Magazinrundschau - Archiv

En attendant Nadeau

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Magazinrundschau vom 06.08.2019 - En attendant Nadeau

Der Koran beansprucht, buchstäblich das Wort Gottes zu sein. Darum stellte sich ziemlich bald nach dem Tod Mohammeds das Problem einer ein für alle mal feststehenden schriftlichen Version, die vom Kalifen Uthman etwa zwanzig Jahre nach dem Tod des Propheten in Auftrag gegeben wurde. Diese Version wird seitdem kaum angetastet, und bis vor kurzem glaubte man, es sei überhaupt keine Abschrift vor dem 9. Jahrhundert überliefert. Aber das ist falsch. In Paris etwa finden sich Abschriften aus dem 7. Jahrhundert, die übrigens ziemlich nah mit dem uthmanischen Kodex übereinstimmen und dennoch ein paar interessante Varianten bieten. François Déroche, Islamwissenschaftler am Collège de France, hat diese Varianten für sein neues Buch "Le Coran, une histoire plurielle" erforscht, und Philippe Cardinal berichtet in En attendant Nadeau ausführlich über seine Ergebnisse: "Die Entscheidung, der Gemeinde eine einheitliche schriftliche Version vorzusetzen, ist dabei durchaus auf Widerstände gestoßen, und 'mindestens bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts tauchten immer wieder Fragen zur Echtheit der uthmanischen Version auf', merkt Deroche an. Trotzdem galt der uthmanische Text, 'sorgsam eingefasst von koranischer Gelehrsamkeit, der alle seine Aspekte minuziös in Register fasste' bald als absolut authentisch. So wurde 'der vielfältige Koran der Anfänge' auf eine einzige Version reduziert."

Magazinrundschau vom 02.07.2019 - En attendant Nadeau

Es ist ein sperriger Text, den Catherine Coquio verfasst hat, so literarisch und ins Detail ihrer Lektüren vertieft, dass die Autorin vergisst, die Linien der Verantwortung französischer Akteure für den Genozid in Ruanda klar zu ziehen. Die Lektüre lohnt sich dennoch, besonders in jenen Passagen, in denen sie über das Buch "Rwanda Ils parlent - Témoignages pour l'histoire" von Laurent Larcher spricht. Auch Larcher quält sich bis ins Detail mit der Frage der französischen Verantwortung. Er hat mit vielen der damaligen Akteure gesprochen, und es ergibt sich für Coquio und den Leser das Bild einer Schuld aus Geschehenlassen und halber bis ganzer Unterstützung der Mörder bei gleichzeitigem Intervenieren für die Opfer: "Mitterrand, der große Abwesende des Buchs, schwebt über allem. Jeder Verweis auf die höhere Ebene bezeichnet ihn implizit oder explizit als den letztlich Verantwortlichen, den Entscheider. Aber jenseits des Skandals der politischen Entscheidung und der Identifikation der Hierarchien erlauben diese Gespräche auch einen Blick auf die gemeinsame Vorstellungswelt all jener selbst zu Entscheidungen befugten Akteure. Das ist, was Bernard Kouchner (damals 'Ärzte ohne Grenzen', d.Red.) in einem Moment luzider Genervtheit das 'gaullo-imperiale Denken' nennt, das im Außenministerium noch virulent sei und das aus einer Mischung aus 'unglaublichem Konformismus', aus Ignoranz und Arroganz und primitivem Antiamerikanismus bestehe - wozu sich bei Mitterrand 'eine Spur des Rechtsextremismus' aus der Vichy-Vergangenheit geselle."

Magazinrundschau vom 02.04.2019 - En attendant Nadeau

Paul Sérusier, Le Taölisman. Reprografie: Musée d'Orsay.


Es gibt doch immer noch Ikonen zu entdecken. Dies kleine Bild, 22 mal 27 Zentimeter, ist so eine. Dem Einfluss dieses Gemäldes von Paul Sérusier ist zur Zeit im Pariser Musée d'Orsay eine kleine Ausstellung gewidmet. Sie handelt von der Schule von Pont-Aven, die eine der Etappen auf dem Weg der Kunst zur Abstraktion bildete. Die Maler nannten sich die "Nabis", die "Propheten" und neigten zu Religiosität und Esoterik. Das Bild galt darin als "Talisman", weil es eine neue Malweise in Farbflächen auslöste. Gilbert Lascault führt in die Ausstellung ein. Träger des Bildes sei eine kleine Holzplatte: "Nach den Erkenntnissen der Kunstwissenschaft gibt es auf der Tafel weder eine Grundierungsschicht noch eine Skizze. Es handelt sich um eine Pochade, schnell und ohne vorherigen Plan hingeworfen, Resultat der direkten Wiedergabe einer 'Wahrnehmung', einer 'sensation reçue', um mit den Worten Maurice Denis' zu sprechen. Diese 'Landschaft des Bois d'Amour (Der Talisman)' wurde von Sérusier unter der Anleitung Gauguins gemalt, der ihm sagte: 'Wie sehen Sie diesen Baum: Ist er sehr grün? Nehmen Sie also Grün, das schönste Grün Ihrer Palette. Und dieser Schatten ist eher blau? Dann fürchten Sie sich nicht davor, ihn in Blau zu malen.' Es ist auch daran zu erinnern, dass die Nabis allesamt den Firnis ablehnten."

Magazinrundschau vom 29.01.2019 - En attendant Nadeau

Marcel Gauchet, sozusagen der Habermas Frankreichs, Vordenker einer gemäßigten Linken, legt nicht von ungefähr ein Buch über Robespierre vor, in dem er wie vor ihm François Furet dem Adepten der Menschenrechte vorwirft, sie verraten zu haben, als er sie mit Terror verwirklichen wollte. Am Konflikt um Robespierre ließe sich die gesamte Geschichte der französischen Linken erzählen, und der Konflikt ist bis heute aktuell wie die Antwort Olivier Tonneaus, eines Verteidigers Robespierres, zeigt. Man muss differenzieren, sagt er: Anders als Gauchet findet er, dass der Terror nichts mit Robespierre zu tun gehabt habe: "Die Kämpfe zwischen den Parlamentariern, die Notwendigkeit , die Gewalt der Bevölkerung zu kanalisieren, Sanktionen zur Durchsetzung von Wirtschaftsregelungen und militärischen Anstrengungen, die Konflikte in der Vendée und im Süden, deren Ausgang über den Ausgang des internationalen Krieges entschieden, lokale Konflikte, Gewalt von Staatsbediensteten und an ihnen waren Faktoren, die sich überlagerten und die kaum in Bezug zur Ideologie der Regierung standen." So kann man Terror auch wegdifferenzieren!

Magazinrundschau vom 11.12.2018 - En attendant Nadeau

Als Dokument der Treue, zu seinen Werten und seinen Freunden, liest Jean-Yves Potel die Memoiren des polnischen Historikers Karol Modzelewski "Nous avons fait galoper l'histoire". 1937 als Sohn kommunistischer Kader in Moskau geboren, gehörte Modzelewski mit Jacek Kuroń zusammen zu Polens führenden Oppositionellen. Sie verfassten den legendären "Offenen Brief an die Partei" (1965), beteiligten sich an den Protesten von 1968, gründeten das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) und die Solidarnosc und wurden dafür immer wieder ins Gefängnis geworfen, insgesamt achteinhalb Jahre: "Karol Modzelewski blieb sein Leben lang ein Rebell, er wollte die Welt verändern, indem er das Wort und die Macht den Menschen des Volkes gab, den Bürgern. Im Angesicht der Diktatur suchte er nach gewaltlosen, demokratischen Wege. Er trug zur Befreiung seines Landes bei. Doch heute, sagt er uns, herrsche Freiheit ohne Brüderlichkeit, und er bedauert dies sehr. Seine Anlysen und seine Kritik an den Nationalkonservativen an der Regierung ist so lebhaft wie klar. Man kann darin die Gewohnheit eines Reiters sehen, der gern der Geschichte die Sporen gibt. Aber mehr noch fasst es seine Überlegung vom Ende dieses großen Buches: 'Im Lichte meiner Erfahrung ist die Revolution entweder unmöglich oder zu kostspielig, auf keinen Fall endet sie so, wie wir es wünschen. Ein Revolutionär darf das nicht wissen. Die Ignoranz verleiht Flügel und erlaubt ihm, das Unmögliche  zu erreichen und die Welt zu verändern. Er wird später enttäuscht sein oder zumindest unbefriedigt über den Wandel, zu dem er beigetragen hat. Aber das ist eine andere Sache."

Magazinrundschau vom 30.10.2018 - En attendant Nadeau

In Frankreich erscheint in der renommierten Klassikerbibliothek "La Pléiade" endlich eine neue maßgebliche Kafka-Übersetzung, nachdem die erste Übersetzung durch den Autor Alexandre Vialatte über allzuviele Jahre auch aus urheberrechtlichen Gründen unangetastet blieb. Die neue Übersetzung folgt der aktuellen Gesamtausgabe bei Fischer und wurde besorgt von dem Herausgeber Jean-Pierre Lefebvre und einigen KollegInnen. In En attendant Nadeau spricht Tiphaine Samoyault mit Lefebvre und Georges-Arthur Goldschmidt über das Übersetzen von Kafka. Goldschmidt, der an der Ausgabe nicht mitwirkte, aber den "Prozess" ebenfalls übersetzt hat, überlässt dem Herausgeber über lange Strecken das Gespräch. Aber interessant liest sich, was er über seine erste Begegnung mit Kafka sagt: "Ich habe Kafka im Jahr 1950 in Norddeutschland entdeckt. Mein Gefühl der Deplatziertheit (ich bin ein überlebender aus Versehen) hat mich gleich denken lassen: 'Kafka, das bin ich.' Das hat mir einen Schlag versetzt, wie ich ihn niemals wieder verspürt habe. Diese Urschuld, in der ich mein Leben verbrachte, habe ich bei Kafka wiedererkannt, so wie die Erfahrung der Razzia, der willkürlichen Festnahme, die er in drei knappen Zeilen festzuhalten versteht. Die Übersetzung ist für mich wie eine Rückgabe von etwas, das ich erhalten hatte. Während der ganzen Zeit der Übersetzung war ich von ihm durchdrungen, von dieser Kraft des Mangels und der Hoffnungslosigkeit die seinem Schreiben und seiner Sprache Leben geben. Erst die Hoffnungslosigkeit erzeugt diese Energie."

Goldschmidt bespricht in der aktuellen Nummer von En attendant Nadeau außerdem einen Essay Nicolas Weills über die "Schwarzen Hefte" Martin Heideggers. Über Heidegger schreibt er: "Das Ressentiment, das im Werk des Denkers von Messkirch allgegenwärtig ist, verhindert von vornherein eine wirkliche Entfaltung seines Denkens. Der versperrte Zugang zum 'Sein', seine eigene Unfähigkeit, ist der Kern seines Denkens, das er immer nur wie von außen betrachtet. Dieses ursprüngliche und nicht eingestandene Versagen wird als Ressentiment auf das jüdisch-metaphysisch 'Seiende' ausgegossen."

Magazinrundschau vom 08.05.2018 - En attendant Nadeau

Mit seinem Erstlingsroman "Le fer et le feu", in dem er seine Kriegserfahrungen als Panzergrenadier im Irak verarbeitet (unter dem Titel "Beute" bei Rowohlt erschienen), reiht sich der junge amerikanische Autor Brian van Veet ein in die Generation junger amerikanischer Literatur, die während des Irak-Kriegs entstanden ist. Er schreibt darin, Krieg sei etwas für junge Menschen. In einem Gespräch mit Steven Samspson erläutert er das so: "Eines der Paradoxe der menschlichen Natur besteht darin, dass Menschen, die eigentlich nicht mehr so viel zu verlieren haben, die größte Angst vorm Sterben haben. Als ich dreiundzwanzig war, rannte ich auf den Schusswechsel zu: Ich war wahnsinnig oder sauer. In diesem Alter will man seine Grenzen austesten, an den Abgrund herankommen, auch auf die Gefahr hin hineinzustürzen. Heranwachsende glauben von Natur aus an ihre Unsterblichkeit, sie haben nicht begriffen, dass das Leben anfällig, vergänglich ist. Heute habe ich größere Angst vor dem Sterben, vielleicht haben sich die Hormone umgestellt."

Magazinrundschau vom 06.03.2018 - En attendant Nadeau

Im Interview mit Natalie Levisalles spricht Arundhati Roy über ihr Selbstverständnis als Schriftstellerin und ihren jüngsten Roman "Das Ministerium des äußersten Glücks", ihr erstes wieder fiktionales Werk nach ihrem Erstlingserfolg "Der Gott der kleinen Dinge" vor 20 Jahren. "Für mich ist Nicht-Fiktion immer ein Einspruch, eine Argumentation. Fiktion dagegen ist die Konstruktion eines Universums. Sie ist ein Akt der Liebe, nicht des Kriegs … Ich wollte der Frage nachgehen: Was kann man heute mit einem Roman machen? Wie die Dinge betrachten, wie es nur ein Roman kann? … Dieses Mal wollte ich ein Buch über eine Stadt schreiben oder eher über eine Stadt, die ständig umgemodelt wird und die Fundamente der alten Stadt durcheinanderwirbelt für die Hauptstadt der neuen Supermacht, für ihre Bedeutung und Gewalttätigkeit - den gewaltsamen Versuch nämlich, eine sehr komplexe Gesellschaft in einen simplen kulturellen Nationalismus umzuwandeln. Die Gewalttätigkeit einer Kolonie, die von einem Tag auf den anderen zum Kolonisator geworden ist."
Stichwörter: Indien, Roy, Arundhati

Magazinrundschau vom 16.01.2018 - En attendant Nadeau

In Frankreich erscheint ein nachgelassener Band mit Essays und Interventionen von Abdelwahhab Meddeb. Marc Lebiez bewundert, wie differenziert sich bis heute Meddebs Ablehnung kulturalistischer Diskurse liest: "Im Grunde sagt er sinngemäß, dass die Islamisten vor allem unkultiviert sind. Sie ignorieren jegliche islamische Tradition, denn im ersten Jahrhundert der Hedschra beispielsweise sang und tanzte man in Medina: 'In mondänen, teils von Frauen betriebenen Salons, fanden Gesangs- und Tanzveranstaltungen statt, die Stimmen und Körper singender und tanzender Frauen verstießen vielleicht gegen die Regeln der 'awra, was jedoch bis zum Tod des Propheten toleriert wurde'. Sich auf Toleranz zu berufen ist daher keine Verwestlichung des Islam, sondern die Anknüpfung an einen Teil seiner Tradition, welche die Salafisten und Wahabisten ignorieren. Die zweite Form der Unkultiviertheit besteht darin …, diese noble Mystik vergessen zu machen, die sich nicht damit beschäftigt, anderen einen religiösen Zwang aufzuerlegen, sondern danach strebt, die Glaubensanhänger zu bereichern."

Magazinrundschau vom 14.11.2017 - En attendant Nadeau

Milenka Jaksic stellt ein Buch des Soziologen Yannick Barthe vor, in dem es um Mitarbeiter französischer Atomtests geht, die an Krebs erkrankt sind und den Staat verklagen. Das Buch „"Les retombées du passé - Le paradoxe de la victime" setzt sich darum zugleich auch näher mit dem Begriff des Opfers auseinander: Denn „Opfer zu werden“ habe nichts Selbstverständliches: Die Opfer "müssen zunächst beweisen, dass sie keinerlei Verantwortung an dem Unglück haben, das über sie gekommen ist: Ihr Krebs kommt aus einem Kontakt mit Radioaktivität bei einem Aufenthalt in der Sahara oder der Südsee. Diese Arbeit der 'Ent-Verantwortung' setzt zugleich die Benennung eines Schuldigen voraus. Diese Entkleidung von einer Eigenverantwortung ist insofern problematisch, als sie das Opfer in einer Passivität einschließt... Das Opfer muss zeigen, dass es für den Schaden nichts kann. Passivität aber ist zugleich stigmatisierend und herabsetzend."