9punkt - Die Debattenrundschau

Mit einer Gewaltmembran

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.03.2024. Gesellschaft im Aufruhr: Der "Meinungskorridor" für antiisraelische Äußerungen werde immer enger, beschwert sich die taz. Israel betreibt in Gaza einen Rachefeldzug, schreibt Joseph Croitoru in der FR. Susan Neiman wirft Deutschland in der Irish Times MacCarthyismus vor. Die Sozis sind "Munichois" ruft FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube  der "Gruppe der Schwesigs, Stegners und Scholzens" zu. Ein charmanter Zahnarzt aus Düsseldorf organisiert den Rechtsextremismus in Deutschland, berichtet die SZ: "sogar Sahra Wagenknecht"! Das Berliner Stadtschloss wird zur Festung für den Kulturkampf, fürchtet ebenfalls die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.03.2024 finden Sie hier

Politik

Bei Tablet, aus dem Englischen übersetzt von der NZZ, hat Abraham Wyner, Professor für Statistik und Datenwissenschaft an der Wharton School der University of Pennsylvania, starke Zweifel an den palästinensischen Opferzahlen, die die Hamas herausgibt. "Die Hamas selber hat am 15. Februar erklärt, sie habe bisher 6.000 ihrer Kämpfer in diesem Krieg verloren. Damit wären mehr als 20 Prozent der bisher Getöteten Angehörige der Hamas gewesen. Dies ist nicht möglich - es sei denn, Israel tötet keine Männer, die nicht Kämpfer der Hamas sind. Oder die Hamas behauptet, dass fast alle Männer in Gaza Hamas-Kämpfer sind. ... Einige Kommentatoren haben eingeräumt, dass die Zahlen der Hamas bei früheren Kämpfen mit Israel etwa stimmten. Dennoch ist dieser Krieg, was Umfang und Ausmaß betrifft, völlig anders. Internationale Beobachter fehlen diesmal. Der Nebel des Krieges ist im Gazastreifen besonders dicht - und er macht es unmöglich, die Zahl der zivilen Todesopfer schnell und genau zu bestimmen. Bei der offiziellen palästinensischen Zählung der Todesopfer macht die Hamas Israel für alle Todesfälle verantwortlich. Selbst wenn diese durch fehlgeleitete Raketen der Hamas, versehentliche Explosionen, vorsätzliche Tötungen oder interne Kämpfe verursacht wurden."

Im Interview mit der FR ist Joseph Croitoru überzeugt, dass Israel die Hamas gepäppelt hat, um die Palästinenser zu spalten. Und der Krieg im Gaza ist vor allem ein Rachefeldzug, meint er: "Schon deshalb will Netanjahu ihn sicherlich so lange wie möglich weiterführen. Außerdem ist seine Regierung gespalten was die Kriegsziele angeht, denn die rechtsextremen Elemente wollen ja nicht nur die Zerschlagung der Hamas, sie wollen auch den Gazastreifen neu besiedeln. Hinzu kommt, dass Israels politische und militärische Elite gerne einen Bogen um die Frage machen würde, wer eigentlich für das Sicherheitsversagen am 7. Oktober verantwortlich ist. ... Meine Recherchen zeigen, dass der militärische Arm der Hamas-Bewegung mit der Zeit immer einflussreicher wurde. Wohl auch deshalb, weil auf israelischer Seite ein ständiger Rechtsruck stattfand, bei dem sich die Palästinenser im Gazastreifen und in der Westbank gefragt haben, was sie überhaupt noch bewirken können, um ihre Lage zu verbessern. Diese Aussichtslosigkeit hat sicher zu einer weiteren Radikalisierung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft geführt."

In der NZZ fragt sich Michael Wolfssohn, warum sich die Palästinenser derart von der Hamas manipulieren lassen. Er setzt am Ende auf eine Einstaatenlösung: "Als einzige Alternative bieten sich föderative Strukturen an. Konkret: eine Mischung aus Kantonen in einem Bundesstaat 'Israel-Palästina', bestehend aus Israel plus Westjordanland und Gazastreifen, sowie Jordanien-Palästina, denn rund 80 Prozent der Jordanier sind Palästinenser. 'Frieden durch Föderalismus'. Wenn 'die' Palästinenser auch künftig auf Gewalt setzen, werden sie sich eines Tages auf einer fernen Insel wiederfinden. Weitsichtig hatte davor bereits im Herbst 1982 der Palästinenser Issam Sartawi gewarnt. Im April 1983 erschossen ihn extremistische Landsleute. Er fehlt mehr denn je."

Der britisch-jüdische Anwalt Philippe Sands vertritt Palästina vor dem Internationalen Gerichtshof im Streit um die Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel. Im Interview mit Zeit online erklärt er, warum ein Gutachten des IGH von großer Bedeutung wäre, selbst wenn das Gericht seine Entscheidung nicht durchsetzen kann: "Selbstverständlich hat Israel das Recht, sich gegen Terrorangriffe, Raketen und Bomben zu schützen, aber seine Maßnahmen müssen mit dem internationalen Recht vereinbar sein. Es gibt keine juristische Rechtfertigung für 700.000 jüdische Siedler in diesen Gebieten und die Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung. Ich hoffe außerdem, dass der IGH feststellen wird, dass Palästina alle Kriterien einer Staatlichkeit erfüllt. Denn alles, was das Haager Weltgericht tun kann, um die Aussichten auf eine Zweistaatenlösung zu verbessern, ist gut. ... sollte der IGH bestätigen, dass die Bedingungen für eine Staatlichkeit erfüllt sind, würde es anderen Ländern leichter fallen, Palästina als Staat anzuerkennen. Ich könnte mir vorstellen, dass dann Länder wie Spanien, vielleicht auch Großbritannien, die USA und Deutschland dazu bereit wären."
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Gesellschaft

In einem Porträt Derek Scallys für die Irish Times kündigt Susan Neiman zwar nicht direkt an, Deutschland zu verlassen, aber irgendwie doch ein bisschen: "Ein Jahr vor dem Ende ihres Vertrags am Einstein Forum wird Neimans Häuschen in Kerry von Tag zu Tag attraktiver. 'Ich möchte Irland weniger als Zufluchtsort fernab von allem sehen', sagt sie, 'sondern eher als einen Ort, an dem ich am intellektuellen und kulturellen Leben teilhaben kann.'" In Deutschland herrsche eine Atmosphäre des McCarthyismus, sagt sie vorher in Scallys Porträt. "Wie zur Zeit der Kommunistenangst im Amerika der 1950er Jahre, sagt sie, muss jeder, der die extremistische israelische Regierung und ihre Politik kritisiert, beweisen, dass er kein Antisemit ist und auch nie einer war. Deutsche beschuldigen Juden wie Neiman, Antisemiten zu sein? Was sich wie ein Scherz anhört, ist durch ihre Brille betrachtet, nicht zum Lachen."

taz-Autor Daniel Bax hat sich im "Meinungskorridor" kräftig den Kopf gestoßen. Es geht natürlich um Israel: "'Das Ghetto wird liquidiert', schrieb Masha Gessen mit Blick auf Israels Kriegsführung in Gaza. Hierzulande sorgte dieser Satz in einem Essay, der im Magazin New Yorker erschien, für einen Eklat. Denn in Deutschland hat man sehr weitreichende Vorstellungen davon, was man in Bezug auf Israel alles nicht sagen darf. Der Meinungskorridor wird deshalb immer enger - und es könnte noch schlimmer kommen, wenn Kulturstaatsministerin Claudia Roth vor dem Druck einknickt, der nach der Berlinale wieder zugenommen hat." Uwe Tellkamp, der sich zuerst durch einen immer engeren "Meinungskorridor" hatte pressen müssen, wird sich für diese kulturelle Aneignung bedanken.

Jonathan Guggenberger berichtet außerdem in der taz, dass die Berliner Kulturpolitik immer noch um eine "Antisemitismusklausel" ringt, während Kulturinstitutionen Angst haben, dass sie sich mit Bekenntnissen gegen Antisemitismus vor der internationalen "Strike Germany"-Fraktion blamieren sollen. Der Berliner Kultursenator Joe Chialo, notiert Guggenberger, äußert sich einfach weiter proisraelisch: "In den sozialen Medien teilt der ehemalige Sprecher des Berliner Kultursenats und Vertrauter Joe Chialo nicht erst seit dem 7. Oktober proisraelische Inhalte. Darunter auch Statements der israelischen Streitkräfte, Fotos israelischer Geiseln und viel Kritik an propalästinensischen Aktivisten aus Kunst und Kultur. Der sich propalästinensisch positionierende Berliner Kurator Edwin Nasr und die Performerin Nomi Sladko werten diese Posts als 'zionistische Propaganda'."

Berliner Behörden erwägen ein Verbot eines demnächst geplanten "Palästina-Kongresses", berichtet Alexander Fröhlich im Tagesspiegel. Die rechtlichen Hürden dafür seien allerdings hoch: "Nach dem Willen der Veranstalter sollen Namen der prominentesten Redner bis zuletzt geheim bleiben, um Einreiseverbote zu verhindern. Wo genau der sogenannte 'Palästina Kongress' vom 12. bis 14. April in Berlin stattfinden soll, ist ebenfalls noch geheim. Organisiert wird er von radikalen Gruppen wie 'Palästina Spricht', der trotzkistischen Gruppe 'Arbeiterinnenmacht' sowie dem 'BDS Berlin'."

Nach der taz (mehr hier) porträtiert ein Autorenteam der SZ den offenbar überaus charmanten und lange nicht als Rechtsextremen bekannten Düsseldorfer Zahnarzt Gernot Mörig, der das "Remigrations"-Treffen von AfD und Co. in Potsdam maßgeblich mit organisiert hat. Auch in allen rechtspopulistischen bis -extremen Parteien hat er gute Kontakte: "Sogar Sahra Wagenknecht, die mit ihrer Partei BSW ebenfalls nach Abgehängten, Unzufriedenen und Ampelmüden fischt, hat Mörig offenbar schon umgarnt. Wagenknecht legte den Kontakt vor einigen Wochen selbst offen und sagte im ZDF, dass sie jahrelang 'nette Mails' von ihm bekommen habe. Die Wagenknecht-Partei, die Werteunion, die AfD: als hätte Mörig drei Asse gegen das Establishment im Ärmel, von denen eins schon stechen wird."

Vor allem im Osten müssen sich Lokalpolitiker inzwischen vor vor gewalttätigen Angriffen fürchten. Im Interview mit der SZ erklärt der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, wie es dazu kommen konnte, und warum die AfD, obwohl sie offiziell Gewalt ablehnt, zu der Atmosphäre der Gewalt beigetragen hat: "Ganz entscheidend waren Normalisierungsgewinne: Auch wer nicht mit rechten Positionen einverstanden ist, wagt es nicht mehr, deutlich Widerspruch dagegen zu erheben, sondern zieht sich zurück - oder ganz weg, zum Beispiel in eine größere Stadt. Das fing alles in den 1990er Jahren an und hat den Boden bereitet für die heutige Situation. Die aktuellen Statistiken zeigen zunehmende Angriffe gegen politische Akteure. Man muss konstatieren, dass inzwischen auch AfD-Politiker Opfer von Übergriffen werden, was ebenfalls die demokratische Kultur beschädigt." Aber die AfD trag daran Mitschuld, weil sie "mit einer Gewaltmembran" hantiere. "Eine Membran hat etwas Trennendes: Prominente Akteure der AfD rufen nicht selbst zur Gewalt auf. Aber eine Membran ist auch durchlässig. Die AfD trägt zur Legitimation von Gewaltakten bei, indem aufheizend mit Begriffen wie 'Umvolkung' oder 'Bevölkerungsaustausch' gearbeitet wird."

Buch in der Debatte

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In der Welt unterhält sich Andrea Seibel mit dem Historiker Andreas Petersen über dessen neues Buch "Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand", das den Umgang mit der Tiefenpsychologie in den Gesellschaften Ost- und Westeuropas vor und nach den großen Diktaturen vergleicht. In Russland wurde "ab Ende der 1920er-Jahre durch Stalin alles Tiefenpsychologische ausgelöscht" und das hat Folgen bis heute, meint er. Ganz so weit scheint er mit seinem Buch nicht zu gehen: "Es sollte in Sachen Psyche erst einmal der historische Rahmen abgesteckt werden. Was ist in Ost und West überhaupt passiert, bis hinein in die Familien? Stichwort: gesellschaftlicher Sozialcharakter. Was bedeutet es, wenn langfristig Wissen über das Unbewusste aus der Gesellschaft draußen gehalten wird. Wir können noch lange über Renten und Erbe streiten, aber das immaterielle Erbe weiter ausblenden. Was also ist der missing link in dieser Frage zwischen Ost und West? Dabei geht es nicht um besser oder schlechter, schwarz oder weiß, sondern ums Klären der Differenzen."
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Europa

Die SPD, die neuerdings den Ukraine-Krieg "einfrieren" möchte, bewegt sich zurück zur Debatte zu Beginn des Kriegs, beobachtet Jürgen Kaube in der FAZ: "Zunächst wollte man, wir erinnern uns, vor allem Helme liefern. Und Nord Stream 2 beibehalten." Und dann wird Kaube ernst: "Mützenich, der Chamberlain unserer Tage, gehört zur Gruppe der Schwesigs, Stegners und Scholzens, die sich auskömmliche Beziehungen zu Russland vorstellen können. In Frankreich würde man sie 'Munichois' nennen, nach dem faulen Kompromiss, der einst in München mit Hitlers Ambition gefunden wurde, die Tschechoslowakei zu annektieren. Wir kennen den Ausgang dieser Art von Friedfertigkeit."

In der NZZ erinnern Julia Kazdobina, Jakob Hedenskog und Andreas Umland daran, dass der Ukrainekrieg nicht am 24. Februar 2022 begann, sondern mit der Besetzung der Krim am 20. Februar 2014. "Zu diesem Zeitpunkt war der prorussische Präsident der Ukraine, Wiktor Janukowitsch, noch an der Macht, und der Ausgang des Euromaidan-Aufstands in Kiew stand noch in den Sternen. Dennoch verließ ein Konvoi gepanzerter Fahrzeuge unter Missachtung der Bestimmungen des 'Abkommens zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine über den Status und die Bedingungen des Aufenthalts der Schwarzmeerflotte der Russischen Föderation auf ukrainischem Hoheitsgebiet' illegal den Stützpunkt der 810. Marinebrigade der russischen Schwarzmeerflotte in der Kosakenbucht von Sewastopol. Auf der Medaille des russischen Verteidigungsministeriums für die 'Rücknahme der Krim' wird dementsprechend der 20. Februar 2014 als Beginn der russischen Annexionsoperation genannt."
Archiv: Europa
Stichwörter: SPD, Ukraine-Krieg, Krim-Annexion

Kulturpolitik

Heute werden acht Skulpturen, die alttestamentliche Propheten darstellen, rund um die Kuppel des Berliner Stadtschlosses aufgestellt, 18 weitere Figuren sollen folgen, weiß Jörg Häntzschel in der SZ. Aber: "Diese Figuren waren weder Teil des Entwurfs, über den der Bundestag abgestimmt hat, noch tauchten sie in den Wettbewerbszeichnungen auf. Man kann diese neuen Dekor-Elemente, wie der Sprecher der Stiftung Humboldt-Forum, als 'Teil der historischen Rekonstruktion' bezeichnen. Man könnte sie aber, wie zuvor schon das Kreuz und den Bibelspruch, als weiteren Versuch verstehen, das Stadtschloss zur Festung für den Kulturkampf zu ertüchtigen, zum Sendemast christlicher Ideologie - was das Weltverständigungsprogramm des Humboldt-Forums natürlich untergräbt." Gibt's da nach Kreuz und Inschrift noch was zu untergraben? In der taz berichtet Andreas Hartmann.
Archiv: Kulturpolitik

Geschichte

Der Historiker Jaromír Dittmann-Balcar erzählt im Gespräch mit Petra Schellen en détail, wie die Hamburger Juden spätestens seit der Reichspogromnacht von den Nazis systematisch ausgeplündert wurden. Dabei wurde ein bürokratischer Aufwand betrieben, der zugleich weite Teile der Bevölkerung als Mittäter einbezog, von Beamten der Finanzverwaltung bis zu Bankangestellten. "Teils versuchten jüdische Gewerbetreibende, 'arische' Kompagnons aufzunehmen oder das Geschäft formal auf einen Kompagnon zu übertragen. Das hat die Beraubung aber nur aufgeschoben." Gescheitert sei das "am dichten Verfolgungsnetzwerk aus Finanzbehörde, Gestapo und Preisüberwachungsstellen. Auch die Bankhäuser haben der Devisenstelle eilfertig mitgeteilt, welcher jüdische Kunde ein Devisenkonto hat. Da konnte man nichts verstecken." Kunstwerke durften emigrierende Juden übrigens generell nicht mitnehmen.

Die Europäer nehmen die Ukraine als randständig wahr und interessierten sich historisch gesehen nur für ihre Bodenschätze. Dabei hat Europa dort seinen Ursprung, resümiert Elisabeth Bauer in der FAZ Thesen Timothy Snyders, der in Berlin einen Vortrag zum Thema gehalten hat: "Die europäische Kulturgeschichte wurzelt wesentlich auf dem Gebiet der heutigen südöstlichen Ukraine am Schwarzen Meer, lautet die These des in Yale lehrenden Geschichtsforschers. Sie ist archäologisch belegt: In der Umgebung des Örtchens Nebeliwka, inmitten der ukrainischen Steppenlandschaft, legten Archäologen eine der ältesten bekannten Siedlungen der Menschheit frei. Die Denkmäler der Trypillia-Kulturen wurden im 5. bis 3. vorchristlichen Jahrtausend errichtet und sind damit älter als die ersten mesopotamischen Städte, die man lange als die größten, frühesten menschlichen Siedlungsformen ansah."
Archiv: Geschichte