Salman Rushdies Zustand hat sich nach dem Attentat in New York diversen Agenturmeldungen zufolge leicht gebessert - bleibende Schäden wird er aller Wahrscheinlichkeit dennoch davon tragen. Er spreche wieder und
zeige Humor,
twitterte sein Sohn (während die iranische Propaganda den Anschlag ekelhaft
feiert):
Außerdem melden Geheimdienste, dass der mutmaßliche Täter
offenbar Kontakte zum Iran hatte.
Der Schock sitzt tief. Rushdie selbst gab sich in den letzten Jahren betont gelassen, was seine Gefahrenlage betrifft. Doch "den einzelnen Kopfgeldjäger oder Verrückten mag man vergessen und verachten, aber das mörderische Rudel gibt nicht auf", schreibt in der
SZ Bernhard-Henry Lévy, der außerdem an einige "Angsthasen" seit der vom Ajatollah Khomeini verhängten Fatwa 1989 erinnert: Der französische Außenminister Roland Dumas verweigerte Rushdie ein Visum für einen Besuch in Frankreich, Prinz Charles beschwerte sich einst über die Kosten für Rushdies Sicherheit. Was Lévy "in all diesen Jahren beeindruckte, war diese Stille, mit der Rushdie seine Heldenrolle spielte. Er sah ja, dass kaum ein Jahr verging, in dem nicht eine große Hauptstadt einen falschen iranischen Diplomaten auswies, der mit seiner Fatwa in Verbindung stand. Er wusste, dass es immer noch angebliche Freunde der muslimischen Völker gibt, die trotz der
Attentate auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo und den Supermarkt
Hyper Kasher und all den anderen Morden der Meinung sind, dass man den Glauben eines anderen niemals beleidigen dürfe und dass, wenn dem Beleidiger ein Unglück widerfahre, er es selbst verschuldet habe."
"Es gibt vielleicht keinen lebenden - wie freudig ich das jetzt hinschreibe - Schriftsteller, der so viel nachgedacht und geschrieben hat über den Umgang der Menschen und der Autoren mit der Lüge",
schreibt Arno Widmann in der
FR. "Sie ist das Mittel, das uns
hinaus hilft aus der Wirklichkeit. Ohne sie würden wir uns selbst ins Gefängnis setzen einer
Welt aus lauter Protokollsätzen."
Hamed Abdel-
Samad ärgert sich in der
NZZ beim Blick in die Social-Media-Accounts von
Intellektuellen aus der arabischen Welt, die den Anschlag auf Rushdie zwar verurteilen, aber im gleichen Atemzug auch dessen "Satanische Verse" als Verbrechen darstellen: "Die absolute Mehrheit dachte nicht an den alten Mann, der zwischen Leben und Tod schwebt, sondern sah, dass ihre
Religion das eigentliche Opfer des Anschlags ist. Sie hatten Angst, dass der Vorfall dem Image des Islam schaden und Wasser auf die Mühlen der Islamophobie im Westen giessen würde. Ihre Ansichten waren Ausdruck von
Infantilität,
Egoismus und mangelndem Verantwortungsbewusstsein, die ich für viel gefährlicher halte als den Islamismus selbst."
Manuel Müller (
NZZ) und Andreas Fanizadeh (
taz) erzählen nach, wie der greise Ajatollah Chomeini 1989 dazu aufrief, Salman Rushdie wegen seines
Romans "Die satanischen Verse" zu ermorden. "Erstaunlich"
findet es Gerrit Bartels in seiner Zusammenfassung der Fatwa-Geschichte für den
Tagesspiegel, "dass gerade in den Jahren der Hochzeit des islamistischen Terrors Anfang und Mitte der Zehnerjahre Jahre die Sorge um Rushdie sich in Grenzen hielt." Gero van Randow hält auf
ZeitOnline zur Fatwa
fest: "'Die satanischen Verse' sind ein lustiges, anrührendes, fabulierendes, spottendes,
spielerisches Buch, das nun gar nicht antiislamisch ist; wer sich durch diesen Roman beleidigt wähnt, muss schon
von einer aufs Äußerste gespannten Bereitschaft dazu durchdrungen sein. ... Nein, Salman Rushdie ist kein Provokateur, er ist ein Symbol des Freiheitswillens. Und um es gleich zu sagen: eines
universellen Freiheitswillens. Der ist mitnichten ein westliches Ding, irgendein geistiger Wurmfortsatz des Kolonialismus oder dergleichen, auch kein 'westlicher Wert'. Vergessliche muss man vielleicht daran erinnern, dass sich die
antikolonialen Bewegungen noch stets als Freiheitsbewegungen verstanden."
Im
Observer deutet Kenan Malik die Fatwa als
Keimzelle des Identitätsdenkens: "Die
Anti-
Rushdie-
Kampagne war vielleicht der erste große Wutausbruch über die Verunglimpfung von Identitätssymbolen in einer Zeit, in der diese Symbole neue Bedeutung erlangten. Briten mit muslimischem Hintergrund, die in den 1970er und frühen achtziger Jahren aufwuchsen, sahen 'muslimisch' selten als ihre Hauptidentität. Die Rushdie-Affäre kündigte einen Wandel in der Selbstwahrnehmung und die Anfänge einer
ausgeprägten muslimischen Identität an." Taslima Nasreen
erinnert sich in
The Print daran, wie es war, als sie in
Bangladesch zur Solidarität mit Rushdie aufrief, was ihr selbst ein Preisgeld auf ihren Kopf einbrachte: Der Islam sei nicht zu kritisieren, das steht so schließlich im Koran. "Der
Islam wurde von der
kritischen Prüfung, die für andere Religionen gilt, ausgenommen. Letztere konnten ihre Fehler und Irrtümer nur deshalb korrigieren, Barbarei und Diskriminierung beseitigen und der Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen ein Ende setzen, weil sie von Regierungen und fortschrittlichen Denkern einer kritischen Prüfung unterzogen wurden. Doch im Islam gibt es nach wie vor alle Formen von Brutalität, Gräueltaten und
Diskriminierung von Frauen."
Weitere Artikel:
Sergei Gerasimow setzt
hier und
dort den zweiten Teil seines Kriegstagebuchs aus Charkiw fort.
Steffen Schroeder erzählt in der
FAZ von seiner literarischen Annäherung an das Verhältnis zwischen dem von Nazis ermordeten
Erwin Planck und dessen Vater, worüber er einen
Roman geschrieben hat. Auch
Samuel Beckett war mal Opfer eines Messerangriffs,
erinnert Matthias Heine in der
Literarischen Welt.
Besprochen werden unter anderem
N.
K.
Jemisins "Die Wächterinnen von New York" (
Freitag),
Thomas Hürlimanns "Der Rote Diamant" (
Tsp),
Émile Bravos Comic "Spirou oder: die Hoffnung" (
Tsp),
Andi Watsons Comic "Die Lesereise" (
taz),
Sigrid Nunez' "Eine Feder auf dem Atem Gottes" (
Tsp),
Anna Kims "Geschichte eines Kindes" (
Standard),
Behzad Karim Khanis "Hund Wolf Schakal" (
Zeit),
Christine Koschmieders "Dry" (
Freitag), eine Ausstellung
im Deutschen Romantik-Museum Frankfurt zum Briefwechsel zwischen
Friedrich Schlegel und
Novalis (
FAZ) und neue Hörbücher, darunter
Rolf Beckers Lesung von
Gottfried Benns Rönne-Novelle "Gehirn" (
FAZ).