Efeu - Die Kulturrundschau - Archiv

Literatur

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Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.03.2023 - Literatur

Sigrid Köhler, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen, findet in der taz, dass Wolfgang Koeppens Roman "Tauben im Gras" (unsere Resümees zur Debatte) nicht als Pflichtlektüre "an beruflichen Gymnasien" geeignet sei. Sie wirft ihm stilistische Mittel vor: "Die rassistischen Einstellungen der Figuren sollen durch diese Zuspitzung im Roman sicherlich kritisch vorgeführt werden." Auch beklagt sie, dass im Roman sexuelle Fantasien dargestellt werden: "Es sind zum Teil verstörende Passagen, wenn es zum Beispiel um die Figur Carla geht, die lustvoll von ihrer Vergewaltigung träumt: 'In der sechsten Woche hielt Carla es nicht mehr aus. Sie träumte von N*****. (...) Schwarze Arme griffen nach ihr: wie Schlangen kamen sie aus den Kellern'. - Es sind Passagen, die man eigentlich nicht mehr zitieren möchte oder zitieren sollte, aber offenbar angesichts des Insistierens vonseiten der Verantwortlichen in ihrer Drastik noch einmal zitieren muss."

Jürgen Kaube zählt in der FAZ alle Änderungen auf, die von "Bewusstheits-Lektoren" des Harper-Collins-Verlags an Agatha Christies Roman "And Then There Were None" (deutsch ursprünglich "Zehn kleine Negerlein") vorgenommen wurden, diskrete meist, aber sie summieren sich: Und doch: "Shakespeares 'Othello' könnte nach solchen Maßstäben gar nicht mehr gedruckt und gespielt werden. Und welche Komödie wäre je ohne Stereotype ausgekommen? Protestieren bald die tatsächlichen Kranken gegen den eingebildeten?"

Besprochen werden unter anderem Georg Kleins neuer Erzählband "Im Bienenlicht" (FAZ), ein Band über die Entstehung der "Katzenjammer-Kids" eines der frühesten Zeitungscomics in den USA, der von dem deutschen Rudoplh Dirks erfunden wurde (SZ) und Bernardine Evaristos neuer Roman "Mr. Loverman" (NZZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.03.2023 - Literatur

Höflich, aber bestimmt gibt Harry Nutt in der FR seinem Entsetzen Ausdruck, dass die Lehrerin Jasmin Blunt Wolfgang Koeppens Roman "Tauben im Gras" wegen rassistischer Sprache aus dem Schulunterricht fernhalten will (unser Resümee). Der Roman bringe einen Stream of Consciousness, er wende sich gegen Rassismus, ist aber natürlich in seiner Zeit geschrieben, so Nutt: "Erweisen sich die Versprechen der Aufklärung nicht als fatale Illusion, wenn Akademiker und Akademikerinnen, die mit der Vermittlung von Kunst und Literatur betraut sind, vor einer zeitgenössischen Rezeption lieber kapitulieren, anstatt einen Ansporn darin zu sehen, das Handwerkszeug zu schärfen und es zur Geltung zu bringen? Anlass zur Sorge bereitet die anhaltende Diskussion um 'Tauben im Gras' auch deshalb, weil selbst erfahrene Vertreterinnen der Literaturwissenschaft scheinbar nur bedingt Zutrauen in die Fähigkeit von jungen Menschen vor dem Abitur haben, eigene Antworten auf derlei Fragen zu finden."

Buchverlage haben die Eigenschaft, meist mit einiger Verspätung den neuesten digitalen Trends hinterherzulaufen. Nachdem "Second Life" doch nicht das ganz große Ding war, ist nun Tiktok dran. Kiepenheuer & Witsch hatte die großartige Idee, bei Tiktok aus Briefen unbekannter Autoren vorzulesen, die ein "unverlangtes" Manuskript eingereicht hatte, berichtet Adrian Schulz im Tagesspiegel. Da verlangt einer "10.000 Euro Vorschuss und gibt an, sein Werk mehreren Verlagen angeboten zu haben. Der erste, der ihm zusage, bringe die anderen Verlage 'auf den Friedhof'. Das Wort wird horrorfilmartig verzerrt ausgesprochen. Die Videos haben, anders als viele andere des Verlags, nicht hunderte oder tausende Aufrufe, sondern zwischen 50.000 und 1,2 Millionen." Aber der Verlag muss nun einen Sturm der Entrüstung überstehen: "Der Fall offenbart den Druck, unter dem sich die Verantwortlichen geglaubt haben müssen: mitzuhalten im schnellen Spiel der sozialen Medien. Inhalte entstehen hier nicht über Monate oder Jahre, sondern binnen Stunden. Wie viel Neues, Gutes kann ein Verlagshaus für dieses Umfeld produzieren?"

Außerdem: Andreas Platthaus würdigt den Schriftsteller Erwin Riess, Erfinder des behinderten Kommissars "Groll", selbst behindert und virtuoser Schmäher Österreichs, der im Alter von 65 Jahren gestorben ist

Besprochen werden unter anderem Barrie Koskys Memoirenband "Und Vorhang auf, hallo! - Ein Leben mit Salome, Mariza, Miss Piggy & Co.", Trude Teiges Roman "Als Großmutter im Regen tanzte" über Norwegen im Zweiten Weltkrieg (beide FAZ), Jan Philipp Reemtsmas Biografie über Christoph Martin Wieland und Daniel Glattauers Roman "Die spürst du nicht" (SZ).
Stichwörter: Kosky, Barrie

Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.03.2023 - Literatur

Sprechblasen als Ballons in dreidimensionalen Comics: Terhi Adler.



Andreas Platthaus hat für die FAZ das "Fumetto"-Festival in Luzern besucht, das avantgardistischste aller Comicfestivals, wie er erläutert. Dort hat er gelernt, was man alles mit Sprechblasen machen  kann, zum Beispiel bei dem Schweizer Aurelio Todisco: "Er erzählt stumm, also wortlos, nutzt aber trotzdem Sprechblasen, in die er jedoch Bilder zeichnet, die wie Fenster ins Bewusstsein seines Protagonisten sind: eines Flüchtlings, der unmittelbar vor der Abschiebung steht. Noch viel origineller geht die finnische Autorin Terhi Adler mit Sprechblasen um: Sie nimmt deren Bezeichnung wörtlich und gestaltet sie in ihren dreidimensionalen 'spatial comics' als über den aus Pappmaschee gefertigten Figuren schwebende Ballons, auf die dann die Dialoge geschrieben sind. Einer von ihnen schwebt scheinbar beziehungslos im Gespräch, aber unter ihm kann man als Besucher Platz in der Geschichte nehmen. "

Außerdem: Die FAZ bespricht neue Kinderbücher, in der SZ gibt es die montägliche "Politische Buch"-Seite. Besprochen wird außerdem Teresa Präauers neuer Roman "Kochen im falschen Jahrhundert" (Tagesspiegel)
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Stichwörter: Comic, Graphic Novel

Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.03.2023 - Literatur

Richard Kämmerlings hat sich auf der Hamburger Reeperbahn für die Welt mit Georg Klein getroffen, dessen neuer Erzählband "Im Bienenlicht" gerade erschienen ist. Der Tod und das Jenseits - in der Literatur wie im wirklichen Leben - sind ihr Thema: "In 'Bruder aller Bilder', seinem jüngsten Roman von 2021, hat Klein seine bayerisch-schwäbische Herkunftsprovinz als Gedächtnislandschaft voller Zeichen und Wunder entworfen, wo altmodische, funktionslos gewordene technische Geräte - ein Münztelefon, ein Röhrenfernseher - zur Kommunikation mit den Toten dienen. Das war auch eine literarische Form von Trauerarbeit. Doch dann sagt Georg Klein ganz ernst: 'Den technischen Medien traue ich unheimlich viel zu. Wenn das Telefon klingelt und mein verstorbener Bruder wäre dran, ich würde mich nicht wundern. Ich würde eher sagen: Du hast dir ja ganz schön Zeit gelassen, dich zu melden.'"

Weitere Artikel: Jan Wiele unterhält sich für die FAZ mit Bret Easton Ellis.

Besprochen werden Ilona Haberkamps Biografie der deutschen Jazzerin Jutta Hipp (taz), der Sammelband "Canceln - ein notwendiger Streit" (taz), Dominic Oppligers "Giftland" (NZZ), Mary Hunter Austins Essay über den amerikanischen Westen "Wo wenig Regen fällt" (taz), Teresa Präauers Roman "Kochen im falschen Jahrhundert" (Tsp), Fen Verstappens "Lebenslektionen meiner Mutter" (taz), Julia Trompeters Lyrikband "Versprengtes Herz" (FR), Shelly Kupferbergs Roman "Isidor. Ein jüdisches Leben" (SZ), Toni Morrisons "Rezitativ" (SZ), Witold Gombrowiczs von Rolf Fieguth neu übersetzter Roman "Ferdydurke" (FAZ), Andreas Maiers Roman "Die Heimat" (FAZ) und ein Band über "Die mutigen Frauen Irans" (FAZ).

In der Frankfurter Anthologie analysiert Norbert Hummelt Jürgen Beckers Gedicht "Anrufbeantworter":

"Zu spät vielleicht; da liegt noch
die Einladung, aber als die Stimme vom Band
kam, legte ich gleich auf.
..."
Stichwörter: Klein, Georg

Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.03.2023 - Literatur

Clemens Setz steht mit seinem Roman "Monde vor der Landung" auf der Shortlist für den Leipziger Buchpreis, meldet unter anderem die taz: In der Belletristik-Kategorie konkurrieren außerdem Ulrike Draesner ("Die Verwandelten"), Joshua Groß ("Prana Extrem"), Dinçer Güçyeter ("Unser Deutschlandmärchen") und Angela Steidele ("Aufklärung. Ein Roman"). Zu den Sachbuchnominierten gehören Jan Philipp Reemtsma mit seiner Biografie über Christoph Martin Wieland und Carolin Amlingers und Oliver Nachtweys Studie "Gekränkte Freiheit". Die ganze Liste hier und hier. "Der Preis der Leipziger Buchmesse wird am 27. April verliehen. Nachdem die Messe drei Jahre in Folge pandemiebedingt ausfallen musste, soll sie in diesem Jahr unbedingt stattfinden."

Au0erdem: Die SZ bespricht neue Kinderbücher. Besprochen wird im Tagesspiegel die Wieland-Biografie von  Jan Philipp Reemtsma.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.03.2023 - Literatur

Jan Philipp Reemtsma hat eine 700-seitige Biografie über Christoph Martin Wieland geschrieben, der neben Arno Schmidt und der Sozialforschung zu den Steckenpferden des Mäzens gehört. Auch im Interview mit Alexander Cammann von der Zeit gerät er ins Schwärmen. "Ja, diese ewige Frage an Wieland: Was bist du wirklich? Was ist denn nun dein Werk? - die lässt sich nicht einfach beantworten, aus guten Gründen nicht. Als Künstler gehört er zu den Experimentatoren, ähnlich wie vielleicht in der Musik Igor Strawinsky, der immer neue Bereiche erschließt - und danach wiederholt er sich nicht. Wielands Romane sind eine Reihe von Formexperimenten. Seine Versdichtungen stets formal neuartig. Irgendwann aber hört er auf, Verse zu dichten - weil er für sich das Optimum in dieser Kunst erreicht hatte."

Gerade sollte Wolfgang Koeppens Roman "Tauben im Gras" zur Abilektüre geadelt werden, da entbrennt um ihn eine Debatte. Sehr häufig fällt darin das damals noch übliche Wort "Neger", auch Wörter wie "Niggermusik" kommen vor. Der Roman ist ein Werk der Fünfziger. Die Lehrerin Jasmin Blunt  hat dagegen protestiert und es damit in die "Tagesthemen" gebracht, erzählt Caroline Fletscher im Tagesspiegel. Dabei ist es ein antirassistischer Roman, in ihm "sehen sich schwarze US-Soldaten dem Rassismus der Deutschen aller Milieus ausgesetzt. Anders als die Mehrzahl der deutschen Figuren werden der Idealist Washington Price, der mit seiner deutschen Geliebten ein uneheliches Kind gezeugt hat, und der beherzte Pragmatiker Odysseus Cotton sympathisch dargestellt. Im damaligen Sprachgebrauch wurden Schwarze mit dem 'N-Wort' bezeichnet, was Koeppen so wiedergibt. Soll das nicht mehr gelesen werden?"

"Und wie ist es bei Böll oder Bachmann, bei unbekannteren Autoren wie Dieter Forte oder Hans Erich Nossack, in Übersetzungen wie der von Prousts 'Recherche', in der auch das 'N-Wort' vorkommt. Wer sucht, wird finden - und sich womöglich verletzt fühlen. ", kommentiert Gerrit Bartels im Tagesspiegel.

Außerdem: Ralf Leonhard spricht in der taz mit Franzobel über Einsteins Hirn und seinen neuen Roman "Einsteins Hirn". Besprochen wird unter anderem Mariette Navarros Roman "Über die See" (Tagesspiegel), Şeyda Kurts Essay "Hass - Von der Macht eines widerständigen Gefühls" (Berliner Zeitung).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.03.2023 - Literatur

Ulrich Schreiber tritt bekanntlich (unser Resümee) von der Leitung des Internationalen Literaturfestivals Berlin zurück, das er vor mehr als zwanzig Jahren erfand. Das Bedauern von SZ-Redakteurin Sonja Zekri hält sich in Grenzen. Sie wirft Schreiber Gigantomanie vor: "Im vergangenen Jahr gab es neben Lesungen auch Filmvorführungen, Ausstellungen, Konzerte, einen Graphic Novel Day und eine weltweite Lesung ukrainischer Literatur. Schreiber macht aus seinen grandiosen Ansprüchen auch keinen Hehl. Es sei immer seine Position gewesen, dass 'nicht nur Qualität, sondern auch Quantität' für das Gelingen wichtig sei, sagt er: 'Hätte ich vor 22 Jahren nur mit zwölf Autoren angefangen, wäre das nichts geworden.'"

Besprochen werden unter anderem die Neuausgabe von Brigitte Reimanns Roman "Die Geschwister" (taz), Jörg Bongs "Die Flamme der Freiheit - Die deutsche Revolution 1848/1849" (NZZ), Dževad Karahasans Sarajewo-Roman "Einübung ins Schweben" (FR) und Marlen Hobracks Roman "Schrödingers Grrrl" (Tagesspiegel).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.03.2023 - Literatur

Heute ist Frühlingsanfang und gleichzeitig der einst von der Unesco ausgerufene Welttag des Gedichts. Dieter Lamping erinnert in literaturkritik.de an ein Gedicht Bertolt Brechts, das er 1938 im dänischen Exil schrieb und einem frierenden Bäumchen an einem verschneiten Ostersonntag widmete. Es klingt auch jetzt recht aktuell. Darin heißt es:

"Mein junger Sohn
Holte mich zu einem Aprikosenbäumchen an der Hausmauer
Von einem Werk weg, in dem ich auf diejenigen mit dem Finger deutete
Die einen Krieg vorbereiteten, der
Den Kontinent, diese Insel, mein Volk, meine Familie und mich
Vertilgen muß. Schweigend
Legten wir einen Sack
Über den frierenden Baum."

Lamping schreibt zu dem Gedicht: "Sicher ist: Die Kälte wird vorübergehen, der Frühling wird kommen, wie jedes Jahr, wenngleich später. Sicher ist aber auch: Das gute, leichte Leben, Leben überhaupt wird dem Krieg zum Opfer fallen."

Wir haben alle ein Bedürfnis nach Gedichten, schreibt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel, es kommt nur auf die Umstände an: "Ein Beispiel sind die bei Matthes & Seitz erschienenen 'Gedichte aus Guantánamo'. Gefangene, die noch nie zuvor einen Vers geschrieben hatten, suchten in der Poesie Zuflucht - ob sie diese auswendig lernten oder mit Apfelstielen auf Styroporbecher kritzelten." Dotzauer verweist auf die "Lyrik-Empfehlungen 2023", die die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zum heutigen Welttag herausgegeben hat.

Die Autorin Berit Glanz spricht mit Titus Blome von der SZ über neue Tiktok-Filter und wie wir damit umgehen sollten: "Bald können wir uns in Echtzeit als historische Figuren präsentieren, als andere Geschlechter oder als Fabelwesen. Die Frage wird ständig sein: Ist unser Gegenüber wirklich die Person, die wir sehen? Und alles entwickelt sich wahnsinnig schnell. Dieser Entwicklung müssen wir uns stellen. Das geht nur, indem wir die Filter nutzen, mit ihnen spielen und ein Gefühl für sie entwickeln."

Ulrich Schreiber, 71, tritt als Chef des des Berliner Literaturfestivals zurück, meldet unter anderem die Frankfurter Rundschau mit dpa: "Im vergangenen Jahr hatte es Diskussionen über Arbeitsklima und Führungsstil gegeben, darüber hatte die taz berichtet. Schreiber wies damals etwa in der Berliner Zeitung Vorwürfe zurück und räumte auch Fehler ein." Schreiber wolle dem Festival verbunden heißt es in einer Erklärung, die er veröffentlicht hat. Unsere Resümees zu den Vorwürfen gegen Schreiber hier und hier.

Besprochen werden die Lütticher Ausstellung mit Fotos Georges Simenons (unser Resümee und Links), Arno Franks neuer Roman "Seemann vom Siebener" (taz), "Jims Roman" von Pierric Bailly ("ein wunderlicher und schöner Roman über Vaterschaft in kippelig gewordenen Verhältnissen", schreibt FAZ-Kritiker Niklas Bender), Anita Brookners Roman "Seht mich an" (FAZ), Jakob Guanzons Roman "Überfluss" (FAZ), Martin Suters Roman "Melody" (NZZ), Milena Michiko Flašars Roman "Oben Erde, unten Himmel" (NZZ)

Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.03.2023 - Literatur

Angela Schader hat für ihre "Vorworte"-Reihe im Perlentaucher den neuen Roman des britischen Autors Tom McCarthy gelesen, "Der Dreh von Inkarnation". Es geht tatsächlich um einen Science-Fiction-Film, "Inkarnation", eine Tristan-und-Isolde-Liebesgeschichte auf einem Raumschiff, das für den Film mit allen technischen Raffinessen nachgebaut wird, erzählt sie: "Wie der eingangs erwähnte Windkanal gehört das Seegangsbecken zu den Versuchsanlagen, die Inputs für die sachgerechte Gestaltung des großen Raumschiff-Fracas am Ende von 'Inkarnation' liefern sollen, denn der technische Berater des Filmteams verteidigt mit Biss und Witz den Primat der wissenschaftlichen Korrektheit gegen die Extravaganzen des Drehbuchs. Für die schwerelose Sex-Szene wiederum wird das Unternehmen Pantarey Motion Systems konsultiert, das auf Bewegungsstudien spezialisiert ist: Die Tätigkeit der Firma reicht von der medizinischen Forschung bis zum Sicherheitsbereich, vom Städtebau bis zur Rüstungsindustrie. Der erstgenannten Disziplin verdanken sich auch die im Motion-Capture-Verfahren hergestellten Aufnahmen eines kopulierenden Paars in allen möglichen und unmöglichen Positionen, aus denen dann die Filmszene konstruiert wird; entstanden sind sie ursprünglich im Blick auf die Entwicklung möglichst vielseitig belastbarer künstlicher Hüftgelenke."

Im Interview mit der FAS spricht die Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga über die Folgen des Urteils, das in ihrer simbabwischen Heimat über sie verhängt wurde, weil sie auf einer Demonstration das Schild "Für ein besseres Simbabwe" hochgehalten hat. Der (mit dem Zahlen einer moderaten Geldstrafe verbundene) Urteilsspruch war für sie zwar keine Überraschung, "aber ein Schock war es trotzdem. Es hat gedauert, ihn zu überwinden. Jetzt bin ich immer noch sauer, aber wieder die Alte und habe meine Energie zurück." Doch "falls ich ein ähnliches Vergehen in den nächsten fünf Jahren noch einmal begehe, komme ich automatisch ins Gefängnis. Aber die Frage ist: Was ist 'ähnlich'? Könnte mir ein Tweet so ausgelegt werden, dass ich die Menschen anstacheln wolle? Man weiß es nicht." Der Regierung geht es "immer auch darum, ein Signal an die Bevölkerung zu senden. Eine Festnahme ist das erste Signal, dass jemand schuldig sein muss. Und wenn du tatsächlich schuldig gesprochen wirst, denken die Menschen: Dann muss sie wirklich schuldig sein, sonst würde sie ja nicht verurteilt."

Weitere Artikel: Ilma Rakusa schreibt in der NZZ einen Nachruf auf die kroatische Schriftstellerin und mutige Kämpferin gegen nationalistische Verblendung Dubravka Ugrešić: Ihre Essays gehören zum Stärksten, was über das jugoslawische Kriegsdesaster und den nationalistischen Irrsinn geschrieben wurde." Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Für die NZZ spricht Nadine A. Brügger mit Megan Phelps-Roper, die sich aus der Hass-Kultur einer radikalen Christensekte emanzipiert hat und nun mit dem Podcast "The Witch Trial of J.K. Rowling" für Aufsehen sorgt (unser Resümee). Mit seiner "Bibliothek von Babel" hat Jorge Luis Borges K.I.-Apps wie ChatGPT im Grunde schon vorweggenommen, schreibt Jan Küveler in der Welt. In der "10 nach 8"-Reihe auf ZeitOnline erzählt die Schriftstellerin Antonia Baum von ihrer an eine Phobie grenzenden Angst, umgebracht zu werden. Der Standard spricht mit Bestseller-Autor Daniel Glattauer, der nach neun Jahren Pause mit "Die spürst du nicht" einen Roman veröffentlicht hat. Lothar Müller berichtet in der SZ von der Potsdamer Tagung der Karl-May-Stiftung zum Thema "Kulturelle Repräsentationen im Werk Karl Mays im Brennpunkt aktueller Diskurse" (hier die Abstracts als PDF). In der Welt erinnert Marko Martin an Ralph Giordano, der heute vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem Friedrich Christian Delius' Erinnerungsband "Darling, it's Dilius" (Standard), Michael Lentz' Gedichtband "Chora" (Standard), Liv Strömquists Comic "Astrologie" (Standard), Jeffrey Jerome Cohens Essay "'Stein'. Ökologie des Nichthumanen" (online nachgereicht von der FAZ), Percival Everetts Krimi "Die Bäume" (Freitag), Peter Stamms "In einer dunkelblauen Stunde" (Standard), Adam Silveras "More Happy Than Not" (online nachgereicht von der FAZ), und neue Hörbücher, darunter eine Lesung von J.R.R. Tolkiens "Der Untergang von Númenor und andere Geschichten aus dem Zweiten Zeitalter von Mittelerde" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans-Joachim Simm über Novalis' "Kenne dich selbst":

"Eins nur ist, was der Mensch zu allen Zeiten gesucht hat;
Überall, bald auf den Höhn, bald in dem Tiefsten der Welt -
Unter verschiedenen Namen ..."

Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.03.2023 - Literatur

Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch erzählt in der NZZ von seinen Erlebnissen an der Kriegsfront in der Ukraine. Zwar ist er an sich nur als Beobachter dort, doch immer wieder sucht er die Nähe zu den Soldaten, robbt durch den Schlamm oder hilft mit, wenn es darum geht, Granaten an Drohnen zu befestigen. Er erinnert sich daran, wie Russland in Polen stand, 1945, und denkt, "dass das, was sich in Preiswitz ereignet hatte, heute wieder geschieht, in Butscha, Irpin und überall dort, wo ein russischer Soldat seinen Fuß hinsetzt, heute nicht anders als vor achtzig Jahren. Ich habe deshalb von meiner Familie her Rechnungen mit diesem blutigen Imperium offen. Diese Rechnungen machen jetzt die Streitkräfte der Ukraine geltend, so empfinde ich das, indem sie um ihre Freiheit und ihr Leben und das Recht kämpfen, nicht in einem Massengrab zu enden, nicht - ob als Mann oder Frau - vergewaltigt zu werden, aber sie kämpfen bei dieser Gelegenheit auch darum, dass meine Söhne nicht werden kämpfen müssen. Meine Familienerinnerung ist geprägt von Wehrlosigkeit gegenüber russischer Grausamkeit. Beeinträchtigt das meine Glaubwürdigkeit?"

In der FAS kommt die Schriftstellerin Ronya Othmann nochmal aufs African Book Festival Berlin zu sprechen, das den früheren Dschihadisten und Al-Qaida-Kämpfer Mohamedou Ould Slahi nun doch nicht zum Kurator berufen wird (unser Resümee). Für eine frühere Intervention (unser Resümee) ist Othmann auch seitens des Festivals mitunter übel mit den einschlägigen Begriffen belegt worden. Lachhaft findet sie es, dass immer wieder von "unbelegten Vorwürfen" die Rede sei - und auch Slahis Ausstieg aus dem Dschihadismus werde von vielen zu voreilig geglaubt. "Wie denn seine ideologische Distanzierung vonstattenging, möchte man Slahi gern fragen, ihn, der schon in Mauretanien begeistert Abdullah Azzams Dschihadismus-Kassetten hörte. (Den Antisemitismus, den hat er noch nicht abgelegt, wie seiner Twitterei zu entnehmen ist.) Und wären einem Aussteiger nicht die Opfer des Islamismus eine Erwähnung wert? Slahi jedenfalls nicht, wenn man seine Interviews liest oder seine Social-Media-Kanäle durchforstet. ... Die Festivalleitung schien das alles nicht zu interessieren. Hauptsache, er hat ein paar Preise gewonnen. Zu schön ist die Story und, wenn wir ehrlich sind, auch ein bisschen deutsch: Houbeini der Geläuterte, der seinen Peinigern vergibt. Großes Versöhnungskino. Und was den Dschihadismus betrifft: Waren wir nicht alle mal jung und dumm?"

Die SZ fragt im Zuge der Dahl- und Bond-Debatte Künstlerinnen und Künstler aller ästhetischen Gewerke, ob sie an ihren Arbeiten nachträglich etwas ändern würden. Mitunter hat das Sibylle Berg schon getan, erzählt die Schriftstellerin - aber nicht aus Prinzipiengründen. Denn "Kunst muss alles dürfen. Wehtun, aufregen, verunsichern, Hass erzeugen. Wenn wir beginnen, Kunst zu zensieren, limitieren wir damit die Erweiterung unserer Gedanken. Wir schneiden uns von einer philosophischen Weiterentwicklung ab. Ich finde Hinweise und Einordnungen zu Werken verstorbener AutorInnen gut. Wer sich von Kunst verärgert und provoziert fühlt, kann dem Ausdruck verleihen." Aber "Triggerwarnungen und Begradigungen, wie sie viele Verlage heute verlangen, oder die Absage von Aufführungen sind eine Bevormundung des Publikums. Kunst, die bewusst rassistische, sexistische Stereotype benutzt, ist peinlich aus der Zeit gefallen - unmodern. Aber wir sollten uns alle klar darüber sein, dass Kunst nicht systemrelevant ist."

Weitere Artikel: Mia Eidlhuber vom Standard spricht mit Judith Hermann über deren Blick aufs eigene Schreiben, über das sie in ihrer eben erschienenen Poetikvorlesung nachgedacht hat. Auch die WamS hat mit Hermann gesprochen. Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Michael Wurmitzer erzählt im Standard von seiner Begegnung mit der Schriftstellerin Bernardine Evaristo. Timur Vermes staunt in der WamS über die Sammlung des Comichistorikers Alexander Braun, der daraus Sammlungen und Kataloge kuratiert.

Besprochen werden unter anderem Blake Baileys in den USA zurückgezogene, auf Deutsch nun aber erscheinende Biografie über Philip Roth (NZZ, dazu passend hat Dlf Kultur das Roth-Feature des Rezensenten wieder online gestellt), Marlen Hobracks "Schrödingers Grrrl" (BLZ), Helga Schuberts Erzählung "Der heutige Tag" (SZ), die Zürcher Ausstellung "Satanische Verse & verbotene Bücher" im Zürcher Literaturmuseum Strauhof (NZZ), die Ausstellung "Thomas Mann. Achtung Europa!" im Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich (NZZ), Étienne Davodeaus Comic "Das Recht der Erde" (taz), Birgit Birnbachers "Wovon wir leben" (taz) und Randall Kenans "Der Einfall der Geister" (FAZ).