Chang-rae Lee

Turbulenzen

Roman
Cover: Turbulenzen
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2004
ISBN 9783462034066
Gebunden, 440 Seiten, 22,90 EUR

Klappentext

Aus dem Amerikanischen von Christa Schuenke. Am glücklichsten ist Jerry Battle, wenn er in seiner kleinen Propellermaschine allein über Long Island fliegt, fern von aller unangenehmen Realität. Aber schmerzhafte Erinnerungen und die deprimierenden Tatsachen am Boden lassen sich auf die Dauer nicht verdrängen. Dabei hatte er geglaubt, sich alles und alle vom Leibe halten zu können. Doch sein Vater Hank, der italienisch-stämmige Patriarch, will nicht im Altersheim bleiben, die intellektuelle Tochter Theresa kehrt schwer krank und schwanger mit ihrem koreanischen Mann nach Hause zurück, das Familienunternehmen - eine Landschaftsgärtnerei - geht unter Jerrys Sohn Pleite. Der Schatten vom tragischen Tod Daisys, seiner koreanischen Frau, lässt sich nicht vertreiben. Und außerdem hat ihn Rita, seine schöne puertoricanische Freundin, wegen seiner Gleichgültigkeit verlassen.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 07.04.2005

Unter dem Realismus, dem das Schreiben Chang-rae Lees "verpflichtet" ist, könnten manche Leser ein wenig "leiden", warnt Rezensent Tilman Urbach. Der gebürtige Koreaner beschreibt in seinem aktuellen Roman das Leben eines italienischen Einwanderers inmitten der New Yorker Suburbia. Der Protagonist scheint seinen Ruhestand nur auf den ersten Blick zu genießen - tatsächlich kämpft er mit dem Selbstmord seiner Frau, der krebskranken Tochter und eigenen Schuldgefühlen. Lee gelingt es nach Ansicht des Rezensenten, "den Strick um den Hals" der Hauptfigur "immer enger" zu ziehen und dem Leser die drohenden Katastrophen "in kleinen Dosen" zu verabreichen. Im Zentrum der Geschichte stehen dabei "eigene Erfahrungen", das Gefühl, nicht "dazuzugehören". Dennoch will der Kritiker den Autor nicht wie andere in die Nähe von John Updike rücken. Dessen "gerütteltes Maß" an "Sentimentalität" ersetzt Lee durch eine "ökonomische erzählerische Glätte", die die Figuren mitunter etwas blass erscheinen lasse.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 22.02.2005

Sehr amerikanisch ist der realistische Roman "Turbulenzen" nach Ansicht von Rezensent Peter Kunisch: Es gibt einen Durchschnittstypen, Jerry, der sich eines geordneten Lebens im Vorruhestand erfreut und, so der Rezensent, in seiner Durchschnittlichkeit fast die Figuren von Updike übertrifft. Natürlich ist aber die ganze äußerliche Perfektion sehr brüchig, und dies zu zeigen, sei die Absicht des Autors. In gekonnter Halbdistanz ist er seinem mittelmäßigen Helden und dem Schicksal seiner Familie auf der Spur, lässt ihn aber nicht in die übliche Mittelstandshölle fallen. Dennoch: Sohn Jack ist gar nicht so erfolgreich wie angenommen, und Tochter Daisy ist krebskrank. Das lässt selbst Jerry nicht mehr kalt, dessen entscheidender Charakterzug eigentlich "abnorme Herzensträgheit" ist. Dass Lee in "Turbulenzen", anders als in seinen früheren Werken, die Andersartigkeit des koreanischen Einwanderers Jerry nicht zum Thema macht, wertet der Rezensent als gestiegenes Selbstwert- und Integrationsgefühl bei koreanischen Amerikanern. Allerdings sei auch ein amerikanischer Roman dabei herausgekommen, wie es schon viele gibt.
Lesen Sie die Rezension bei buecher.de

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 20.11.2004

Zwar ist Chang-rae Lees Protagonist Jerry Battle, New Yorker Sohn italienischer Immigranten, mittlerweile sechzig, doch einen "altersweisen, mit Lebensklugheiten gesättigten" Lebensrückblick soll man von ihm nicht erwarten, baut die Rezensentin Marion Lühe falschen Erwartungen vorr. Jerrys Überlegungen, so Lühe, folgen vielmehr der jähen Eingebung seiner Erinnerung, betreffen aber vor allem seinen Vater, der sich im Gastland gleichsam aus dem Nichts emporgearbeitet hat. Angesichts der insgesamt katastrophalen Situation der Familie Battle, so die Rezensentin, kann man in "Turbulenzen" einen Roman "über den Verfall einer zu Wohlstand und Ansehen gelangten Einwandererfamilie" sehen. Mit einer Besonderheit: Lee verfalle nie ins "Lamento", sondern bewahrt den Leser mit seinem "pointierten, lakonischen Tonfall" (den Christa Scheunke wunderbar ins Deutsche übertragen habe) vor "mittelhochgestochener poetischer Kacke". An dieser Familiengeschichte entlang entwerfe Lee zudem ganz nebenbei eine Art "Phänomenologie des amerikanischen Selfmademans", die die Frage nach der charakterformenden Wirkung von sozialer Kälte stellt. Das wirkliche Glanzlicht des Romans sieht die Rezensentin allerdings im "ungleichen Tennisduell", das sich Jerry und der superreiche Anwalt Ritchie Coniglio (der ihm die Geliebte abgeluchst hat) liefern.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 07.10.2004

Thomas David fasziniert besonders die "unironische Ernsthaftigkeit", mit der Chang-rae Lee die Geschichte einer italienischstämmigen Familie in Amerika erzählt. Lees "grandioses Buch" zeichne sich nicht durch eine spektakuläre oder einfallsreiche Handlung, sondern durch einen Erzähler aus, der aus dem "Alltäglichen", mit dem seine Figuren beschäftigt sind, etwas "geradezu Unerhörtes" machen kann. So erinnerten die stärksten Abschnitte auch an Philip Roth, wobei dem Rezensenten noch die "Transparenz der Zeitgeschichte" und damit der ständige Bezug zur amerikanischen Wirklichkeit fehlt, mit der Roth seine Figuren ausstattet. Wenn das kein Lob ist! Christina Schuenkes Übersetzung von Lees "assoziativer Prosa" lobt David als "mutig", wohl auch deshalb bleibt Jerry Battle, der Protagonist, für ihn "ein unvergesslicher Held".

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 06.10.2004

Rezensent Reinhard Helling hat Gefallen gefunden an Chang-rae Lees Roman um den New Yorker Familienvater und Frührentner Jerry Battle, der nicht nur beim Hobbyfliegen ein "reiner Schönwetterflieger" ist, sondern auch sonst "immer versucht, das Unangenehme aus seinem Leben zu verdrängen". Zu zeigen, wie einer trotz aller "Hornhaut ums Gemüt" letztendlich "die Rechnung präsentiert bekommt" - dies ist laut Helling das Anliegen des Autors, und Helling kann nur staunen, mit welcher "Souveränität" sich der erst 39-jährige Autor "in die Gedankenwelt eines Mannes im fortgeschrittenen Alter" versetzen kann und dort für "Turbulenzen" sorgt. Doch nicht nur Lees "leichthändiges Porträt einer recht durchschnittlichen Vorort-Familie über drei Generationen" hat den Rezensenten für sich eingenommen. Es ist auch die Art, wie Lee ganz nebenbei eine detailreiche Beschreibung der Veränderung liefert, die der Modernisierungswahn im Leben des Menschen auslöst.
Stichwörter