Friedrich Kittler

Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft

Cover: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft
Wilhelm Fink Verlag, München 2000
ISBN 9783770534180
Broschiert, 260 Seiten, 19,43 EUR

Klappentext

Um der Kulturwissenschaft das Verenden im Kulturmanagement zu ersparen, hilft nur ein Rückblick zur eigenen Geschichte. Mit kulturwissenschaftlicher, also nicht ideenwissenschaftlicher Methode versuchen fünf Kapitel, den zweihundertjährigen Weg von Giambattista Vico wenigstens bis Martin Heidegger nachzugehen.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 12.05.2001

Nicht erst beim Inhalt beginnt der Streit um die sich in den letzten Jahren immer stärker institutionalisierenden Kulturwissenschaft(en). Bereits im grammatischen Numerus des Begriffs stecken unterschiedliche Konzepte. Für eher harmlos erklärt Uwe Justus Wenzel in seiner Parallelrezension zweier neuer Bände zum Thema die Anhänger des Plural, ihnen geht es, meint er, um "einen Denkhabitus der Offenheit, Elastizität und Lebensweltnähe" ohne revolutionäre Absichten.
1) Böhme, Matussek, Müller "Orientierung Kulturwissenschaft"
Die Vertreter des Kulturwissenschafts-Singulars - eine "kleine und radikale Minderheit" - hingegen wollen, wenigstens, "mehr": Was genau dieses "mehr" ist, hat Wenzel in der "Orientierung Kulturwissenschaft", die bei allem Singular gleich mit drei Autoren daherkommt, dann aber nicht erfahren. Vorgeführt wird, ganz im Gegenteil, das "überaus heterogene Spektrum" der unter dem Dach der Kulturwissenschaft zusammengeführten Disziplinen, Theorien und Methoden. Der nebulöse Hinweis auf ein fächerverbindend vorausgesetztes "historisches Apriori" hilft da jedenfalls, so wenigstens Wenzel, kein bisschen weiter.
2) Kittler "Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft"
Bei Friedrich Kittler dagegen verdankt sich der Singular- und da mischen sich beim Rezensenten Bewunderung und Vorwurf - dem Mut zum Reduktionismus. Hinein tue Kittler in die Kulturwissenschaft einen Kanon von Vico über Hegel und Heidegger bis Turing, mische alles mit ironischen und sarkastischen Randglossen auf - und heraus komme immer wieder kittlertypische Reduktion der Kultur auf Medientechnologie. Gerade der späte Heidegger, der die Technik zum Signum (oder eher: zur Determinationsmacht) unserer Zeit erklärt, kommt da zum Beispiel mehr als gelegen. Eher am Rande weist der Rezensent übrigens darauf hin, dass es ihm nicht um eine Würdigung der von Kittler entworfenen Kulturgeschichte geht, sondern nur um seine Stellungnahme zur Kulturwissenschaft.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.02.2001

Thomas Wirtz hatte einen leidenschaftlichen Kampf zu führen. Einerseits muss er Autor Kittler der "Anmaßung" bezichtigen, ob seiner Ignoranz, mit der er über die Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts und ihre Denker (Jacob Burckhardt, Victor Hehn, u.a.) hinwegwische. Andererseits überschreite Kittler mit unverhohlenen Beleidigungen - John Locke wird als "Flachkopf" bezeichnet - , seine Kompetenzen und begehe seinerseits sträfliche Vernachlässigungen: Er gehe z.B. weder auf Walter Benjamin noch Aby Warburg ein. In seinem dreigliedrigen und didaktisch durchstrukturierten Buch gelänge es ihm aber dennoch, "auf durchweg beeindruckende Weise" insbesondere die Hegelschen "Denkoperatoren" mit seinen eigenen "Steckenpferden" zu verflechten. Die eigentliche Leistung des "Enfant incompatible" Kittler in diesem Buch, so der Rezensent, sei aber die Erfüllung seines Auftrags "heilige Texte, ihrer Geschichte zurückzugeben". Er gehe dabei mit einer "rauschhaften Nüchternheit" ans Werk, die die Lektüre seines Buches, aller Polarisierung und Überheblichkeit zum Trotz, für den Rezensenten zu einem "lohnenden Abenteuer" macht.
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 05.01.2001

Arno Orzessek gesteht, dass er sich wegen des Titels des Buches "besorgt an die Lektüre" gemacht hat und ist dann doch ziemlich begeistert. Der Autor - Kulturwissenschaftler der Berliner Humboldt-Universität - beschäftigt sich mit Texten von Vico, Hegel, Freud, Heidegger und anderen, was den Rezensenten zunächst irritiert, da er sie nicht als Gegenstand der Kulturwissenschaft vermutet hätte. Doch dann lässt er sich mitreißen von den "packenden" Überlegungen Kittlers. Zwar verfolge der gefährlich viele "rote Fäden gleichzeitig", was zu manch "brutal abgerissenem Gedanke" führe, aber genauso oft habe der Autor in diesen kurzen Ausführungen "Geistesblitze", so der Rezensent begeistert. Zudem erwecke das Buch in seinen "kriminell verkürzten, aphoristisch-anekdotischen" Gedanken stets den Eindruck "riesenhafter Erkenntnisse", was dem Rezensenten Bewunderung abringt. Er ist begeistert von der Lässigkeit, mit der über "letzte Dinge" nachgedacht wird und bescheinigt dem Buch "Aura", was letztlich auch Werbung für das noch junge Fach der Kulturwissenschaft sei.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 18.12.2000

Niels Werber weist in seiner Rezension zunächst darauf hin, dass es sich hier um Vorlesungen handelt, die Kittler im Sommersemester 1998 in der Berliner Humboldt-Universität gehalten hat. Ansonsten liest sich die Rezension insgesamt wie ein - bisweilen etwas wirrer - Abriss über Kittlers Gesamtwerk, bei dem die wichtigsten Thesen des Autors kurz vorgestellt werden. Und so springt Werber von Lacan über Hegel und Freud bis zu Ernst Knapp. McLuhan und Heidegger. Wichtig scheint Werber (wobei dem Leser leider nicht immer klar wird, inwiefern er sich auf das vorliegende Buch bezieht) Kittlers Überzeugung, dass die Kulturwissenschaft ohne die "vom Krieg vorangetriebene Evolution der Technik" so nicht zu denken ist. Kittler, so der Rezensent, geht noch weiter als McLuhan (der die Medien als "extensions of man" begriff), und weist darauf hin, dass mittlerweile Computer von Computern hergestellt werden, woraus Werber die Schlussfolgerung zieht, dass "Kulturgeschichte nichts anderes als eine Funktion technischer Evolution" sei. Die Verbindung zu Heidegger wird dann dergestalt hergestellt, dass dieser nach Kittlers Ansicht die Medien für geschichtsprägend hielt und weniger die Geschichte für mediengestaltend. Demnach prägt die Technik das Denken, womit man nach Werber schon wieder beim Thema Krieg ist, bei Computern und Electronic Warfare. Denn schließlich verhalten sich die Computerfirmen von heute wie die Nationalstaaten von früher, so Werber. Leider wird in der Besprechung nicht wirklich klar, ob - und wenn ja: wem? - der Rezensent dieses Buch unter den Weihnachtsbaum legen möchte.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 16.11.2000

Dem Berliner Kulturwissenschaftler Kittler ist die echte und falsche Verbreitung seiner Zunft Anlass für eine kritische Rekonstruktion von Schlüsseltexten. Damit wehrt er der Gefahr des Dilettantismus, befindet Rezensent Michael Wetzel, der ziemlich ausführlich den Gang des Buches darstellt. Von Giambattista Vico ("Scienza nova", 1725) führt es über Herders Anthropologie und Hegels Ontologie zu Heideggers "Sein und Zeit", das Kittler begeistert als "elementare Kulturwissenschaft" liest, so Wetzel. Dabei schreibe Kittler selbst beste Kulturgeschichte, indem er sie nicht ideengeschichtlich, sondern kontextbezogen angehe und außerwissenschafliche Gründe ihrer Entwicklung berücksichtige. Der Text behält den Vorlesungsstil bei, ein "herrlicher Lakonismus", so Wetzel, weiß mühelos "Sprachphilosophie und ? Nutzpflanzenhaltung" zu verbinden. Dass gegenwärtige Debatten nicht vorkommen, geht für Wetzel auch in Ordnung. Denn da ist der Kanon noch nicht bestimmt. Nun ja.