Kim de l'Horizon

Blutbuch

Roman
Cover: Blutbuch
DuMont Verlag, Köln 2022
ISBN 9783832182083
Gebunden, 336 Seiten, 24,00 EUR

Klappentext

Die Erzählfigur in "Blutbuch" identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, lebt sie mittlerweile in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie. Dieser Roman ist ein Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l'Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 15.10.2022

Rezensent Egbert Tholl äußert große Faszination gegenüber Kim de L'Horizons Buch, das als Roman gehandhabt wird, diese Form aber gründlich unterläuft, wie Tholl zeigt: Einem wilden Strom aus Dialogen, Dialekten, Briefen, Satzschnipseln und -monstern begegnet er hier, verfasst von der nonbinären Erzählinstanz Kim, die sich mit all dem an ihre Großmutter wendet - als würde alles aus ihr heraussprudeln, was sie ihr schon immer einmal sagen wollte, so Tholl. Dabei geht es um die Kindheit, das Aufwachsen in Bern, auch um Foucault und um Virginia Woolf, zählt Tholl auf, und getragen werde de L'Horizons Schreiben dabei von einem Schmerz und seiner Überwindung, was den Kritiker sichtlich berührt - man könne sich bei der Lektüre darauf vorbereiten, regelmäßig von de L'Horizons Sätzen getroffen zu werden. Etwas Manieriertes, "nach außen Gewölbtes" habe dieses fluide Schreiben, das eine Sprache abseits von normativen Zuschreibungen sucht und findet, nicht, betont Tholl - stattdessen ein Buch, das den Leser "durchlässig" macht und in ihm "wirkt", schließt der Kritiker beeindruckt.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 01.10.2022

Viele unterschiedliche Gedanken und Ansichten regen sich bei Rezensent Dirk Knipphals bei der Lektüre von Kim de l'Horizons Debütroman. Zunächst einmal schlägt ihm die formale Radikalität des Romans entgegen: Die experimentelle Familiengeschichte, die die nonbinäre Erzählfigur hier schreibt, will nicht nur gesellschaftliche, sondern auch erzählerische Normen aufbrechen, so Knipphals; und wie sie das tut, in Form von galoppierenden Erzählströmen oder integrierten Schreibmaschinenpassagen, findet der Kritiker "wie brennend" geschrieben. Stellenweise ist er auch genervt vom "Bekenntnisdrang" des Romans; die Vorstellung, dass sich nach der Nominierung für den Deutschen Buchpreis bald "Hochliteraturspezialisten" über die ausführlichen Analsex-Szenen beugen werden, amüsiert ihn wiederum. Und schließlich überlegt Knipphals auch, was mit diesem - mag er noch so verrückt auftreten - weiteren Vertreter des autobiografischen Trends am besten anzufangen sei: ihn als Symptom eines zurzeit besonders präsenten Bedürfnisses nach Selbstvergewisserung abtun, oder ihn in seiner Arbeit am Thema Identität doch in eine Traditionslinie mit Thoma Mann oder Fritz Zorn stellen? Trotz gewisser Vorbehalte scheint Knipphals zu letzterem zu tendieren.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 01.10.2022

Marie-Luise Goldmann muss mit Blut, Sperma und Goethe-Bashing fertigwerden im Buch von Kim de l'Horizon. Davon abgesehen ist es vor allem die "Sprachmacht" des Autors, die sie überwältigt, weniger der Plot. Sie manifestiert sich laut Goldmann im ständigen Wechsel von Ton und Stimmung, im Textfluss ohne Satzzeichen, im Wechsel von Poesie und drastischer Materialität sowie in der Unmöglichkeit von Festschreibungen (durch Genre, Gattung Geschlecht etc.). Alles andere als "brave Identitätsprosa", befindet Goldmann.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 06.09.2022

Rezensent Paul Jandl schätzt die Schichten in Kim de l'Horizons in "flamboyanten" Szenen erzähltem Roman. So entdeckt er unter "viel körperlicher Oberfläche", erotischen Passagen, in denen der nonbinäre Ich-Erzähler sich mit Gärtnern, Pflegern und Paketzustellern vergnügt, "Tiefenschichten großer literarischer Plastizität". Etwa wenn der Erzähler das Wesen der Blutbuche im Garten der Großmutter erkundet, laut Jandl eine botanische Metapher für den Stammbaum der Familie. Dass der Erzähler für sich keine Geschlechterrolle findet und der Text das als Chance vermittelt, erscheint dem Rezensenten bemerkenswert.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.08.2022

Elena Witzeck nimmt die Mühe gern auf sich, die ihr Kim de l'Horizons Roman macht. Mühe? Hingabe! Weil das Erzähler-Ich im Buch einen ganzen weit verzweigten Berner Familienstammbaum zu entschlüsseln sucht und wie es selbst wurde, was es ist, und dabei für jede neue "Erzählschicht" einen "eigenen Ton" findet. Leidvolle Frauenbiografien kommen in den Blick und das Ringen mit der eigenen Identität und dem Körper, so Witzeck, die die subtile Poesie der Erzählung lobt und den liebevollen, eigensinnigen Blick.
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