Herman Melville

Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten

Roman
Cover: Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten
Carl Hanser Verlag, München 2002
ISBN 9783446171213
Gebunden, 740 Seiten, 34,90 EUR

Klappentext

Neu aus dem Amerikanischen übersetzt von Christa Schuenke. Zum ersten Mal wird Herman Melvilles Roman "Pierre" in einer Ausgabe vorgelegt, die seinem Rang als Meisterwerk gerecht wird. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der alles aufs Spiel setzt, als er mit seiner Geliebten, einer bedrohlichen Schönheit, nach New York flieht und nicht nur seine Verlobte, sondern sein ganzes bisheriges Leben hinter sich lässt. Ein Roman voller Tragik und Leidenschaft.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 12.04.2003

Kein Wunder, so der Rezensent Uwe Praller, dass Melvilles Roman so abgeneigt aufgenommen wurde, schließlich war er in seinen Einsichten seiner Zeit weit voraus. Und sich selbst auch, in gewisser Hinsicht, denn für das, was er sagen wolle, finde er "keine scharfen literarischen Konturen". In der Geschichte um einen Sohn, Pierre Glenndinning, der mit seiner verwitweten Mutter ein fast inzestuöses Verhältnis lebt, in stiller Verehrung des verstorbenen Vater, bis er von der Existenz einer Halbschwester erfährt und enterbt mit ihr und seiner Frau in die New Yorker Boheme flüchtet, macht Melville klar, so Praller, dass das, "was gleichzeitig hinter der Krise des 'Glaubens der Väter', dem Niedergang der Glendinnings und hinter Pierres Flucht in die New Yorker Existenz als scheiternder Schriftsteller steckt: der puritanische Geist des American way of life." Und es sei nicht so sehr dessen "Doppelmoral", die Melville interessiere, sondern, wie dieses Spannungsfeld entstehen konnte zwischen dem Christentum, der in der amerikanischen Konstitution verankerten "irdischen Glückseligkeit" und der Demokratie. Dass er damit unweigerlich die "Entwertung der christlichen Werte" vornahm, war das damals "Provozierende", das aber heute als "Weitsicht" verstanden werden kann, so der Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 25.01.2003

Niels Werber unterzieht Melvilles "Pierre" einer vergleichenden Lektüre mit dem berühmtesten Werk des Verfassers: "Moby Dick". Nur auf den ersten Blick, so Werber, ist das Verhältnis der beiden Romane durch den Gegensatz von Meer und Land, von unter Hochdruck gesetzter Gesellschaftlichkeit der Zusammengewürfelten an Bord des Schiffes zum einen und fester genealogischer und familialer Bindung an Land zum anderen bestimmt. Vielmehr gilt für diesen Roman, so Werber, dass er die Familie als Ort der Ordnung gerade "dekonstruiert". Pierre heiratet zum Schein seine Halbschwester Isabel, um deren uneheliche Abkunft zu verschleiern. Die ahnungslose Mutter aber verstößt den Sohn, der mit Isabel und seiner eigentlichen Liebe Lucy in eine "Wohngemeinschaft verarmter Luxuskids" in New York flieht. Was die Familie hier bedroht und zerstört, ist, so wiederum Werber, ihre Auflösung im "Beischlaf aller mit allen". Über die neue Ausgabe als solche und das Nachwort verliert der analytisch gestimmte Rezensent leider kein Wort.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 25.01.2003

"Wenn es mit rechten Dingen zuginge, wenn dieses Buch nicht von Herman Melville stammte", versichert Willi Winkler gleich eingangs, "es würde heute nicht mehr gedruckt und schon gar nicht - hundertfünfzig Jahre nach seinem Erscheinen - so aufwändig und gediegen neu übersetzt." Schon die zeitgenössischen Kritiker verrissen Melvilles Schicksals-, Katastrophen- und Familienroman "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten" nach Angaben Winklers in Bausch und Bogen. Einer sei sich sicher gewesen, dass Niemand je die Lektüre des gesamten Buches auf sich nehmen werde. Der Mann hat sich geirrt. Denn Willi Winkler hat das ganze Werk gelesen und nach eigener Auskunft dabei "finstere Qualen ausgestanden". Um sich den daraus resultierenden Frust von der Seele zu schreiben, hat er eine nicht eben kurze, gnadenlosen Kritik in die Tasten gehauen. Melvilles "Pierre", zehn Monate nach dem "Moby-Dick" erschienen, ist nach Ansicht Winklers eine "weitere monströse Fischsuppe, aber diesmal nur noch als Zumutung". Bisweilen erinnere "Pierre" an die ziellos schweifenden, die ungebärdigen Romane der deutschen Romantik, nur gehe ihm fast alle Ironie ab. Alles in allem findet Winkler den Roman einfach nur "blass, ungekonnt, unfertig, ein grauenhaftes Durcheinander aus Bauerntheaterdramatik und Weltverzweiflungsgetöse."
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 09.01.2003

Klar ist für Ulrich Greiner bei diesem Buch nur eines, nämlich, dass die neue Übersetzung von Christa Schuenke wesentlich überzeugender ist als die von Walter Weber aus dem Jahr 1965, wie er sogar an einigen Beispielen vor Augen führt. Dass dieses Buch die Doppeldeutigkeiten im Titel trägt, scheint in den Augen des Rezensenten ansonsten die reinste Untertreibung zu sein. Zum einen sei die Frage - auch in seinen eigenen Augen - noch immer ungelöst, ob es sich bei "Pierre" um Melvilles "schlechtestes Buch" (Updike) oder um sein "eigentliches Vermächtnis" (Übersetzer Walter Weber) handelt. Man lese, ohne zu begreifen, und hätte der Autor einen unbekannten Namen, würde man es wahrscheinlich auch bald sein lassen. Doch so versinke man in der immer bizarrer werdenden Geschichte, die ihr Ziel nicht finden kann, und deren Held laut Greiner auf so viele unterschiedliche Arten gedeutet werden kann: als Opfer puritanischer Doppelmoral, als Opfer eines romantischen Idealismus' oder als traurigen Trottel. "Pierre", urteilt Greiner daher, sei "die Suche nach einer Passage durch die Eiswüsten des menschlichen Daseins". Als Roman findet er ihn "unausgewogen, uneinheitlich, widersprüchlich", als Dokument dieser Expedition jedoch "ergreifend und eindrucksvoll".
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