Emmanuel Carrere

Julies Leben

Cover: Julies Leben
Matthes und Seitz Berlin, Berlin 2020
ISBN 9783957578853
Kartoniert, 59 Seiten, 10,00 EUR

Klappentext

Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Mit Fotos von Darcy Padilla. An einem kalten Februarmorgen 1993 sieht die Fotojournalistin Darcy Padilla eine Achtzehnjährige mit einem Neugeborenen im Arm in der Lobby des Ambassador-Hotels in San Francisco stehen - barfuß. Sie bittet sie, ein Foto von ihr machen zu dürfen. Sie wird Julie die nächsten achtzehn Jahre bis zu deren Aids-Tod im Jahr 2010 als Chronistin ihres Lebens und Freundin fotografisch begleiten. Als Emmanuel Carrère die Fotos zum ersten Mal sieht, beschließt er, sich auf die Spuren der beiden Frauen zu begeben, und reist in die USA. Er beschreibt Julies Lebensweg und die Freundschaft der beiden ungleichen Frauen: Abhängigkeiten, familiäre Katastrophen, Beziehungen, Geburten und Abschiede, viele tragische und wenige heitere Momente in einem Milieu, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Denn Julie ist ein Fall von Tausenden: Padillas Bilder und Carrères Text werfen die Frage nach der sozialen Bedingtheit eines Schicksals auf, nach dem Gebot der Anteilnahme angesichts von Lebenswegen, die aussichtslos erscheinen.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 29.08.2020

Rezensentin Sarah Murrenhoff liest Emmanuel Carreres schmalen Roman, der laut Kritikerin eher eine "Sozialreportage" ist, mit gemischten Gefühlen. Die Geschichte über die außergewöhnliche Freundschaft zwischen der Fotografin Darcy Pardilla und der von ihr über achtzehn Jahre begleiteten, drogensüchtigen Julie Baird, die im Alter von 36 Jahre an Aids starb, schlägt die Rezensentin sofort in den Bann. Erschütternd und mitfühlend liest sie, wie Darcy, die eine Reportage über Armut in den USA machen wollte, auf die junge HIV-positive Mutter Julie trifft und bis zu deren Tod miterlebt, wie diese mit sechs Kindern zwischen Sucht, Entzügen und gewalttätigen Partnern zu überleben versucht. Tief bewegt betrachtet die Kritikerin auch die Auswahl an Fotografien, die der Verlag dem Band beigefügt hat und die unter anderem die sterbende Julie zeigen. So sachlich und "trocken" Carrere die Geschichte auch erzählt, sein Blick auf Julie bleibt doch stets der "bürgerliche Blick" auf das Randständige, wendet Murrenhoff ein. Überhaupt muss sie gestehen: An dieser Geschichte "stört" nur der Autor.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 16.07.2020

Rezensentin Angela Gutzeit fühlt sich berührt und verstört von Emmanuel Carrères Lebensgeschichte einer Drogensüchtigen. 18 Jahre lang und bis in den Tod hat die Fotografin Darcy Padilla die an AIDS erkrankte mehrfache Mutter Julie begleitet. Auf Grundlage von Padillas Fotografien und Berichten hat der französische Schriftsteller nun einen Text verfasst, der die Leser sehr nah an diese tragische Figur heranführt und dabei unangenehme moralische Fragen aufwirft, so Gutzeit. Kann man Padillas grenzüberschreitende Arbeit mit ihrem "Aufklärungswert" rechtfertigen? Carrère verteidigt Padilla, doch die Rezensentin hätte sich vom Autor eine eingehendere Beschäftigung mit solchen Fragen gewünscht. Andererseits, so Gutzeit, ist es vielleicht auch seine Absicht, in den Lesern eben jene Fragen aufzuwerfen und ihnen die Antworten nicht abzunehmen.