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Geschichte

Dieses Buch wurde bis jetzt noch in keiner überregionalen Zeitung besprochen - wir wissen nicht warum, empfehlen wollen wir es trotzdem: Anita Kuglers Geschichte des - vielleicht - jüdischen SS-Offiziers Eleke Scherwitz ) ist das aufregendste Sachbuch dieser Saison. Es erzählt, mit dem Können einer erstklassigen Journalistin, die Geschichte eines jungen Mannes aus sehr kleinen Verhältnissen, der im lettischen Konzentrationslager Lenta Juden rettete - und vielleicht auch mordete. Der Jude war - oder vielleicht auch nicht. Die deutschen Gerichte, die ihn nach dem Krieg verurteilten, glaubten, dass er einer war - er selbst behauptete es - und werteten dies strafverschärfend. Kuglers Buch recherchiert die Spuren eines Überlebenskünstlers. Wäre es damals nicht um Leben und Tod gegangen, würde man ihn einen Filou nennen. Neben der unglaublichen Geschichte des Eleke Scherwitz - ob dies sein richtiger Name ist, wissen wir auch nach siebenhundert Seiten nicht - ist dies auch ein Buch über Geschichtsschreibung: Kugler hat die noch lebenden Zeitgenossen Scherwitz' aufgetrieben, ist in Dörfern von Tür zu Tür marschiert und hat nachgefragt. Und dann sieben Jahre lang die Akten studiert. Ihr Fazit: Auch Zeitzeugen lügen. Die historische Wahrheit ist nicht immer zu rekonstruieren. Vielleicht ist die Kritik deshalb bisher vor dem Buch zurückgeschreckt?

Geschichtsschreibung ganz anderen Stils betreibt Valentin Groebner, dessen neueste Studie "Der Schein der Person" () eine sozialgeschichtliche Untersuchung zu mittelalterlichen Praktiken des Identifizierens und der Ausweiskontrolle im Mittelalter. Überschwänglich lobt der Historiker Michael Borgolte in der FAZ den "neuen wissenschaftlichen Stil" des Autors, seine "Erzählfreude" und Leserfreundlichkeit. Die SZ will die "Kurzweiligkeit" des Buches keineswegs leugnen, beklagt allerdings einen gewissen Mangel an methodischer Solidität.


Naturwissenschaften

Bis auf den Titel des Spiegel brachte es die Andere Bibliothek mit ihrer dreifachen Wiederentdeckung des reisefreudigen Naturforschers Alexander von Humboldt. Neben der zweibändigen Prachtausgabe des "Kosmos" () wurden auch die "Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas" () und seine "Ansichten der Natur" () neu veröffentlicht. Die Feuilletons sekundierten bereitwillig und unterstützten Hans Magnus Enzensbergers Versuch, den vor allem in Deutschland kaum mehr gelesenen Autor ins Bewusstsein der Nation zurückzuholen. So preist die NZZ das "Opus magnum eines umfassenden Geistes", während die SZ vor allem die naturwissenschaftliche Prosa lobt, die einen lehre, "die Welt aus ihren Entwürfen zu begreifen". Die FR fühlte sich bei der Lektüre gar an die Abenteuerromane eines Alexandre Dumas oder Robert Louis Stevenson erinnert. Der FAZ hat zudem die Hörbuch-Ausgabe des "Kosmos" gefallen.

Durchweg Lob und Preis gab es für Matthias Hagners wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung der Hirnforschung unter dem Titel "Geniale Gehirne" (). Das allem Naturwissenschaftlichen programmatisch zugetane FAZ-Feuilleton hat diesem Buch gar bescheinigt, es handle sich dabei um den lange erwarteten "großen Gegenwartsroman" in Gestalt eines Sachbuchs. Wer jetzt fürchtet, das liege wohl am Titel, sei beruhigt: Auch die FR findet es erfreulich, dass durch Hagners präzise Geschichtsbeobachtung auch die erstaunliche und oft eher bedenkliche Renaissance der Hirnforschung in einem anderen Licht erscheint. Die ebenfalls freundlich gestimmte SZ meint nur, dass Hagner in dieser Hinsicht ruhig noch etwas deutlicher hätte werden dürfen.

Die besprechenden Zeitungen mitten entzwei gerissen hat der Star-Mathematiker Marcus de Sautoy mit seinem Versuch, die "Musik der Primzahlen" () einem interessierten Laienpublikum näherzubringen. Während die FAZ sich vom Verzicht des Autors auf einen Ton der "neckischen Bastelladen-Kumpelei" sehr angetan zeigt, konnte sich der Rezensent der SZ nur die Haare raufen ob dieses sich seiner Ansicht nach in "missratener Metaphorik, sinnlosen Superlativen, abseitigen Anekdoten, inhaltsleeren Introspektionen" ergehenden Werks.

Lobend erwähnt wurden auch Angelo Mojettas "Meeresatlas" ), der laut Frank Schätzing in der SZ durchaus geeignet ist, einen Tiefenrausch hervorzurufen, und David Quammens "Das Lächeln des Tigers" das nach Julia Voss in der FAZ einen heiligen Respekt vor durchaus auch Menschenfressern einflößt. Und natürlich Carl Safinas "Ein Albatros namens Amelia" (), das Michael Adrian in der FAZ restlos begeisterte. Am Beispiel der Albatrosmutter Amelia entfaltet Carl Safina ein Porträt des einst von Baudelaire besungenen Riesenvogels. Und auf den 520 Seiten des Buch erfährt man nach Adreian einiges, zum Beispiel dass Albatrosse sechzig Jahre alt werden und sogar im Fliegen schlafen können.


Kulturgeschichte

Die reich illustrierte "Geschichte der Schönheit" () von Umberto Eco und Co-Autor Girolamo de Michele hat trotz einiger Skepsis auch viel Zustimmung gefunden. Die SZ freut sich über den "mächtigen Theoriehunger" der Autoren, mit dem sie die jeweiligen Schönheitstheorien auf den Punkt bringen. Die FAZ findet das Werk zwar etwas zu ehrgeizig, doch befällt sie beim Blättern "wachsendes Behagen" angesichts der "subtil ausgesuchten Illustrationen". Bewundernswert und brillant, lobt Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ. Nur Bazon Brock findet das Buch in der Zeit angesichts der "bildsprachlichen Naivität" völlig überflüssig.

Die Ankunft eines weiteren Klassikers der Filmliteratur im deutschen Sprachraum begrüßt bisher einzig die FAZ: Neal Gablers Studie "Ein eigenes Reich" () zur zentralen Bedeutung jüdischer Emigranten für die Hollywood-Geschichte. Empfohlen sei außerdem noch Roberto Zapperis "Der wilde Mann von Teneriffa" () - die Geschichte eines Mannes von den Kanarischen Inseln, dessen Körper und Gesicht fast ganz mit Haaren bedeckt war, weshalb man ihn im 16. und 17. Jahrhundert als Kuriosität an den europäischen Fürstenhöfen herumreichte. Der NZZ lobt das so "anspruchsvoll wie bescheiden verfasste Buch" wegen seiner Detailgenauigkeit.


Philosophie

In Deutschland noch zu entdecken ist die US-Philosophin Philippa Foot. Ihr jetzt übersetztes Buch "Die Natur des Guten" () ist dafür die beste Gelegenheit. Diese schmale und konzentrierte Schrift zu Grundlagen der Moralphilosophie hat dem Rezensenten der NZZ "großen Lesegenuss" bereitet, obgleich er mit den Ergebnissen der Autorin nicht übereinstimmt. Auch die FR und die SZ besprechen das Buch ausführlich. Alles andere als eine Zeitverschwendung ist nach Meinung der Kritiker Harald Weinrichs Parforceritt durch die Geschichte des Zeitmangels, seine Studie "Knappe Zeit" (). Die Antwort auf die Frage, warum es uns immer an der Zeit fehlt, sucht er in der Antike ebenso wie in der Gegenwart, bei Philosophen wie bei Literaten. Die SZ und die FAZ bewundern die Souveränität, mit der sich der Autor durch die gesamte abendländische Geistesgeschichte bewegt.

Auf Zustimmung ist auch Elmar Holensteins "Philosophie-Atlas" () gestoßen, der die "Orte und Wege des Denkens" - und zwar weltweit - nachzeichnet. Bei den vielen Karten und Schaubildern ist bei keinem der Rezensenten ein Aha-Effekt ausgeblieben. Allerdings wird auch gewarnt, dass man sich keine Geschichte der Philosophie erwarten darf, sondern eher einen, wie es der Kritiker der NZZ formuliert, "geografischen Begleiter bei der Lektüre philosophiegeschichtlicher Literatur".


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