Artikel
Suchwort: "Leben"
Rubrik: Vorgeblättert - 1039 Artikel - Seite 1 von 80
Vorgeblättert 21.09.2023 […] rstattung.
In den letzten Jahren wurden nicht nur Stellen in Redaktionen eingespart, auch zahlreiche freie Journalistinnen und Journalisten, die in der Regel nur von der Fülle ihrer Aufträge leben können, kämpfen um ihre Existenz. Selbst große Zeitungen zahlen für eine Kritik heute selten mehr als 300 Euro, Fahrt- und Reisekosten werden von den Redaktionen in der Regel nicht mehr übernommen. […] Probleme der Kulturberichterstattung verschärft: ihre fehlende Unabhängigkeit.
Es ist ein journalistisches Tabuthema, dass kaum ein freier Musik- oder Theaterkritiker allein von seinen Kritiken leben kann. Unter 100 Euro zahlt eine renommierte Zeitung wie der Berliner Tagesspiegel für einen Aufmachertext im Feuilleton. Kompensiert werden die finanziellen Ausfälle bei den klammen Zeitungen oft von […] verwundert es schon weniger, dass Kritikerinnen und Kritiker einigen Kulturschaffenden als „Parasiten“ vorkommen, als bemitleidenswerte „Schreiberlinge“, die allein von Gnaden der Kulturveranstalter am Leben gehalten werden. Selbst die Vergabe von Pressekarten für kritische, überregionale Journalistinnen und Journalisten ist inzwischen keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern eine Frage der Laune und […]
Vorgeblättert 08.08.2023 […] meinem Vater an den Beinen hochriss, ihm Salz in den Schlund steckte und mir befahl, schnell einen Eimer eiskaltes Wasser zu holen, mit dem das Kalb übergossen wurde, auf dass dieser Schock es ins Leben und zum Atmen brachte.
Manchmal war am Ende trotzdem ein Kalb tot. Die vorher noch besorgten, aber offenen, nicht selten sogar lachenden Gesichter der Erwachsenen verschlossen sich. Wortkarg zog man […] was gerade noch ein Tier gewesen und jetzt ein Kadaver geworden war, später abholen würde. Natürlich war ein totes Tier immer auch ein materieller Verlust. Aber dass man es nicht geschafft hatte, ein Leben zu retten, wog in diesem Moment schwerer.
Hinter den Kühen hergehen war die Bewegungsform des Sommers. Zu ihnen auf die Weide spazieren – oder auch eilen –, allein oder mit einem Hund, Gatter öffnen […] Gewöhnlicher Natternkopf und nicht zu knapp Saat-Luzerne und Taubnesseln. Die Einzigen, deren Namen ich damals schon kannte, waren Brennnessel, Farn und Moos.
Aber es kam auch nicht darauf an. Das Leben bestand für mich aus den Sorgen eines Kindes, das die Sorgen der Erwachsenen aufmerksam wahrnahm, wie das so ist. Im Gehen und im Blick auf die gehenden Kühe, auf ihre Füße mit den delikaten Klauen […]
Vorgeblättert 19.07.2023 […] doch, denn ich spüre schon, ich bin auf unbekanntem Terrain. Ich habe kein Koordinatensystem für das, was hier passiert, und vielleicht ist mein Vertrauen gefährlich. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich in eine Militärkontrolle gerate.
»Ist das wegen der Anschläge?«, frage ich.
Ihre schwarzen Augen springen zur Seite und dann wieder zurück zu mir, und sie nickt kurz. Sie streicht […] das in einem Ernstfall auch nicht helfen würde.
Der General starrt mir direkt in die Augen, und dann erkenne ich, dass er sich wirklich wünscht, dass ich umkehre. Vielleicht hat er in seinem Leben Dinge getan, die er bereut, und sieht in mir die Chance, etwas wieder gutzumachen. Leider kann ich ihm nicht dabei helfen, sein Gewissen zu erleichtern.
»Ich muss einmal ihr Grab sehen. Wer weiß […] Soldat erscheint hinter den Sandsäcken und stellt sich neben mich. Ich nicke dem General zu. Der Soldat geht voraus, ich folge ihm ein paar Schritte, bevor ich mich noch einmal umdrehe.
»Und, leben Sie noch in dem Haus?«, frage ich.
»Nein. Hab’s verkauft«, sagt der General.
Ein letzter Blick zwischen ihm und mir, und für einen Moment bin ich mir sicher, dass er mich durchschaut hat, […]
Vorgeblättert 20.01.2023 […]
»Wie nah sind uns manche, die tot sind ...«
Onkel Otto: Ein schwules Leben in Berlin
Erinnerungen an Otto Schellhass (1904–1977), aufgeschrieben für die Berliner Zeitung zum Christopher Street Day 2016
Otto war das schwarze Schaf der Familie. Hinter vorgehaltener Hand sprach man über seine »Neigungen« und hielt heranwachsende Knaben von ihm fern. Auch war bekannt, dass er schon »gesessen« hatte […] kündigte ihm der Berliner Senat noch 1969 fristlos, weil er die als »einschlägig« erachteten Vorstrafen verschwiegen habe. (Rechtswidrig standen sie noch immer im Strafregister.)
1977 schied Otto aus dem Leben. Offensichtlich hatte er seinem amtlich dokumentierten »Herzversagen« nachgeholfen, weil sein Gedächtnis etwas nachgelassen hatte. Er, der sein ganzes Erwachsenenleben autonom und wegen der Gesetzeslage […] manches Mädel gerngehabt und dennoch habe ich kein Mädel geliebt, weil ich es doch nicht hätte glücklich machen können. Warum? Ich weiß es nicht. Es ist vielleicht die einzige ungeklärte Frage in meinem Leben, und vielleicht ist es doch gut so.« Am Ende setzte er den Text für die eigene Todesanzeige in den Brief: »Hell liegt des Lebens Sonne hinter ihm, was dunkel vor ihm lag, bleibt ihm erspart.« (Dieser […]
Vorgeblättert 11.10.2022 […] sehr traditionellen Familie aus Raqqa, jener Stadt, die sich in Alleinlage an den Euphrat schmiegt und früher so faszinierend war – und es noch heute ist. Wer dort geboren ist, kann ein ganz harmloses Leben führen, und so war es auch bei mir. Meine Geburt im Jahr 1991 trug meinem Vater Stolz auf seine Männlichkeit ein und meiner Mutter Ansehen. Denn durch mich wurde sie als Mutter eines Sohnes angeredet […] rezitierte etwas aus dem Koran, blies mir ins Gesicht und zog mir ein weites Gewand aus weißem Satin an, das sie selbst für mich genäht hatte. Das war das Beste an der ganzen Feier. Zum ersten Mal im Leben trug ich ein Gewand, das wie ein Brautkleid aussah. Meine Mutter heftete mir die Goldstücke, die ich am Tag meiner Geburt bekommen hatte, an die Brust. Diesmal konnte ich mehr damit anfangen. Es waren […] meine Hand unter dem Friseurumhang bis ganz an den Rand der Armlehne. Vielleicht konnte ich so seine an mich geschmiegte Scham berühren! Das Herz zuckte in meiner Brust, und ich kehrte zurück ins Leben. Als ich die Augen öffnete, lag ich als erkalteter Leichnam neben einem unschuldigen Mordopfer namens Ehefrau. Und ich wusste nicht, ob ich selbst sie getötet hatte oder meine Eltern oder die Tradition […]
Vorgeblättert 12.09.2022 […] verspeisen.
»Mhm, köstlich, Frau Nakao, Ihr Gatte schmeckt ganz exquisit.« Sein fein geschnittenes Fleisch wurde einhellig gelobt.
»Es ist wirklich eine hervorragende Sitte, sich Leben einzuverleiben und zugleich Leben zu schaffen …«, erklärte ein weißhaariger älterer Herr wohlwollend, während er sich bediente.
Bei seinen Worten tupfte Frau Nakao sich mit einem Taschentuch die Augen.
»Wie recht […] Ausschau nach einem Befruchtungspartner hielten. Sobald sich zwei gefunden hatten, verließen sie die Zeremonie und vollzogen die Befruchtung. Die dieser Zeremonie zugrunde liegende Vorstellung, dass neues Leben aus dem Tod geboren wird, fügte sich perfekt in die allgemeine, wenngleich unbewusste Fixierung auf die Fortpflanzung ein.
Es kam mir vor, als glichen die Menschen sich neuerdings in ihrem Verhalten […] plauderten, blickten wir durch die weißen Schwaden hinaus in die klare Luft außerhalb des Glaskastens. Am Abend gingen Yamamoto und ich dann zu Herrn Nakaos Lebenszeremonie. Da es ihr Ziel war, neues Leben hervorzubringen, wurde freizügige und auffällige Kleidung begrüßt. Ich hatte noch mein graues Businesskostüm an, doch Yamamoto kam in rot kariertem Hemd und weißer Hose.
»Bei einer Lebenszeremonie […]
Vorgeblättert 13.03.2022 […] der Aufklärung, ein jeder habe unabhängig von Herkunft und gesellschaftlichem Stand »selbstverständlich ein Einzelner zu sein«, um »als Mensch unter Menschen zu leben«, wie es im Rahel-Buch hieß – dieses Versprechen ging im wirklichen Leben nicht auf. Das kleine Vorhaben, nichts als ein Mensch zu sein, war in Wirklichkeit das allergrößte, so Arendt, und überstieg die Kräfte eines Einzelnen. Hoffnung […] rsetzung mit jüdischer Erfahrung reflektierte.
*
Jedes Lesen ist ein Gespräch, und auch Hannah Arendts Texte sind als Gespräche angelegt. Sie verblüffen bei jedem Wiederlesen aufs Neue, denn sie leben aus dem Widerspruch und feiern die Widersprüchlichkeit des Daseins. Der emphatische Freiheitsbegriff, der ihre Schriften grundiert, ist anders als die Freedom and Democracy-Politik des Kalten Krieges […] »schwarz« und »weiß« das Handeln. Alle sprachen von der Leidensgeschichte »der Schwarzen«, ohne zu sehen, wie verschieden auch sie in Wirklichkeit waren. (»Wie kommt es, dass so viele unser schwarzes Leben interpretieren, aber sich nie bemühen, zu verstehen, wie verschieden wir in Wirklichkeit sind.«)
Wiederholt hatte Hannah Arendt in ihren Studien zur jüdischen Geschichte die Fixierung des Blicks und […]