meist ein Verbrechen", schreibt  die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk über die historischen Traumata ihres Landes. Richard Herzinger fragt in der NZZ, ob Demokratien generell eine Tendenz zum Appeasement haben. Die taz stellt neue Erkenntnisse über den "progressiven" Pädagogen Helmut Kentler vor, der im Verein mit Gerold Becker von der Odenwaldschule ein Pädophilie-Netz in Deutschland unterhielt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.03.2024 finden Sie hier

Ideen

Eva Illouz antwortet in einer zornigen Intervention in Le Monde auf die jüngsten Äußerungen Judith Butlers, und spricht ihr die Attribute "links" und "feministisch" endgültig ab. Im Gegenteil, eine "Schlangenölverkäuferin" sei Butler, nicht einmal mehr zu Halbwahrheiten fähig. Mit Ekel nimmt Illouz die Verklärung der Hamas-Massaker zur Kenntnis, die Butler "mit der romantischen Vokabel des Widerstands" belege und von Antisemitismus freispricht. Zwei Passagen in Illouz' Text sind besonders niederschmetternd. Die eine betrifft Butlers "Feminismus". "Was sagt uns Butler am 3. März im Blick auf die unerhörte sexuelle Gewalt, die die Israelinnen in den Händen der Hamas erlitten haben, im Blick auf die Berichte der Presse, der Juristen, der Ärzte, der NGOs, die diese Ausschreitungen dokumentiert haben, im Blick auf die Bilder einer ermordeten jungen Frau, die in Gaza einer jubelnden Menge vorgeführt wird? Sie sagt, dass sie Beweise sehen will. Und sie sagt das mit dem skeptischen Schnütchen eines Polizisten vor fünfzig Jahren, der von einer Anklage erhebenden Frau Beweise sehen will." Diese Leugnung der sexuellen Gewalt durch Butler führt Illouz dann dazu, ihr "Negationismus" - das ist der ursprüngliche französische Begriff für Holocaustleugnung - vorzuwerfen. "Wie bei den Negationisten von einst liegt ihre Strategie darin, Zweifel zu säen: über die Realität der von den Frauen erlittenen Gewalt, über die genozidalen Absichten der Hamas, über die moralische Bedeutung der Massaker - die Henker werden freigesprochen, und die Opfer unter Verdacht gestellt, ja als imaginär dargestellt. Die Tatsache, dass Butler als Jüdin und als Frau geboren wurde, sollte uns nicht zurückscheuen lassen klarzustellen, dass wir es hier mit einem doppelten Negationismus zu tun haben: das Massaker an den Frauen betreffend und die Tatsache, dass Israelis ermordet wurden, weil sie Juden waren."

Von der deutschen  Presse (und uns) bisher nicht wahrgenommen wurde ein Artikel Butlers vor ein paar Tagen in Médiapart, wo sie nach ihren Äußerungen vom 3. März zwar nicht zurückrudert, aber einen weniger triumphalen Ton anschlägt. Dennoch bleibt sie dabei:"Der Angriff auf die Hamas im Oktober kam von der bewaffneten Fraktion einer politischen Partei, die den Gazastreifen verwaltet, und ich bin weiterhin bereit, diesen Angriff als eine Form des bewaffneten Widerstands gegen die Kolonisierung und die andauernde Belagerung und Enteignung zu beschreiben. Dies läuft jedoch nicht auf eine Verherrlichung ihrer Gräueltaten hinaus." Den Antisemitismus der Taten scheint sie diesmal nicht in Frage zu stellen: "Antisemitismus und antiarabischer Rassismus müssen gleichermaßen bekämpft werden". Abschließend stellt sie "mit Traurigkeit fest, welche Anstrengungen unternommen werden, um meine Aussagen und meine Arbeit zu verzerren und zu karikieren".

Richard Herzinger beobachtet in der NZZ "eine Tradition der Unterschätzung totalitärer Aggressoren, angesichts deren sich die Frage stellt, ob es einen strukturellen Hang von Demokratien zum Appeasement gibt. Nicht nur gegenüber Putin, auch gegenüber dem Iran und seinen Proxies in Israel falle der Westen in in Verhaltensmuster der dreißiger Jahre zurück. In der Geschichte gab es diese Beschwichtigung sowohl gegenüber dem Nationalsozialismus wie auch gegenüber Kommunismus. Einer von mehreren Faktoren dabei ist paradoxer Weise jener Kapitalismus, ohne den Demokratien nicht leben können: "Die Priorisierung des kurzfristigen ökonomischen Vorteils vor vermeintlich 'weltfremder' demokratischer Moral zieht häufig einen Werterelativismus nach sich, der postuliert, man dürfe nichtwestlichen Kulturen nicht "unsere" normativen Maßstäbe 'aufzwingen'. Dieses scheinbar von Respekt vor kultureller Vielfalt zeugende Argument wird gerne von Wirtschaftsführern vorgeschoben, wenn es ihnen in Wahrheit um ungehinderte Geschäftsbeziehungen mit Despotien geht."

Außerdem: In der taz spricht Harald Welzer mit Nisa Eren über die Relevanz der Kategorien "Ost" und "West".
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Politik

Ein Autorenteam der NZZ geht sehr nüchtern die Berichte über sexuelle Gewalt am 7. Oktober durch und spricht mit israelischen Ärzten und anderen Offiziellen. Einige der Berichte, die nach dem 7. Oktober kursierten, haben sich als falsch erwiesen. Aber die Autoren resümieren: "Sexualisierte Gewalt in militärischen Konflikten wird fast nie vollständig aufgeklärt - erst recht nicht bei einem solch massiven Überraschungsangriff, wie ihn die Hamas am 7. Oktober durchgeführt hat. Dennoch: Es existieren klare Hinweise, dass die Terroristen nicht nur gefoltert und gemordet haben. Augenzeugen berichteten von Vergewaltigungen während des Angriffs und sexuellem Missbrauch in Geiselhaft. Geborgene Leichen deuten auf Sexualverbrechen hin und weisen Verstümmelungen im Genitalbereich auf. Die Uno registrierte ein Muster von Frauenleichen, die an Bäumen und Stangen gefesselt waren, von der Taille abwärts oder vollständig entkleidet."
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Gesellschaft

Neue Berichte belegen ein weiteres Mal, dass der Sexualpädagoge Helmut Kentler "im Namen progressiver Pädagogik" Kinder und Jugendliche zu Pädosexuellen schickte, die sie mit seiner stillen Billigung - und der der Behörden - missbrauchten. Das ganze geschah in Berlin in den achtziger Jahren. Nina Apin berichtet in der taz. "Kentlers Grundthese dabei: Da sie Interesse an einer sexuellen Beziehung mit den Jungen hätten, würden sich die Pädosexuellen besonders viel Mühe mit ihnen geben. Die Pflegestellen wurden unter der Zuständigkeit und, davon muss man ausgehen, mit dem Wissen zumindest einiger Verantwortlicher des zuständigen Jugendamtes eingerichtet. In den folgenden Jahrzehnten verstand es Kentler, solche sexuellen Ausbeutungsverhältnisse als progressive Pädagogik zu verkaufen. Unkonventionelle Ansätze in der Jugendhilfe waren in Mode und Kentler besaß Renommee, unter anderem durch sein Engagement in der evangelischen Jugendarbeit." Die taz hatte vor Jahren zum ersten Mal über Kentler berichtet, hier unsere Resümees. Neuer Aspekt bei der Sache. Kentlers Aktivitiäten gingen weit über West-Berlin hinaus: "Vom Berliner Jugendamt betreute Kinder wurden regelmäßig an die hessische Odenwaldschule geschickt, in die Familie des pädosexuellen Schulleiters Gerold Becker. Dieser hatte mit Kentler am Pädagogischen Zentrum in Göttingen studiert, man war befreundet."

Der in San Francisco lehrende Sozialwissenschaftler Jan Voelkel hat für eine große Studie Ideen gesammelt, die gegen die grassierende Polarisierung helfen. Einige stellt er im Gespräch mit Antje Lang-Lendorff von der taz vor. "Ein Video, das von einem Bierunternehmen vor einigen Jahren gedreht wurde, hatte den größten Effekt. In dem kurzen Film sieht man sechs Menschen, die sich nicht kennen und die mithilfe einer Anleitung jeweils zu zweit eine Bar aufbauen sollen. Sie verstehen sich gut. Erst am Ende erfahren sie, dass sie komplett andere Meinungen vertreten, zu Feminismus, Klimawandel, transgender. Trotzdem entscheiden sie sich dafür, an der Bar ein Bier miteinander zu trinken und über ihre Meinungen zu diskutieren. Sie reden sehr respektvoll miteinander."

Über ähnliche Themen spricht die Philosophin Romy Jaster mit Lea De Gregorio, ebenfalls von der taz. Sie betrachtet klassisch habermasianisch das Internet als verantwortlich, da die "Gatekeeper" -Medien nicht mehr die Macht haben, die Schäfchen zu hüten: "Es gibt natürlich immer noch Medien, die hohe Zugangshürden und Qualitätsstandards haben, aber man kann sie heute auch umgehen."

Auch der Historiker Norbert Frei beklagt in seiner SZ-Kolumne "die Konsequenzen jener Kommunikationsrevolution, die in den frühen Neunzigerjahren mit der Einführung des World Wide Web einsetzte und die vor kaum zwanzig Jahren mit medienrechtlich völlig unregulierten sogenannten Plattformen ihre heutige Missgestalt anzunehmen begann". Und "derweil versteht sich die AfD perfekt darauf, den vor unser aller Augen sich vollziehenden Strukturbruch der Öffentlichkeit - das Wort vom 'Strukturwandel' trifft es nicht mehr - für ihre demokratieverachtenden Zwecke zu nutzen." Die Geschichte zeigt, das schon Hitler ohne Facebook gar nicht möglich gewesen wäre!
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Europa

In einem ergreifenden Text für die NZZ stellt uns die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk die Ukraine als ein Land vor Augen, das in einer dunklen Tradition des Verschwindens steht: "Wir verschwinden und verschwinden, und am Ende sind wir doch noch ein bisschen da, heute vielleicht sogar mehr als je zuvor. ... Überhaupt könnte man in meinem Land, hätte man das Ziel, in jeder noch so kleinen Ecke ein Museum des Verschwindens einrichten. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich komme aus der Leere, die darauf folgt. Und meine zweite Erkenntnis lautet so: Hinter dem Verschwinden verbirgt sich meist ein Verbrechen. Die Täter täuschen, und sie tarnen sich. Das Verschwindenlassen gehört zu ihren gut erprobten Methoden, mit der Absicht, ungestraft davonzukommen. Um weiter verschwinden zu lassen."

Putin wird wohl demnächst in Polen einmarschieren. Sicherster Indikator dafür ist eine Äußerung Sahra Wagenknechts im taz-Interview: "Dass Russland demnächst Polen überfällt, halte ich für abwegig." Die tazler erheben den Einwand: "Sie haben auch den Überfall auf die Ukraine für abwegig gehalten." Aber darauf antwortet Wagenknecht: "Das stimmt nicht. Ich habe damals bei Anne Will gesagt, dass die Russen eine mögliche Nato-Mitgliedschaft im schlimmsten Fall militärisch verhindern werden. Ich habe nur nicht gedacht, dass das direkt bevorsteht."

Berthold Kohler hat in der FAZ zwar ein gewisses Verständnis für Olaf Scholz' Zögern in der Frage der Taurus-Lieferung, aber klar ist auch: "Nach zwei Jahren Krieg muss allerdings nicht mehr Putin die Niederlage fürchten, sondern die Ukraine. Der Taurus allein entscheidet darüber nicht. Dessen Einsatz könnte den Verteidigern aber helfen, ein neuerliches Vordringen der russischen Angreifer zu verhindern. Überrollten diese das erschöpfte Land, dann stünde Putins Invasionsarmee an der Grenze zu vier NATO-Staaten. Dann würden sich auch Berlin ganz andere Fragen stellen als bisher. Es ist im höchsten Interesse Deutschlands, dass Putin noch in der Ukraine gestoppt wird."

Bei Twitter wird inzwischen über eine Recherche in t-online.de gestritten, die den "wahren Grund, warum Scholz keine Taurus liefert" zu enthüllen verspricht und Scholz' Zögern damit abstützt: Der "wahre Grund" sei, dass Deutschland die Taurus-Reakten selber braucht. Die Recherche hat wegen der hier ausgeplauderten militärischen Geheimnisse zum Teil empörte Reaktionen ausgelöst, die t-online.de hier resümiert.

Außerdem: In der taz porträtieren Andreas Speit und Jean-Philipp Baeck den rechtsextremen Strippenzieher Gernot Mörig, der maßgeblich beim Potsdamer "Remigrations"-Treffen mitwirkte und auch schon andere derartige Treffen koordiniert hat.
Archiv: Europa