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Suchwort: "Mich"
Rubrik: Tagtigall - 42 Artikel - Seite 1 von 4
Tagtigall 20.04.2024 […] "techno". Hier der Anfang:
darüber wie ich mich nicht wundere
dass ich nichts fühle. über einen selbstmord.
der den meinen verhindert. über dankbarkeit.
darüber wie mir das leben einen freund
nahm. und fast mich. über das eine kind
zwei. beide aus diesem bauch geboren
unter diesem blatt und diesem stift.
dass sie keine mutter brauchen. keine mutter mich
Mit dem ersten Wort ("darüber...) springt […] Und das Springen geht weiter. Alles Verstehen ist Fragment: Geht es um Selbstmord? Um einen Freund? Um ein Kind? Ums am Leben bleiben? "keine mutter mich". Egal, was es alles bedeutet, es geht einen an. Und weiter im Text:
was ist techno für dich. für mich ist techno die welt. herz.
urgrund .urgeschichte. als alles nur ein einziges
großes herzschlagen war. und wenn techno schlägt schlägt auch mein herz […] "Essay, on what I think about most" (Essay darüber, was mich am meisten umtreibt), heißt eines der Gedichte von Anne Carson. Und tatsächlich denkt die Kanadierin in diesem Essay-Gedicht über so einiges nach, vor allem darüber, dass das Leben aus Fehlern, Sprüngen und Irrtümern besteht, dass wir uns dafür meist schämen und womöglich Schuldgefühle haben, dass aber das Gedicht der Ort ist, an dem all […] Von
Marie Luise Knott
Tagtigall 03.12.2023 […] (Korrektur: Es handelt sich dabei nicht um den Befreiungskämpfer Lutpulla Mutellip. Mutellip scheint es als Vor- und als Nachnahme zu geben, was für weniger Eingeweihte leicht zu Verwechselungen führt, mich jedenfalls in die Irre leitete.) Lutpulla Mutellip war einer der berühmtesten Dichter UND Nationalheld des uigurischen Befreiungskampfes von Anfang der 1940er Jahre. Er wurde 1922 als uigurischer S […] silence,
brimming.
Es gibt Zeiten, in denen die Wirklichkeit so roh ist, dass einem die Worte, Lieder und Gespräche ausgehen. Das Schweigen "quillt über". Als ich das Gedicht "Sinking" las, fragte ich mich, was alles im Uigurischen in diesem Titel mitzuhören ist. Welche Bedeutungsschattierungen werden hier mittransportiert? Geht es ums körperliche Versinken, Ertrinken, oder geht es doch eher um ein m […] Von
Marie Luise Knott
Tagtigall 11.08.2023 […] Es war die Begegnung mit einem Gedicht, die mich auf Srečko Kosovel und die slowenische Lyrik aufmerksam machte. Der Titel "Geringer Mantel".
Geringer Mantel
Ich ginge gern
im geringen Mantel
der Worte.
Doch drunter berge sich
die warme, lichte Welt.
Was ist Reichtum?
Was ist Luxus?
Für mich eins:
Einen geringen Mantel trag ich
und dieser Mantel ist keinem gleich.
(Ü. Ludwig Hartinger)
Was genau […] habe.
Um mir das Gedicht in meine Vorstellungswelt zu transponieren, es zu "besetzen", wie Paul Celan den Vorgang einmal nannte, unternahm ich eine erste prosaische Annäherung.
Wie gerne würde ich mich beim Schreiben in einen und sei es noch so dürftigen Mantel der Worte hüllen, der Wärme und der Strahlkraft wegen, die ich darunter wähne. /// Alle reden von Reichtum und Luxus. Ich aber sage mir: So […] stellten. 30 Prozent der Bewohner von Triest waren um 1910 slowenischsprachig. Ob Kosovel damals, als er von der "warmen lichten Welt" sprach, das Zweiwortgedicht "M'illumino d'immenso" ("Ich erleuchte mich durch Unermessliches", übersetzte Ingeborg Bachmann) des Triester Dichters Guiseppe Ungaretti kannte?
So arm die Slowenen gewesen sein mögen, Kosovels Verse sind stolz und so zerklüftet und schroff […] Von
Marie Luise Knott
Tagtigall 02.08.2022 […] I. Krieg
Beim Streunen, wie ich es vielleicht auch aus weltlagebedingter Ratlosigkeit zuletzt viel getan habe, treibt es mich immer wieder in Gefilde, ohne dass ich wüsste, was ich dort suche. So stieß ich in der von Fiston Mwanza Mujila herausgegebenen Anthologie "Kontinentaldrift. Das Schwarze Europa" auf Gedichte der britisch-somalischen Dichterin Warsan Shire, die mit ihrem Vers "Niemand verlässt […] es sei denn, Zuhause ist das Maul eines Haifischs." aus dem Gedicht "Home/Zuhause" 2015 über Nacht berühmt wurde.
In der Anthologie fand sich auch ihr Gedicht Souvenir, das meine Neugier weckte und mich beim Streunen innehalten ließ.
Souvenir
Ich glaube, ich habe den Krieg mitgebracht
auf meiner Haut, ein Leichentuch
um meinen Schädel, Dinge, Fragen unter meinen Nägeln.
Wenn ich […] jedem Telefonat seinen feuchten
Atem im Hintergrund. Ich spüre, wie er zwischen uns
im Bett schläft. Er seift mir beim Duschen
den Rücken ein. Er drückt sich
am Waschbecken gegen mich.
Nachts reicht er mir die Tabletten, hält mir
die Hand, niemals begegne ich seinem Blick.
(Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes und Charlotte Milsch)
Shires Verse verhandeln […] Von
Marie Luise Knott
Tagtigall 13.05.2022 […] explizit nur manchmal die Rede war, brachten die "opaken klingenden Archive" (Wolf) der Dichtung Gewalterfahrungen und Traumata in Bewegung. So manches erinnerte an Dantes "Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer,/ Durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze". Am Ende der Woche zitierte die belarusische Dichterin Valzhyna Mort die Frage einer Bäuerin aus einem Interview von Swetlana Alexijewitsch: […] dieser Gewalttat dem Verschwinden zu entreißen.
Ich musste zum Toilettenhäuschen, während die Ansprache schallte, aber meine Mama sagte, ich solle bleiben. Sie grub mir eine kleine Grube, und hieß mich hineinlegen. Dann - bumm! wurde ich ohnmächtig. Als ich die Augen öffnete, war es dunkel im Loch. Ich berührte armlose, beinlose, kopflose Körper, ich suchte Mama. Mein Kopf drehte sich unaufhörlich […] Ein Beispiel: Valzhyna Morts Depesche "Für Antigone". Hier ein Auszug und eine Aufnahme vom letzten Abend:
Antigone,
mit Blick auf die Toten ist alles klar.
Doch was uns Lebende betrifft,
Nimm mich zur Schwester.
Auch ich ehre das Bestattungswesen,
Das feierliche Waschen und Weinen,
den Ritus von Sarg, Bahre und Amt.
Als Grundbesitzerin
drehe ich Runden
zu unseren kostbaren Gütern
den Gräbern […] Von
Marie Luise Knott
Tagtigall 06.03.2022 […] Der Krieg gegen die Ukraine ist ein Krieg gegen die Erinnerung, spürbar in der Bombardierung jenes Ortes, wo einst das Massaker von Babyn Yar stattfand. Doch wie überwindet man Zerstörung?
"Ich habe mich in den vergangenen Tagen immer wieder gefragt, wie das Gehorchen funktioniert", schreibt Belorusets am 3. März in ihrem Kriegs-Tagebuch. Sie hatte ein Video mit einem russischen Soldaten gesehen, der […] Widerstands-Poesie, die er auf einzelne Zettel schrieb, in Mauerritzen versteckt überlebte und von Albert Camus 1947 veröffentlicht wurde, von jenem Albert Camus, der einmal gesagt hat: "die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist". Wir werden ihr zuhören.
***
Zum Weiterlesen:
Das Kriegstagebuch von Yevgenia Belorusets, das laufend fortgesetzt wird, findet sich hier. Auf Deutsch erschien […] Von
Marie Luise Knott
Tagtigall 21.12.2021 […] bleibt immer unausgegoren
von einem herrlichen Tag zum nächsten herrlichen Tag -
ich kann nicht anders als ihr treu bleiben,
der wunderbaren Monotonie des Geheimnisses.
Das ist der Grund, warum ich mich im Glück
nicht verloren habe - das ist der Grund,
warum ich in der Sorge um meine Schuld
niemals zu wirklicher Reue gelangt bin.
Gleichrangig, immer gleichrangig mit dem Ungesagten
am Ursprung dessen […] Toten beim Namen gerufen, ihre Lebens- und Todesumstände werden bedacht. Sprachliche Denkmäler für diejenigen, die allzu oft namenlos bleiben, durchmischt mit Zeilen aus der Apokalypse ("Und ich wandte mich um, zu sehen nach der Stimme, die mit mir redete") und Bildern aus Dantes Inferno.
Pasolinis Kunst ist Vision, von Trauer und Humor durchtränkt, und so schließe ich mit einigen Zeilen aus dem Gedicht […] Von
Marie Luise Knott
Tagtigall 14.09.2021 […] So taste ich mich voran, bis irgendwann in der Oberfläche etwas meine stärkere Aufmerksamkeit erregt, sich öffnet: ein Schlüssel, eine Luke, ein Fenster, eine Tür ins Werk vielleicht - oder in etwas anderes?
Vor mir liegt das Schreibheft-Dossier "Weiße Schatten", das sich der amerikanischen Dichterin Mary Ruefle widmet. Was konnte es mit diesen Schatten auf sich haben? fragte ich mich. Ich las, und […] unterm Mond,
und niemand war dabei.
Ich war so glücklich, ich fing an,
dem Mond Kleider zu nähen.
Winzige Dinge erst,
wie Taufkleidchen für Raupen.
Und meine Mutter kaufte sie!
Sie war so glücklich, mich so glücklich zu sehen,
es machte kaum etwas aus, daß wir
auf Erden nie viel geredet hatten.
Ich habe immer zu den mürrischen stillen
Typen gehört, die nicht wissen, wie sie vorankommen.
Und jetzt bin […] Von
Marie Luise Knott