Franziska Thun-Hohenstein

Das Leben schreiben

Warlam Schalamow: Biografie und Poetik
Cover: Das Leben schreiben
Matthes und Seitz Berlin, Berlin 2022
ISBN 9783957570376
Gebunden, 536 Seiten, 38,00 EUR

Klappentext

Der Dichter und Schriftsteller Warlam Schalamow hegte keine Zweifel daran, ein eigenständiges Wort in der Literatur gesprochen zu haben. Die ersehnte Anerkennung blieb ihm jedoch zeitlebens versagt. Sein Hauptwerk, die sechs Zyklen der Erzählungen aus Kolyma, die das Geschehen in den Zwangsarbeitslagern des Gulag am Kältepol der Erde reflektieren, erschien posthum nach Auflösung der Sowjetunion. Schalamow lebte in einer von Brüchen und Verlusten gezeichneten Zeit russischer Geschichte, in der sich kaum jemand der bedrohlichen Macht der Politik zu entziehen vermochte. Zum Widerstand wurde ihm dabei die Dichtkunst. Franziska Thun-Hohenstein erzählt in der ersten umfassenden Biografie vom Leben und Werk Schalamows, ohne sie einer einfachen Entwicklungslogik unterzuordnen. So stehen auch hier Widersprüchliches und Fragmentarisches nebeneinander und beleuchten ein einzigartiges und auf brutale Weise von seiner Zeit geschundenes Leben. Die Kraft, seiner Zeit zu widerstehen und einen lebenslangen Kampf um die Wahrung der Eigenständigkeit im Leben wie im Schreiben zu führen, schöpfte Warlam Schalamow sein Leben lang - als Kind, als junger Mann wie nach der Kolyma - aus der Kunst, aus der Dichtung.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.08.2023

Warlam Schalamow gehört wie Wassili Grossman zu den Protokollanten des Stalinschen Terrors, die starben, bevor sie wussten, dass ihre Werke jemals rezipiert werden würden. Franziska Thun-Hohenstein hat nun über Warlam Schalamow eine Biografie vorgelegt, die Wolfgang Schneider zutiefst beeindruckt. Kurz skizziert er nochmal Schalamows Geschichte vom glühenden Revolutionär bis zum gebrochenen Insassen eines Altersheims, der seinen Zwieback unter dem Kopfkissen versteckte. Ursprünglich, erzählt Schneider, habe Schalamow seine Lagererinnerungen zusammen mit Alexander Solschenizyn verfassen wollen, kam aber wegen seines völlig anderen, viel strengeren schriftstellerischen Ethos davon ab. Die Nüchternheit prägt Schalamows Erinnerungen - und ihr werde die Biografin auf geradezu vorbildliche Weise gerecht. Sie spart nichts aus, berichtet der Rezensent, auch nicht Schalamows journalistische Jugendsünden. Mit Verwunderung notiert er auch, dass Schalamow nichts mit Emigrantenkreisen zu tun habe wollte und der "Idealisierung von Revolutionären" treu blieb. Als äußerst lesenswert empfiehlt Schneider auch Thun-Hohensteins Kapitel über die Beziehung zwischen Schalamow und Solschenizyn.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 04.03.2023

Kritiker Fokke Joel nimmt zwei Neuerscheinungen in den Blick, um über den russischen Schriftsteller und Gulag-Überlebenden Warlam Schalamow zu sprechen. Zeitgleich mit einer Briefauswahl erscheint auch eine Biografie von der Herausgeberin Franziska Thun-Hohenstein, die Joel für ihren Quellenreichtum und Genauigkeit lobt. So wird dem Rezensenten deutlich, wie Schriftsteller Schalamow, aus einer religiösen Familie stammend, mehrfach verhaftet und im Lager so sehr gequält wird, dass er nie wieder richtig gesund wird. Auch schriftstellerisch hat er, gerade im Vergleich zum großen Dissidenten Solschenizyn, kaum Erfolg, er will davon erzählen, wie einem im Gulag jegliche Individualität geraubt wird, die Erfahrungen der grausamen Kargheit sollen sich in der Sprache widerspiegeln, lernt der Rezensent. Als Schalamow 1982 stirbt, nimmt der Bestatter aus Rücksicht auf die Lagererfahrungen ein Stalinbild von der Wand, für Fokke Joel Anlass, über den heute noch währenden Personenkult in Russland nachzudenken - und die Lektüre dieser eindrücklichen Biografie nahezulegen.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 05.12.2022

Franziska Thun-Hohenstein hat sich bereits als Herausgeberin von Warlam Schalamows Erzählungen aus Kolyma immense Verdienste erworben, erinnert Rezensent Jörg Plath, der den sechsteiligen Zyklus in eine Reihe stellt mit den großen Werken der Lagerliteratur von Primo Levi und Imre Kertesz. Eine Biografie zu diesem Autor, der sechzehn Jahre seines Lebens in sibirischer Lagerhaft verbracht hat, ist also kein leichtes Unterfangen, ahnt Plath, zumal Schalamows Frau und Schwester aus Angst vor Repressionen viele Schriften, Briefe und Dokumente vernichtet haben. Plath kann nur bewundern, wie Thun-Hohenstein vorgeht, mit philologischem Spürsinn und Diskretion zugleich, ohne zu spekulieren oder zu fabulieren. Ein wenig näher kommt er dem Autor, der nach seiner Freilassung versuchte, literarisch in das Leben der Sowjetunion zurückzufinden, Freundschaft zu Nadeschda Mandelstam und Boris Pasternak pflegte, aber von Verbänden und Behörden an der kurzen Leine geführt wurde. Sie wertet zwar auch KGB- und Gerichtsakten aus, aber zu Schalamows Haftjahren bleibt sie verhalten. Hier belässt sie es dabei, die poetischen Verfahren zu deuten, mit denen Schalamow sein Überleben am "Kältepol der Grausamkeit" zu schockgefrorener Literatur verarbeitete.