Norbert Gstrein

Die ganze Wahrheit

Roman
Cover: Die ganze Wahrheit
Carl Hanser Verlag, München 2010
ISBN 9783446235496
Gebunden, 304 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

Heinrich Glück, Verleger in Wien, lernt die junge, exzentrische Dagmar kennen und lässt sich scheiden, um seine letzten Jahre mit ihr zu verbringen. Immer ausschließlicher ergreift sie Besitz von seiner Existenz. Als er stirbt, soll er endgültig ihr Eigentum werden: Sie schreibt ein Buch über seinen Tod. Kann eine Frau behaupten, die ganze Wahrheit über ihren Mann zu wissen? Der langjährige Verlagslektor jedenfalls weigert sich, Dagmars Buch zu publizieren. In einem ironischen, brillanten Vexierspiel zeichnet der aus Österreich stammende Norbert Gstrein das Porträt einer Frau, die nur an eine Wahrheit glauben will: ihre eigene.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.08.2010

Mit dem "Gedankenspiel", dass es den Suhrkamp-Verlag, Siegfried Unseld und auch Ulla Berkewicz gar nicht gibt, versucht Rezensent Richard Kämmerlings, diesen vertrackten Schlüsselroman von Norbert Gstrein auf die Distanz zu bringen, die nötig ist, um sich ihm als literarischem Werk zu nähern. Was man dann hätte, wäre zum einen ein "Angestelltenroman" und zweitens eine Satire auf den Literaturbetrieb. Und drittens ist das Buch in seinen Brechungs- und Verfremdungstaktiken ohne jeden Zweifel, so Kämmerlings, "ein echter Gstrein" und eben deshalb auch ein hoch raffiniertes Werk von beträchtlicher "Meisterschaft". Und wenn man dann nachträglich sozusagen den unleugbaren Schlüsselromancharakter des Ganzen wieder hineinblendet, werde sehr deutlich, wie genau Gstrein die Bücher von Ulla Berkewicz kennt, wie klug er deren Motive in den eigenen Text verwebt und wie ernst es ihm sein muss mit seiner Empörung über Berkewiczs Unseld-Tod- und-Verklärungs-Roman "Überlebnis". Auch wenn es ihm manchmal etwas anstrengend wird: Kämmerlings hat das sichtlich mit einiger Bewunderung gelesen.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 14.08.2010

Das ist nun schon der dritte Roman über Ulla Unseld-Berkewicz nach Tilmann Mosers "Literaturkritik als Hexenjagd" und Martin Walsers "Tod eine Kritikers", bemerkt Rezensent Arno Widmann. Drei Bücher über eine Frau reichen ihm aus, um ein neues Genre auszurufen: den "Berkewicz-Roman". Ein Schlüsselroman ist Gstreins "Die ganze Wahrheit" aber nicht, erläutert Widmann in seiner zwischen Überdruss und lauem Interesse leicht schlingernden Kritik. Das Setting des Romans entspricht einfach nicht dem Suhrkamp Verlag. Aus dem die deutsche Geisteswelt regierenden Verleger Siegfried Unseld macht Gstrein nach Widmann zum Beispiel eine lächerliche Figur im Westentaschenformat. Nein, eigentlich ist das nur ein Variation übers Schreiben, und Widmann hört der angenehmen Prosa und der versiert verspiegelten Erzählung eine Weile ganz lang ganz gern zu, um erst herzlich zu gähnen und dann festzustellen: Dies ist eine verkappte Liebeserklärung an Ulla Unseld-Berkewicz.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 14.08.2010

Ein schlüssiger, ja "virtuoser" Roman - wenn man ihn im Kontext von Gstreins bisherigem Schaffen betrachtet, meint Rezensent Andreas Breitenstein. Denn Gstrein habe sich schon immer mit Rollenspielen und wechselnden Identitäten auseinandergesetzt. Wer kennt schon die ganze Wahrheit über eine Person? Man merkt Breitensteins Rezension an, dass er diesen Pfad eigentlich gern weiterverfolgt hätte, aber er kann es nicht, wie er zugibt. Die "erkennbar realen Bezüge" zur Suhrkamp-Verlegerin Ulla Berkewicz schieben sich ihm immer davor. Statt zu spekulieren, was "stimmt", beschränkt sich der Rezensent von da an aufs Nacherzählen und dabei findet er auch einige Schwachpunkte im Roman: Zum Beispiel, dass die Verlegerin keinen echten Gegenspieler hat. Der Erzähler, ein Lektor des Verlags, hat nicht das "Format" dazu, und auch der verstorbene Verleger-Ehemann bleibe eher blass. Dennoch gelingen dem Autor immer wieder "glänzende Szenen", so Breitenstein, der sich für die Besprechung gern etwas mehr Zeit gelassen hätte. "Doch wer hat die schon?"

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 14.08.2010

Ceci n'est pas un Schlüsselroman, meint Rezensent Christoph Bartmann mit explizitem Verweis auf die Pfeife des Rene Magritte. Soll heißen: Natürlich ist es einer, oder jedenfalls ist es ein Roman, der so tut, als wäre er ein Schlüsselroman, um behaupten zu können, er sei in Wahrheit doch keiner. Oder andersrum. "Doppelbödig" jedenfalls, mindestens. Um eine Wiener Verlegerin, die Dagmar Glück heißt und nicht Ulla Berkewicz, geht es und um ihr mystisches Irresein, das beim Tod des Gatten, der nicht Siegfried Unseld heißt, endgültig durchbricht. Erzählt wird die Geschichte vom Lektor, der einst sehr bezirzt war von der als Dramatikerin aufs Dramatischste nicht reüssierenden Autorin, jetzt aber den Umgang der Witwe mit dem Tod ihres Mannes nur degoutant finden kann. So weit, so nah oder fern den Verhältnissen in Frankfurt (respektive nunmehr Berlin). Leugnen will der Rezensent nicht, dass ihm die Lektüre dieses Romans "Vergnügen" bereitet hat. Er gibt aber andererseits zu bedenken, dass ein dermaßen abgesicherter "dekonstruktiver Rufmord" letzten Endes vielleicht doch nichts anderes ist als eben: der Versuch eines Rufmords mit literaturtheoretischem Alibi.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 14.08.2010

Glatter Verriss. Den Rezensenten Christoph Schröder scheint dieses Buch geradezu abgestoßen zu haben. Er liest es als glatten Rufmord an Ulla Berkewicz. Gstreins Literarisierungsversuch erscheint ihm geradezu "läppisch" angesichts der Klischees und unappetitlichen Details. Die Literarisierung macht die Herabwürdigung in seinen Augen nur irgendwie "ungreifbar" - was er dem Autor nicht als Mut anrechnet. Warum diese Rachsucht, fragt er sich entgeistert, der der Autor sogar "unverwechselbare" Sprache opfert.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 12.08.2010

Enttäuscht legt Hubert Winkels diesen vermeintlichen Schlüsselroman über Ulla Berkewicz wieder weg. Hat er doch "Schundliteratur der Premiumklasse" erwartet und nur ein störrisch-kleinliches Konstrukt bekommen, das die, die eigentlich als Täterin entlarvt werden sollte, dem Kritiker zunehmend als Opfer dieses Romans erscheinen lässt, der am Ende gar Beschützerinstinkte gegenüber Ulla Berkewicz in ihm weckt. Ob das Taktik ist?, fragt der Kritiker sich und wohl auch Norbert Gstrein, um dann doch seufzend zu einem bedauernden "Nein" zu finden. Dieses Buch stillt nichts, schreibt Winkels schließlich bitter: weder den Hunger nach Schund noch den nach Realität, und schon gar nicht den nach einer gelungenen Form, mit der den Dingen zu begegnen wäre.