Manfred Osten

'Alles veloziferisch' oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit

Zur Modernität eines Klassikers im 21. Jahrhundert
Cover: 'Alles veloziferisch' oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit
Insel Verlag, Frankfurt am Main 2003
ISBN 9783458171591
Kartoniert, 110 Seiten, 14,90 EUR

Klappentext

Goethe hatte in vielem recht, in manchem unrecht, immer aber hat er weit vorausgedacht, und so kommt er uns hier nicht aus der Vergangenheit, sondern unverhofft aus der Zukunft entgegen, mit Gedanken zu Themen, die das beginnende Jahrhundert bewegen und beunruhigen: religiöser Fanatismus, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, gentechnische Versuche und die globale Beschleunigung in Wirtschaft und Gesellschaft, in der Lebens- und Alltagswirklichkeit des einzelnen. Manfred Osten hat Goethes "Faust", die "Wahlverwandtschaften" und den "West-östlichen Divan" neu gelesen und ist dabei zu überraschenden Erkenntnissen gelangt, die Goethes unverminderte Aktualität belegen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.10.2003

Eckard Klessmann mochte vielem in diesem Buch gerne zustimmen, wie er überhaupt fand, dass dieser "luzide Essay" - "von einem Liebhaber für Liebhaber", wie der Autor, so erfährt man, sein Buch selbst charakterisiert - "jedem Goethe-Freund neue Einsichten vermittelt". Für Manfred Osten, berichtet der Rezensent, ist Goethes "alles veloziferisch" die "Formel der Moderne". Goethes Wortschöpfung aus "velocitas" (Eile) und Luzifer dient dem Autor also dazu, wie Klessmann berichtet, eine Modernediagnose zu entfalten, der zufolge Beschleunigung und Ungeduld das Zeitalter prägen, dessen Heraufkunft Goethe miterlebte - und das er in einem Brief an den Berliner Oberregierungsrat Nicolovius als eben "veloziferisch" charakterisiert hatte. Außerdem, so erfährt man weiter, geht es dem Autor unter anderem darum zu zeigen, dass Goethe die Natur als "verlässlichste Gegenwelt des Veloziferischen, als letzte große Bastion gegen die beginnende Mobilmachung seines Jahrhunderts" verstanden habe, wie der Rezensent aus dem Buch zitiert. Zweifel meldeten sich beim Rezensenten nur dort, wo Osten auf die Gegenwart zu sprechen kommt. Dass ausgerechnet Airbags, ABS-Systeme und Anrufbeantworter dem Autor als Anzeichen für eine Gegenbewegung zur Beschleunigung gelten, mochte Klessmann nicht recht einleuchten.
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 22.08.2003

Als "originellen Essay", der Goethe auf "Augenhöhe mit dem Zeitgeist" präsentiert, würdigt Ralf Berhorst dieses Buch. Der Autor, Manfred Osten, erkenne in vielen Protagonisten des Goetheschen Spätwerks "Zeitgenossen des einundzwanzigsten Jahrhunderts" (Osten) und sehe viele der Stichworte unserer gegenwärtigen Debatten verhandelt - etwa den künstlichen Menschen und den Dialog der Kulturen, vor allem aber die Beschleunigung aller Lebensverhältnisse. Gegen die mit der Moderne einsetzende unaufhaltsame Beschleunigung von Verkehr, Ökonomie und Nachrichtenwesen, die Goethe unter den Begriff "veloziferisch" - ein Kunstwort, das die velocitas (Eile) mit dem Luziferischen verknüpft - brachte, habe Goethe auf Verlangsamung und ruhige Anschauung gesetzt. Berhorst bezeichnet ihn denn auch als "Kulturkritiker für das 21. Jahrhundert besonders aktuell". Zustimmend äußert sich Berhorst, wenn Osten den "Faust" als "Beschleunigungs-Tragödie" deutet oder dem Dichter in seinem "West-Östlichen Divan" auf "imaginierten Reisen in (noch) nicht beschleunigte Gegenwelten" (Osten) folgt. Dass Osten seine Entdeckungen nicht als "neuen Universalschlüssel" zum Werk Goethes anpreist, sondern bescheiden als "Fundsache" deklariert, spricht nach Ansicht Berhorsts für den Autor.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 11.06.2003

Veloziferisch - das war, erklärt Rezensent Manfred Koch das Attribut, das dem Buch seinen Titel gibt, Goethes Bezeichnung für den ganz auf Beschleunigung setzenden Furor der Moderne, den er auf seine alten Tage erleben musste, für die "wie vom Teufel gerittene Betriebsamkeit", die der menschlichen "Gabe der Kontemplation" den Garaus machte. Und so, ruhig und bedächtig, erst einmal das große Lob: Manfred Osten habe "einen eindringlichen, wunderbar leichten und doch gründlichen Essay" geschrieben. Darin lese er drei Werke Goethes als Ausdruck von dessen Gegnerschaft zur neuen, immer zweckgerichteten Hast und als Plädoyer für ein "Ausbalancieren des wild gewordenen modernen Lebens durch Wiederbelebung der vita contemplativa". So gesehen sind "Die Wahlverwandtschaften" ein "Roman der katastrophal scheiternden 'Projektemacherei'", der die Geduld verachtende Faust des zweiten Teils ist ein "Extremist der Produktivkraft", der sich rasend ins Unglück stürzt. Goethes "West-östlicher Divan" schließlich erscheint in dieser Lesart als Manifest von Goethes "Entschleunigungsprogramm". Goethes späte Helden, so der Rezensent, sind langsam, und auch wir sollten uns besinnen - mit Ostens Buch als wertvoller Handreichung.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 20.03.2003

Rezensentin Elisabeth von Thadden ist sehr angetan von Manfred Ostens Buch "Alles veloziferisch", mit dem der Autor dem 21. Jahrhundert das Goethesche Denken ans Herz legen will. Der Titel "Alles veloziferisch", eine Wortschöpfung Goethes, welche die Eile (velocitas) und den Teufel (luzifer) unwirsch in eins fasse, ist Programm, hält von Thadden fest. Goethes lebenslanger Kampf gegen Ungeduld, Übereilung und die beschleunigte Moderne hat sich laut Rezensentin in seinen Werken niedergeschlagen. In seinen literarischen Hauptwerken entdecke Osten "Goethes Entdeckung der Langsamkeit" neu. Wirklich Neues entdeckt die Rezensentin an Ostens Ausführungen über die Übel der Beschleunigung in "Faust", den "Wahlverwandtschaften" oder im "West-Östlichen Diwan" allerdings nicht. Neu erscheint ihr dagegen die Komposition von Ostens Buch, die in Goethe einen Nachbarn von Nietzsche, Kafka und Beckmann erkennbar mache. Kritisch konstatiert sie dagegen eine gewisse Einseitigkeit bei Osten, insofern er den Fortschrittsskeptiker und "Verehrer der Göttin Gegenwart", den zur Langsamkeit zwingenden Goethe betont, den Goethe, der die Produktivität der Umbruchszeit um 1800 bewunderte, dagegen ausblendet. Überzeugt hat von Thadden die Illustration des Bandes mit Max Beckmanns Federzeichnungen zum "Faust".