Magazinrundschau - Archiv

Elet es Irodalom

544 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 55

Magazinrundschau vom 28.03.2023 - Elet es Irodalom

Der Historiker, Schriftsteller und Kritiker János Kenedi war seit 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter des 2019 geschlossenen 1956er Instituts und bis zu seiner Auflösung im Jahre 2010 war er Vorsitzender der Kommission zur Vorbereitung und Kontrolle eines Gesetzes zur Aufarbeitung der Unterlagen der ungarischen Staatssicherheitsapparate vor 1989 (welches nach dem Regierungswechsel 2010 nicht verabschiedet wurde). Kenedi spricht mit Paula Marsó u.a. über die verpasste Chance nach der Wende, eine Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen nach dem Vorbild der Gauck-Behörde in Deutschland anzustoßen, aber auch über Versäumnisse der die öffentliche Meinung formenden Akteure: "Es wurden freilich schlechte Gesetze verabschiedet, aber die Journalisten haben es versäumt, das System der politischen Polizeiapparate zu analysieren. Es wurden lieber Einzelfälle skandalisiert, obwohl es auch die Möglichkeit gegeben hätte, die gesellschaftliche Selbstkenntnis zu erweitern. (…) Gauck selbst war nicht nur Initiator der Aufdeckung der Vergangenheit. Er passte in eine institutionelle Tradition. In die Tradition der Gruppe 47. Diese literarische Gesellschaft machte es sich nach dem Fall des Nazi-Reichs zur Aufgabe, die Bevölkerung demokratisch zu erziehen. Sie fungierte zwischen 1947 und 1967 und setzte ebenfalls eine Tradition fort, nämlich die der 1898 gegründeten spanischen Generación del 98, die gegen die Geschichtsfälschung mobilisierte. Obwohl die Schriftsteller der Gruppe 47, Heinrich Böll, Günter Grass, Paul Celan, Walter Jens und andere in Ungarn bekannt waren, gab es unter den Meinungsmachern niemanden, der die Umbettung dieser Tradition in Ungarn nach der Wende in Angriff genommen hätte. Das ist ein größeres Versäumnis als das Fehlverhalten der Gesetzgebung."

Magazinrundschau vom 21.03.2023 - Elet es Irodalom

Mitte Januar ist der Philosoph Gáspár Miklós Tamás gestorben. Seine letzte umfangreiche Schrift mit dem Titel "Fünf Ratschläge für die Heimat" erschien kurz vor seinem Tod. Der Philosoph Simon Isztray rekapituliert Teile des Aufsatzes in der Wochenzeitschrift Élet és Irodalom: "Tamàs interpretiert den politischen Raum um. Politisches Ringen beschreibt seiner Ansicht nach heute in Ungarn nicht mehr in erster Linie Wahlkampf, sondern den Widerstand der Staatsbürger gegen den 'Zustand' in vielen kleinen Bereichen. Aus diesen Kämpfen können in einer Ausnahmesituation bedeutende Ereignisse entstehen. Aber die 'Fünf Ratschläge' sind realistisch dahingehend, dass es bei diesen Kämpfen nicht um Siege und nicht mal um Erfolge gehen kann: "Der einzig vorstellbare Ausgang ist die machtlose intellektuelle Suche nach Wahrheit, die von der dauerhaften Konfliktfähigkeit der Zivilgesellschaft abhängt… was eine übermenschliche Aufgabe ist."

Magazinrundschau vom 07.03.2023 - Elet es Irodalom

Mit dem Vertrag von Trianon lassen sich in Ungarn noch immer sämtliche politischen und historischen Affekte triggern. Mit dem Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg musste Ungarn Zweidrittel seines Gebiets sowie einen großen Teil seiner Bevölkerung abtreten. Ungarns früherer Außenminister Péter Balázs glaubt nicht, dass sich das Trauma auswächst: "Trianon ist der Fokuspunkt einer Verantwortung ablehnenden ungarischen Tradition: Unsere Geschichte wurde vom Unglück gelenkt, die Lösungen erwarten wir von außen, obwohl es unsere Aufgabe wäre, die Fehler und Irrungen unserer Vorfahren aufzuzeigen, so wie es beispielsweise die Deutschen konsequent taten - mit einem wesentlich schwereren Erbe. Es ist wichtig, dass die aufwachsende neue Generation statt Legenden die heutige Wirklichkeit der Nachbarstaaten kennt ... Wir dürfen im Wiederholen von hundertjährigen Verletzungen, sowie im ewigen Anklagen von anderen nicht steckenbleiben, vor allem nicht so, wie es die Tagespolitik tut, weil ihr das Aufreißen der Wunden Erfolge verschafft. Wir haben mit jedem unserer Nachbarn etwas aufzuarbeiten und zu besprechen, damit wir uns endlich zusammen Richtung einer gemeinsamen Zukunft wenden können."
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Stichwörter: Trianon-Vertrag

Magazinrundschau vom 28.02.2023 - Elet es Irodalom

Der Sozial- und Kunstpsychologe László Halász reflektiert auf (messbare) Reaktionen der ungarischen Gesellschaft auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. "Die 'östliche' Einstellung kennzeichnet sogar jene mit Universitätsabschluss. Ungarn heute ist selbst am eigenen BIP gemessen eine geschlossene, die Macht verehrende, intolerante, nach schneller Belohnung strebende und mit den Konsequenzen nicht rechnende Gesellschaft. (…) Aus welcher 'östlichen' Attitüde könnte man ableiten, dass meine Landsleute - und bei Weitem nicht nur Orbán-Fanatiker - die russischen Gräueltaten nicht nachempfinden können? Die Empathie für die keineswegs engelhaften, jedoch höllisch leidenden Opfer kann höchstens als schwach bezeichnet werden. Die Unterstützung ist äußerst gering und wenn vorhanden, dann auch nur halbherzig. Kaltes Stirnrunzeln, dass unser Beispiel - siehe, wie verdorben die Welt ist - weit und breit keine Nachahmer findet. Obwohl es bereits Frieden geben könnte. Und keine Sanktionen. Und keine Inflation. Ach, und die Ukraine auch nicht mehr. Ich schäme mich."

Magazinrundschau vom 21.02.2023 - Elet es Irodalom

Der Mathematiker, Verleger und Restaurantbesitzer Miklós Sulyok war eine prägende Figur der liberalen Wendebewegung vor und nach 1989. Nun spricht er im Interview mit Júlia Cserba über langfristige Auswirkungen von autoritären Strukturen auf Teile der Gesellschaft: "Es geht um die Eigenheit von Diktaturen. Im Sozialismus konnte die Gastronomie ihre Zutaten kaum frei einkaufen, und die Speisenfolgen waren streng reglementiert. Dies war eine stark vereinfachte, als ungarisch gedachte, aber überhaupt nicht ungarische Küche. Mittelmäßigkeit ist ein Kennzeichen von Diktaturen. Auf manchen Gebieten blieb dennoch etwas Gutes, so gab es zum Beispiel hervorragende Dichter, Schriftsteller und Schauspieler während des Sozialismus. Das setzt sich jetzt wieder fort, mit dem wesentlichen Unterschied, dass wir damals eingesperrt waren und man nicht in den Westen reisen konnte. Zwar können wir uns heute darüber freuen, doch für das Land selbst ist weniger erfreulich, dass die Grenzen offen sind. Man darf gehen und sehr viele verlassen auch das Land. So ist es aus der Sicht der so oft beschworenen Nation wesentlich schlechter, denn Talente, junge Leute verschwinden von hier."

Magazinrundschau vom 07.02.2023 - Elet es Irodalom

Seit Wochen ist in Ungarn eine Diskussion im Gange, in der es um die Ansiedlung von chinesischen Lithium-Batteriefabriken als Zulieferer der E-Auto-Herstellung geht. Sowohl für die Regierung als auch für die Opposition ist unerwartet eine ernstzunehmende Protestwelle entstanden, in deren Mittelpunkt neben Existenzängsten auch der Umweltschutz steht. Ungarn soll nach Vorstellung der Regierung eine Hochburg der Herstellung von Batterien werden, was in der Manier der letzten zwölf Jahre mittels Verordnungen durchgesetzt werden soll. In den betroffenen Regionen sinken die Grundstückpreise, Anwohner fürchten um ihre Gesundheit und immer wieder ist zu hören, dass die Einnahmen privatisiert und die Kosten aber vergemeinschaftet würden. Der Publizist János Széky sieht in der geplanten Ansiedlung eine weitere Tendenz zur zunehmenden Unterdrückung der Mittelschicht: "Die zwanghafte Erhöhung des Gewichts der Industrie, gegen alle heutigen Tendenzen, das Austrocknen der hiesigen technischen Entwicklungen und Innovationen, um diese entbehrlich zu machen, das systematische Schrumpfen des Anteils der Wirtschaft, der nicht durch den Staat kontrolliert wird, hat eine fatale Folge: die autonome Mittelschicht, mit einem schönen alten Wort: die Bürgerschaft wird noch schwächer als das bis jetzt ohnehin schon der Fall war. Eine der Konsequenzen der Operation ist, dass der Preis der Autonomie erhöht wird. Es kostet nicht wenig Geld und Hinwendung, wenn man anstatt der kostenlosen und fertig repräsentierten Regierungspropaganda, wahre Informationen über das Land und die Welt erhalten möchte. Es wird schwieriger und kostspieliger, die Kinder entsprechend zu unterrichten, damit diese durch eine wettbewerbsfähige Bildung weiterhin zur Mittelschicht gehören können, denn die Regierung verschlechtert systematisch die Lage der Universitäten und greift nun auch die säkularen Gymnasien an. Andererseits gibt die Macht mit dem Schrumpfen der freien Wirtschaft zu verstehen: Wenn du deinen immer kostspieligeren Status in der Mittelschicht halten möchtest, wäre es empfehlenswert, uns zu dienen, und wenn du nicht meckerst, sorgen wir für dich, sogar mit einem Elektroauto, so dass die Umwelt geschützt wird. Das Ziel ist es, eine auf Dummheit, Gemeinheit und auf Untertanengeist basierende Gesellschaft zu schaffen. Und wenn in Ungarn keine Bürger mehr bleiben, dann wird dies auch gelingen."
Stichwörter: Ungarn

Magazinrundschau vom 31.01.2023 - Elet es Irodalom

Im Interview mit Claudia Hegedűs erklärt die Dichterin und Schriftstellerin Krisztina Tóth, worauf des ihr beim Schreiben ankommt:"Alle Romanfiguren haben sensible Punkte. Es ist aber eine vollkommen andere Frage, ob es für die Schriftstellerin etwas gibt, was für sie ungreifbar ist. Ich würde sagen, dass ich stets versuchen muss jenes Buch zu schreiben, welches ich nicht kann. Ich muss stets in jene dunkelste Tiefe greifen, die ich nicht erreiche, wo es keine Luft mehr gibt. Das Gedicht ist anders, dort kann der Atem eingeteilt werden, du siehst die Entfernung. Es ist jedoch interessant, dass mit den zunehmenden Jahren weniger Gedichte entstehen. Ich habe mich mal mit der Dichterin und Schriftstellerin Ágnes Gergely darüber unterhalten, die dies ebenfalls beobachtete. Sie meinte, dass das Gedichteschreiben tief mit unserer hormonellen Funktion zusammenhängt. Das Gedicht ist explizit und heftig, wie die Jugend. Epik ist langsamer. Dort muss mit dem gearbeitet werden, was am wenigsten, am schwierigsten erreichbar und am unberuhigendsten ist. Als Schriftstellerin will ich meinen eigenen Avatar an die dunkelsten Orte begleiten."

Magazinrundschau vom 24.01.2023 - Elet es Irodalom

Der Tod des Philosophen Gáspár Miklós Tamás ist nach den ersten Reaktionen auf Online-Plattformen vergangener Woche das dominante Thema in allen Zeitschriften von Élet és Irodalom über Magyar Narancs und HVG bis hin zu den regierungsnahen Erzeugnissen. In Élet és Irodalom verabschiedet sich der Kunsthistoriker, Ästhet und Medienwissenschaftler Péter György von TGM: "TGM war kein simpler Kritiker des Privateigentums, sondern kritisierte jene politische Praxis, die im permanenten Versuch, die menschliche Essenz der Armen zu vernichten, bestand und bis zum heutigen Tage besteht. In der heutigen ungarischen Gesellschaft gibt es für die Armen kein Tor, durch das sie in Gegenden gelangen könnten, wo die Situation besser ist. Es gibt Regionen im Land, in denen die Armen ohne moderne Schulen, Krankenhäuser, Theater und Museen leben müssen. (...) Er dachte nie lediglich an materiellen Güter, sondern an das Recht auf Zugang zur Kultur, an die Demokratisierung des Verstehens von kulturellen Gütern. Vor einigen Monaten formulierte er bei einem Gespräch am Vormittag haarscharf: Kultur ist die demokratische Subsumierung von Wissen, Erfahrungen gegen die Unterdrückung, was das Zurückweisen der Verachtung ermöglicht und diese letztendlich unmöglich macht. Es zählt, was aus der Gemeinschaft bleiben kann. TGM ist nicht mehr, doch solange wir sind, wird er immer mit uns sein."
Stichwörter: Tamas, Gaspar Miklos, Ungarn

Magazinrundschau vom 17.01.2023 - Elet es Irodalom

Am 4. Januar starb im Alter von siebzig Jahren der ehemalige Verleger, Übersetzer und Dramaturg Géza Morcsányi. Morcsányi spielte u.a. im Film "On Body and Soul" von Ildikó Enyedi mit, der 2007 bei der 67. Berlinale mit dem Golden Bären ausgezeichnet worden war. Der Schriftsteller László Darvasi erinnert sich an den legendären Verleger von Magvető, der es schaffte, die bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller im Haus zu halten. "Die Schriftsteller, also wir, denken an ihn als Individuum, als Persönlichkeit - als Vater, als Bruder, als guten Freund, als netten Bekannten -, die Abwesenheit seiner Person zeigt sich als Leere in unserem Gesicht. Er hingegen dachte offensichtlich im Team. Das haben seine Autoren, die auf ihn als persönliches Geschenk zählten, nicht wirklich so gesehen - abgesehen von einigen gewieften Ausnahmen wie Esterházy. Seine Absicht, 'den besten Zoo' zusammenzustellen, kann auf seine Theatererfahrungen zurückgeführt werden. Die Verlagsarbeit betrachtete er stets als imponierende und permanente Regieführung, das Leben eines Verlags, die Anerkennung seiner gehegten Pflanzen auf dem Markt war eigentlich eine nie endende Inszenierung. Für die Aufrechterhaltung der Qualität bedarf es unzählige Faktoren. Manchmal kann ein Elefant über die Bühne donnern, und wir merken es nicht einmal. Ein anderes Mal fällt das ganze Gebäude vom Quieken einer Maus zusammen. Wer für die Familie verantwortlich ist: der verdeckt stehende Gott. Vielleicht ist es eine Übertreibung, doch wenn es nicht so wäre, wäre die gesamte ungarische Kultur, der er auch als Übersetzer angehörte, von seinem frühen Todes nicht derart erschüttert."

Magazinrundschau vom 10.01.2023 - Elet es Irodalom

Die Philosophen György Gábor und András Kardos schreiben anlässlich der Fertigstellung des ersten "Wolkenkratzers" in Ungarn, den nach dem ungarischen Ölkonzern benannten "MOL-Turm", über die ästhetischen und kulturellen Erscheinungsformen der Orbán-Regierung. "Die machttreuen ideologischen Kulturkämpfer des Fidesz-Regimes rufen seit geraumer Zeit dazu auf, die Orbán-Ära als 'Epoche' zu erschaffen. (…) In den Träumen dieser willigen Vollstrecker erscheint - nicht zufällig - etwas Mächtiges, Gigantisches, vor Kraft Strotzendes, der unaufhaltsame Schwung, der unbändige Trieb, die triumphierende Kraft, also der 'Triumph des Willens'. (…) Der MOL-Turm verkörpert das von jedem Punkt der Stadt aus sichtbare Ausrufezeichen der Hybris, der Vernetzung der feudalen Vetternwirtschaft und der nun offiziell gewordenen Korruption, des provinziellen Ehrgeizes, der in ihrem Kern anachronistischen Glas-Beton-Masse."
Stichwörter: Kulturkampf