Bücher der Saison

Krimis 2017

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
06.11.2017. Ottessa Moshfegh treibt "erzmännliche Erzählmuster durch alle Genresäure- bäder". John Le Carré taucht mit seinem alten Helden Alec Leamas in die wohlige Klarheit des Kalten Kriegs. Und dann ist da noch ein dicker und menschenscheuer irischer Dorfpolizist.
Vor der Abgründigkeit von "Eileen" dem zweiten auf Deutsch erschienenen Roman der amerikanischen Schriftstellerin mit kroatisch-iranischen Wurzeln, Ottessa Moshfegh, hätte selbst Hitchcock den Hut gezogen, schwärmt Elmar Krekeler in der Welt. Denn in diesem in den Sechzigern spielenden Noir um die vielfach missbrauchte Heldin, die auf einem Dachboden bei ihrem alkoholabhängigen Vater haust und bei ihrer Arbeit im Jugendknast auf Menschen trifft, denen Ähnliches widerfahren ist, erzähle Moshfegh spielerisch und doch mit atemberaubender Präzision nicht nur von einem materiell und seelisch verarmten Milieu, sondern jagt auch "erzmännliche Erzählmuster durch alle Genresäurebäder", lobt der Kritiker. Auch wenn die Heldin keine Sympathieträgerin zu sein scheint, können sich die KritikerInnen ihrer Sogkraft nicht entziehen: Einem ungewaschenen, psychisch schwer gestörten, ebenso grausamen wie sensiblen Ekel begegnet SZ-Kritikerin Luise Checchin und staunt doch über die Mitleidlosigkeit, mit der die gealterte Eileen auf ihr jüngeres Ich zurückblickt. In der FAZ bewundert Tilman Spreckelsen den "hinterlistigen Eifer", mit dem die Autorin die "monströsen Fantasien" der jungen Frau seziert. Im Guardian spricht Moshfegh über den Roman.


Ein begeistert aufgenommenes Krimidebüt ist Lisa Sandlins Noir "Ein Job für Delpha" der von einem texanischen Frauengefängnis in den Siebzigern erzählt. FAZ-Kritiker Hannes Hintermeier meint, Sandlins atmosphärischer und dialogreicher Roman erfindet den "Noir" ganz neu, in der Welt erliegt Elmar Krekeler der Schönheit der Sprache und der Wärme der Figuren und Perlentaucherin Thekla Dannenberg fühlt sich in ihrer Krimikolumne Mord und Ratschlag angesichts der Affäre der Heldin an die "Sinnlichkeit" von Barock-Kunstwerken erinnert. Beeindruckt hat auch Sven Heuchert mit seinem Krimidebüt "Dunkels Gesetz" Raymond Chandler hätte die im Drogen- und Prostitutionsmilieu spielende Geschichte um den traumatisierten Ex-Söldner und Sicherheitsmann Richard Dunkel geliebt, versichert Zeit-Kritiker Tobias Gohlis. Im Spiegel meint Marcus Müntefering dieser "Country-Noir" sei das "Gegengift zu banalen Regiokrimis". Auf Kaliber.38 schüttelt Thomas Wörtche allerdings den Kopf über die Gewolltheit dieses Romans und erkennt eigentlich auf "Kohlsuppennaturalismus".

Von einer Zukunft, in der die Schweiz allein von einer national-populistischen Partei regiert wird, erzählt uns Allround-Talent Charles Lewinsky in "Der Wille des Volkes" In der NZZ liest Thomas Ribi nicht nur einen brandaktuellen, sondern auch mitreißenden Krimi über einen mysteriösen Mord und Linke, die zu stolz sind, gegen den rechten Populismus vorzugehen. Für SZ-Kritiker Martin Ebel ist der liebenswürdige, aber "tüddelige" Ermittler ein wenig zu langsam. Friedrich Ani, längst ein Altmeister des deutschen Krimis, beweist mit "Ermordung des Glücks" wieder einmal seine Sympathie für die Untröstlichen und Ratlosen, schwärmt Sylvia Staude in der FR und meint: Das geht näher als die "Landhaus-Whodunnits" von der Stange. Und in der Welt fühlt sich Elmar Krekeler gleich von der Menschlichkeit von Anis Figuren umarmt.

John Le Carre erzählt in "Das Vermächtnis der Spione" noch einmal von dem MI6-Agenten Alec Leamas, dessen Kinder sich nun gemeinsam mit dem Ex-Agenten Peter Guillam durch ein Dickicht aus fingierten Berichten und Tonbandprotokollen ackern, um den Mord an ihren Eltern aufzuklären. Perlentaucherin Thekla Dannenberg liest den Roman als bravouröses Prequel zum "Spion, der aus der Kälte kam" und als wunderbare Reminiszenz an jene Zeit des Kalten Krieges, als der Kampf um den Anstand in Geheimdiensten noch nicht verloren war. In der SZ lobt Fritz Göttler ein furioses, bisweilen "melancholisches" Werk über die "Mythologie" der Spionage in der Zeit vor der totalen Überwachung. Begeistert wurde außerdem Graham Nortons dicker und menschenscheuer "Irischer Dorfpolizist" von den Kritikern aufgenommen, in dem Norton ganz ohne "Folklore" von den zerplatzten Träumen und den verpassten Lebens- und Liebeschancen der Bewohner einer Provinzgemeinschaft erzählt. FR-Kritikerin Sylvia Staude verleiht Graham außerdem einen "Extraorden für eine peinlichkeits- und sprachklischeefreie Sexszene". Im Perlentaucher begeisterte sich Thekla Dannenberg zudem für Graeme Macrae Burnets George-Simenon-Reverenz "Das Verschwinden der Adele Bedeau" den auch FAZ-Kritikerin Rose-Maria Gropp für seine nervenaufreibende Abgründigkeit lobt.

Weitere Krimiempfehlungen finden Sie in Thekla Dannenbergs Kolumne "Mord und Ratschlag" und in der Buchdatenbank des Perlentauchers.