9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Gesellschaft

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.04.2024 - Gesellschaft

Der lange hoch angesehene, inzwischen verstorbene Berliner Sexualkundler Helmut Kentler ist weitgehend diskreditiert, seit aufgearbeitet wurde, dass er Problemkinder gern bei Pädophilen unterbrachte. Gerade wurde dazu an der Uni Hildesheim ein Bericht vorgelegt. Seine Lehren zur Förderung frühkindlicher Sexualität zirkulieren in Kitas und Schulen allerdings bis heute, wie ausgerechnet die Junge Freiheit herausgefunden hat, schreibt der Jugendforscher Martin Voigt in der FAZ: "Im Sog der 68er-Bewegung, als das Brechen der Schamgrenzen als Befreiung schlechthin galt, transformierte Kentler die Thesen der Sexualforscher Wilhelm Reich und Alfred Kinsey zu den 'genitalen Rechten der Kinder' in die Praxis deutscher Sexualerziehung. Kentler trat im Fernsehen auf, er schrieb Bestseller und regelmäßig in Illustrierten. Noch im Jahr 2000 wirkte er an einer Pro- Familia-Publikation zur Sexualforschung und Sexualerziehung über kindliche Sexualität mit. Niemand störte sich daran, dass er zentrale Thesen bei Kinsey entlehnte, der protokolliert hatte, wie oft man Kinder, teils im Säuglingsalter, zum Orgasmus bringen konnte."

Thomas Holl liest für die FAZ mehrere Berichte, wonach junge Frauen links, junge Männer dagegen rechts wählen. Amerikanische Medien sprechen schon davon, dass es in Wirklichkeit zwei "Gen Z" gebe. Auslöser sei unter anderem die #MeToo-Bewegung, berichtet Holl unter Bezug auf den deutschen Demokratieforscher Wolfgang Merkel: "Im Zuge dieser Bewegung, meint Merkel, erlebten und fürchteten Männer oft den Verlust ihres Status und ihrer Karriere. 'Männer müssen sich auf für sie ungewohnte Kommunikationsformen mit Frauen einlassen und können sich keine maskulinen Dominanzsprüche mehr leisten.' Das frustriere jene, die ihre neue Rolle noch nicht gefunden hätten oder sie gar nicht anstrebten. Als Folge dieser Verweigerung entwickelten viele junge Männer eine Neigung zu Parteien, die 'simplifizierend und illiberal sind, die Werten einer vergehenden Männlichkeit huldigen und undemokratische Ziele verfolgen'."

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Im Welt-Interview mit Jakob Hayner spricht die Journalistin Pauline Voss über ihr Buch "Krokodilstränen"; in dem sie den Wokismus kritisiert und erklärt, warum Michel Foucault sich als Galionsfigur dieser Bewegung eigentlich gar nicht eignet. Ihren Altersgenossen wirft sie vor, den Kampf gegen Diskriminierung zu instrumentalisieren: "Wenn man erfolgreich gegen Diskriminierung kämpfen würde, dann wäre man eines Tages selbst überflüssig. Weil es der Wokeness jedoch um die Diskursmacht und nicht um die Zustände geht, kann sie niemals an den Punkt kommen, wo sie ein vernünftiges politisches Ziel erreicht hat."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.04.2024 - Gesellschaft

Für die taz haben Patricia Hecht und Dinah Riese den 600seitigen Bericht der 18köpfigen von der Bundesregierung eingesetzten "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" gesichtet, der sich mit der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, Eizellenspende und altruistischer Leihmutterschaft beschäftigt und zu dem Schluss kommt: "Nach verfassungs-, völker- und europarechtlicher Prüfung sei die grundsätzliche Rechtswidrigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen 'nicht haltbar'". Bahnbrechend, so Hecht und Riese, sei, dass "zum ersten Mal hierzulande eine ernsthafte Abwägung der Grundrechte der Schwangeren und der Rechte eines Embryos vorgenommen wird. Ein Zwang zur Fortsetzung einer noch frühen Schwangerschaft stelle einen 'nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Grundrechte der Frau dar'. Je kürzer die Schwangerschaft bestehe, desto eher sei ein Schwangerschaftsabbruch zulässig. In den ersten drei Monate sollen Abbrüche demnach legal sein - offen lassen die Sachverständigen aber, ob das über weitreichende Ausnahmen im Strafrecht geregelt oder ob der Paragraf 218 ganz aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden sollte. In dem Fall könnte er durch ein eigenes Gesetz für reproduktive Rechte ersetzt werden."

"Das ist ein historischer Moment", sagt Alicia Baier, Ärztin und Mitbegründerin des Vereins Doctors for Choice Germany im taz-Gespräch. Die Umsetzung "würde bedeuten, dass wir Menschen- und Frauenrechte in Deutschland endlich achten. Nicht umsonst wurde die Bundesrepublik für ihre restriktive Rechtslage von der UN-Frauenrechtskonvention gerügt. Eine weitreichende Umsetzung würde Abbrüche endlich als das anerkennen, was sie sind: als wichtige medizinische Leistung statt als Straftat. Und es würde eine gute und gerechte Versorgung möglich, nicht zuletzt, indem der Eingriff Kassenleistung wird."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.04.2024 - Gesellschaft

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In ihrem gerade erschienenen Buch "Generation Krokodilstränen" rechnet die 1993 geborene, sich selbst als konservativ bezeichnende Journalistin Pauline Voss mit der woken Ideologie ab, deren Vertretern sie vorwirft, keine Meinungsvielfalt zuzulassen und sich immer auf einen Opferstatus zu berufen, wie sie im Gespräch mit der Berliner Zeitung sagt: "In politischen Diskussionen ist immer wieder die Rede von Schmerz. Dieser Schmerz ist aber oft nicht echt, sondern simuliert: Man beklagt sich über sogenannte Mikroaggressionen. Zum Beispiel über die Frage 'Wo kommst du her?', über Komplimente, die als sexistisch gewertet werden, oder vermeintlich diskriminierende Wörter. Es werden Krokodilstränen geweint und Dinge beklagt, die kein wirkliches Problem darstellen. Es handelt sich hierbei um eine These. Letztlich geht es nur darum, Macht zu bekommen und diese Macht zu erhalten. Man hängt sich an kleinen Fragen auf."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.04.2024 - Gesellschaft

Antisemitismus ist kein jüdisches Problem, sondern "eines der westlichen Zivilisation", meint im Interview mit der Welt der schwule kanadische Comedian Daniel-Ryan Spaulding, der offenbar viel einstecken musste für seine Verteidigung Israels. Und er versucht zu erklären, was eine Gruppe wie "Queers for Palestine" antreibt, die keinen Tag unter einer Hamas-Regierung überleben würde: "Viele junge Queers lieben die Opferrolle, dementsprechend auch Opfererzählungen (victimhood culture). In Bezug auf Palästina zielen sie nicht auf Frieden und ein gutes Leben für kommende Generationen ab, sondern halten vielmehr an Kriegen fest, die vor 75 Jahren stattgefunden haben. Das Verharren im Traumazustand, der Opferrolle und die kognitive Dissonanz, dass die Hamas sie töten würde, stören sie dabei nicht. Im Gegenteil, es entsteht eine Verbindung durch den vermeintlichen Opferstatus. Diese ideologische Realität basiert auf der selektiven Umdeutung von Worten und Begriffen. Unsere Gesellschaft kann jedoch nur funktionieren, wenn sie auf der objektiven Realität und gemeinsamen Definitionen beruht."
Stichwörter: Hamas

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.04.2024 - Gesellschaft

Im FR-Gespräch versucht Nina Bernarding, Mitgründerin des Zentrums für Feministische Außenpolitik, zu erklären, weshalb Antidemokraten nicht selten auf Antifeminismus setzen: "Antifeminismus ist ein sehr nützlicher Mechanismus für antidemokratische Strukturen. Zum einen sind es oft feministische, aber auch LGBTQI-Bewegungen, die Antidemokraten und autoritäre Führer herausfordern. Und wenn man es schafft, diese Bewegungen klein und leise zu halten, ist schon mal eine große Gefahr gebannt. Zum anderen wissen wir, dass antifeministische Narrative in vielen Gesellschaften oft salonfähiger sind als rassistische oder ausländerfeindliche. Auch weil die Antidemokraten es geschafft haben, viele der Narrative, die gegen Frauen oder gegen LGBTQI- Menschen gerichtet sind, als Pro-Familie oder Pro-Kinder positiv zu besetzen."
Stichwörter: Antifeminismus

9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.04.2024 - Gesellschaft

Seit dem 7. Oktober zeigt sich die Fratze des Antisemitismus wieder in ihrer ganzen Obszönität: von rechts, von links, von religiöser Seite. Im Perlentaucher sucht Richard Herzinger nach den Antrieben dieses hässlichen Sentiments. Einerseits ist es die nie ganz festzulegende Identität des Judentums, die seine Feinde irritiert, so Herzinger. "Andererseits jedoch sind die Antisemiten überzeugt, dass diese Heterogenität des Judentums nur eine perfide Täuschung sei, dass es sich bei ihm in Wahrheit um eine im Geheimen verschworene uniforme Gemeinschaft handele, die diese ihr eigene Geschlossenheit anderen Völkern missgönne und sie daher gezielt zerstören wolle. So projiziert der Antisemitismus die eigene Homogenitätssehnsucht auf das ungreifbare Prinzip 'Jude'. Das so erzeugte Zerrbild von 'dem Juden' als straff organisiertem Weltverschwörer ruft er dann als Rechtfertigung für die Verwirklichung seiner eigenen Gleichschaltungsgelüste auf."
Stichwörter: Antisemitismus, 7. Oktober

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.04.2024 - Gesellschaft

In der FR wettert Moritz Post gegen Ahmad Mansour, Anlass ist ein Porträt Mansours in der ARD: An einer differenzierten Debatte sei der Islamkritiker nicht interessiert, behauptet Post, sondern betätige sich nur als "nützlicher Gehilfe des rechten Kulturkampfs": "Er widerspricht zwar auf der Oberfläche den Äußerungen und Wertungen von Rechtspopulisten wie Reichelt. Doch sorgt gleichzeitig dafür, dass die Debatte eindimensional bleibt. Die undifferenzierte Verknappung von Argumenten rund um den Themenkomplex 'politischer Islam' (Was soll das eigentlich sein?) ist dabei ein Stilelement von Mansour, mit dem er sich gerne im Fokus der Aufmerksamkeit hält."

Ende Dezember hatten die Rechtsprofessorinnen Frauke Rostalski ("Die vulnerable Gesellschaft") und Elisa Hoven, in der FAZ für härtere Strafen bei Sexualdelikten plädiert: "Ein Strafurteil ist auch ein kommunikativer Akt gegenüber der Öffentlichkeit. Der Staat tritt dem Rechtsbruch angemessen missbilligend entgegen, macht das Maß des Unrechts deutlich und stabilisiert damit den gesellschaftlichen Konsens über die Einhaltung der geltenden Verhaltensregeln. Weichen die Strafvorstellungen von Bevölkerung und Gerichten zu weit voneinander ab, kann das zu einem Verlust des Vertrauens in die Strafjustiz als verlässliche Instanz sozialer Kontrolle gegenüber Normverstößen führen", schrieben die beiden. In der SZ fragt jetzt Ronen Steinke, ob damit nicht der "Stammtisch" ermutigt werde: "Natürlich kann man allgemein vor einem 'Verlust des Vertrauens in die Strafjustiz' warnen, wie es die Professorinnen Hoven und Rostalski tun wollen, wenn der Stammtisch und das Richterzimmer sich allzu sehr entfremden. Aber wenn die Gerichte tatsächlich wieder stärker auf Stimmungen in der - deutschen - Bevölkerung reagieren würden, dann sollte man vielleicht nicht erwarten, dass es dadurch fortschrittlicher wird. Feministisch schon gar nicht."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.03.2024 - Gesellschaft

Ein Verband von Frauenärzten und -ärztinnen, der  Berufsverband der Frauenärzte, hat sich gegen eine Legalisierung von Abtreibung in Deutschland ausgesprochen. Bisher wird Schwangerschaftsabbruch nach den Regeln des Paragraf 218 im Strafgesetzbuch ausgeübt. Bremer Ärzte haben sich gegen das Statement der Kollegen gewandt, berichtet Eiken Bruhn in der taz. Unter anderem machen sie darauf aufmerksam, dass Abtreibung schon jetzt in Deutschland mit vielen Hindernissen verbunden ist: "Erst am 10. April werden erstmals gesicherte empirische Daten zur Versorgungssituation veröffentlicht, wenn die Ergebnisse der sogenannten Elsa-Studie vorgestellt werden. Aber bereits jetzt ist durch zahlreiche Recherchen von Journalisten - zuerst 2017 in der taz - bekannt geworden, dass es Regionen gibt, in denen Schwangere 150 Kilometer und mehr für eine Abtreibung fahren müssen. Auch in vielen Großstädten gibt es mittlerweile immer weniger Ärzte und Kliniken, bei denen das möglich ist. Schwangere müssen entweder warten oder längere Wege auf sich nehmen."

Susan Neiman hat sich neulich in der Irish Times beklagt, jüdische Kritiker Israels würde in Deutschland zum Schweigen gebracht (unser Resümee) und in Monopol behauptet, Künstler hätten wegen eines hier grassierenden "philosemitischer McCarthyismus" Angst, nach Deutschland zu reisen. Geht's noch, fragt Alan Posener in der Welt. "Während jüdische Kinder hierzulande nur unter Polizeischutz zur Schule gehen können, während ganze Stadtviertel als No-Go-Area für Kippa-Träger gelten, ist es vielleicht nicht ganz so schlimm, wenn Israelhasser befürchten müssen, hier in den Medien kritisiert zu werden oder mal keinen Preis zu bekommen. Was hier passiert, ist nämlich, dass sich endlich diejenigen zu Wort melden, die jahre- und jahrzehntelang zum Antisemitismus der Linken geschwiegen haben; ein Antisemitismus, den Neiman leugnet. ... Susan Neiman sagt richtigerweise, dass die AfD ihren Philosemitismus vor sich herträgt, um von ihrem Rassismus abzulenken. Freilich gibt es kaum Juden in Deutschland, die darauf hereinfallen. Die Linke jedoch trägt ihren Antirassismus vor sich her, um von ihrem Antisemitismus abzulenken. Darauf fallen leider immer noch zu viele herein."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.03.2024 - Gesellschaft

Die Diversität der britischen Elite ist einmalig, keine Regierung in Großbritannien wird mehr von einem weißen Mann geführt - und niemand macht viel Aufhebens darum, hält Eva Ladipo in der FAZ fest: "Der wichtigste Grund für diese britische Gelassenheit und für die Durchlässigkeit der Elite liegt wahrscheinlich in der Vergangenheit. Ohne den relativ farbenblinden britischen Pragmatismus hätte das Empire niemals funktioniert. Das vergleichsweise kleine Königreich in der Nordsee hätte kein Weltreich regieren können, wenn es die Machthaber der Kolonien nicht auf besonders perfide und effiziente Weise für sich gewonnen hätte. Natürlich basierte das Empire auch auf Gewalt und Unterdrückung. Entscheidend aber war die Kooperation der fernen Eliten - und die gewannen die Briten, indem sie schon vor Jahrhunderten Menschen mit anderer Hautfarbe, anderer Kultur und anderer Religion in ihr ureigenes Klassensystem aufnahmen. Die Sprösslinge der kolonialen Eliten wurden auf den besten britischen Schulen und Universitäten ausgebildet und dadurch mit großer Selbstverständlichkeit Mitglieder der Upper Class. Was zählte, war der familiäre Hintergrund, das soziale Prestige, Bildung und Reichtum."

Als wohltuend empfand Rüdiger Schaper im Tagesspiegel die Rede von Meron Mendel in der Berliner Akademie der Künste anlässlich einer Tagung unter dem Motto "The Climate we live in". Mendel betonte, so Schaper, die Verantwortung beider Seiten: "In der internationalen Kunstwelt sieht Meron Mendel 'ein hohes Maß an Arroganz und Ignoranz'. Er beschreibt, wie die Freiheit der Kunst von zwei Seiten bedroht wird. Von den radikalen pro-palästinensischen Aktivisten, die kritische Stimmen aus Israel unterdrücken. Und von deutschen Amtsträgern, die 'mit guter Absicht völlig falsch handeln'. Beide Seiten, sagt Mendel, bedienen die Logik des Boykotts. Dies sei antidemokratisch und ein fataler Fehler."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.03.2024 - Gesellschaft

Die Westdeutschen haben den "Jammerossi" aus Neid erfunden, glaubt die in Ost-Berlin geborene Schriftstellerin Katja Lange-Müller im Gespräch mit der Berliner Zeitung, und zwar "weil sie sich selbst sehr gut wiedererkannten, in dem, was sie da vernahmen. Unsicherheiten, Abstiegsängste und Verwirrungen in der kapitalistischen Praxis, das kennt der Westler natürlich genauso und schon länger - er durfte und darf es aber nicht zeigen, weil man damit seine Schwäche zur Schau stellen und seine Souveränität als angreifbar markieren würde. Dieser Zwang, sich gut zu verkaufen, war im Osten weitgehend unnötig, und entsprechend ungeübt war der Ostler in derart überlebenswichtigen Verlogenheitstechniken. Stattdessen kommt er und jammert völlig hemmungslos rum. Dann wechselt der Wessi den Waggon wie eine Mutterveteranin, die von fremdem Säuglingsgeplärr genervt ist."