Nicholson Baker

Menschenrauch

Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete.
Cover: Menschenrauch
Rowohlt Verlag, Reinbek 2009
ISBN 9783498006617
Gebunden, 576 Seiten, 24,90 EUR

Klappentext

Aus dem Amerikanischen von Sabine Hedinger und Christiane Bergfeld. War der Zweite Weltkrieg der "gerechte Krieg" gegen Hitler? Waren Churchill und Roosevelt die Lichtgestalten, welche die abendländische Zivilisation retteten? Um das herauszufinden oder doch einer Antwort wenigstens näher zu kommen, benutzt Nicholson Baker das Mittel der Textcollage. Der Autor meldet sich nicht zu Wort, er vertraut auf die Wirkung der zitierten Texte aus Tageszeitungen, Politikerreden, Tagebüchern, Briefen. Herausgekommen ist eine Chronik, die belegt, dass ein Vernichtungskrieg vermeidbar gewesen wäre.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 24.03.2009

Gar nicht überzeugt ist Michael Rutschky von Nicholson Bakers Buch "Menschenrauch?. Auf den ersten Blick fühlt er sich bei der aus Texten monterten Chronik an Walter Kempowskis Mammutprojekt "Das Echolot? erinnert. Doch bei genauerem Hinsehen erkennt man nach Rutschky schnell den Unterschied zwischen beiden Werken: während Kempowski nur seine Zeugen sprechen lässt und bei seiner Montage ausschließlich Zitate verwendet, gibt es bei Baker einen Erzähler, der zwar hin und wieder aus den Quellen zitiert, im Wesentlichen aber mit eigener "unverwechselbarer Stimme? spricht. Das Problem sieht Rutschky darin, dass man als Leser die Meinung dieses Erzählers, nur die Pazifisten hätten das Gute gewusst und getan, seien aber leider gescheitert, teilen müsse, ansonsten bleibe das Buch ohne Gewinn. Er hält Baker vor, seinen Erzähler als eine Art "höhnischen Gott? konzipiert zu haben, der über alle - Churchill, Roosevelt, Hitler - denselben Spott gieße und aus der Szenerie eine einzige "Freakshow? mache. Anders als von Kempowskis Chronik hat er davon relativ schnell genug.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.03.2009

Auf etwas merkwürdige Weise bespricht Lorenz Jäger die in den USA höchst kontrovers aufgenommene, nun in deutscher Sprache erscheinende Textcollage von Nicholson Baker. Mehrfach versichert der Rezensent, dass Bakers Anliegen, auf suggestive Weise die Notwendigkeit des Zweiten Weltkriegs durch bloßes Zitieren in Frage zu stellen, legitim sei. Zumindest, wenn man, wie Jäger gerne bereit ist, darin den Einspruch des Dichters gegen die herrschende Ansicht sieht. In seiner Rezension aber kapriziert sich Jäger dann sehr auf das, was seiner Meinung nach fehlt. Stalin zum Beispiel, aber auch Gershom Scholem, der über den Nutzen eines "echten Pogroms" nachdenkt. Insofern ergibt sich trotz des positiven Grundtons der Besprechung ein etwas ambivalenter Eindruck.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 05.03.2009

Ulrich Greiner hat erschüttert und, wie es scheint, ein wenig ratlos die Lektüre von Nicholson Bakers Pazifismus-Collage "Menschenrauch" beendet. Auf 600 Seiten, lässt uns der Rezensent wissen, versammelt der amerikanische Autor die unterschiedlichsten Zeitdokumente: Zeitungsartikel und Briefe, Zeugenberichte und persönliche Erinnerungen. Die Frage, die Baker aufwirft, ist folgende: War der britisch-amerikanische Eintritt in den Zweiten Weltkrieg nötig, und in diesem Ausmaß? Churchill wird bei Baker, so erfahren wir, dargestellt als anti-deutscher Kriegstreiber, Roosevelt als "das Haupt des militärisch-industriellen Komplexes", der wiederum nur auf eine Chance wartet, gegen die Japaner loszuschlagen. Vereint sind Churchill, Roosevelt und Chamberlain zudem in latentem Antisemitismus. In den Vereinigten Staaten, teilt der Rezensent mit, hat Bakers Buch für nicht wenig Entrüstung gesorgt, vorgeworfen wurde dem Autor etwa der fahrlässige Umgang mit Quellen und die Kompetenzüberschreitung eines Romanautors, der sich als Wissenschaftler geriert. Greiner aber kommt zu dem Schluss, dass man es bei "Menschenrauch" in der Tat mit einem literarischen Produkt zu tun habe, schließlich treffe den Leser diese dokumentarische Arbeit "wie kaum eine wissenschaftliche Darstellung". Die kommentarlose Gegenüberstellung kontroverser, sich gegenseitig ausschließender Stimmen findet der Rezensent schlussendlich kaum erträglich.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 03.03.2009

Gustav Seibt beschäftigt sich sehr intensiv mit Nichlson Bakers Geschichtscollage "Menschenrauch", nicht zuletzt um zu ergründen, warum dem Werk von der Kritik so geballter Zorn entgegenschlug. Als "Häppchenhistorie" (Hans-Ulrich Wehler), Buch für Demokratiefeinde (Daniel Kehlmann) und als Produkt "anti-professioneller, verschwörungstheoretisch infizierter Internetkultur" (Anne Applebaum) wurde der Band geschmäht, ruft Seibt in Erinnerung. Baker reiht historische Quellen von Alfred Nobels Utopie von einer kriegsverhindernden Wirkung moderner Waffentechnik von 1892 bis zum letzten, verzweifelten Tagebuchnotat des rumänischen Juden Mihail Sebastian, kaum je unterbrochen durch spärliche Reflexionen des Autors, erklärt Seibt. Für den Rezensenten wird in dieser Materialfülle - Baker hat über 1000 Quellen verwendet - vor allem die "Eskalation" der Gewalt deutlich, die sich bis zu Auschwitz verdichtet. Denn Baker stellt die menschenverachtende Brutalität, mit der bereits Kolonialpolitik betrieben wurde, an den Anfang seiner Collage und demonstriert die Gleichgültigkeit Churchills und Roosevelts gegenüber dem Schicksal der Juden, so der Rezensent weiter. Der Autor vertrete dabei einen pazifistischen Standpunkt und suggeriere nach Art eines "Erweckungspredigers" immer auch eine Möglichkeit zur Umkehr. So wage er es, die Frage aufzuwerfen, ob ein Kompromiss mit Hitler nicht vielleicht Millionen von Juden das Leben gerettet hätte, so Seibt weiter, wobei insbesondere Churchill für ihn die Figur ist, der er seinen unbedingten pazifistischen Standpunkt entgegenhält, stellt ein beeindruckt wirkender Seibt fest, der Bakers Fragen vielleicht naiv, aber nicht gänzlich falsch finden kann.
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