Im Kino

Kulturgeschichte des Wolfs

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Michael Kienzl
07.09.2016. Vielleicht ein zukünftiger Klassiker des klaustrophobischen Terror-Kinos: "Don't Breathe" von Fede Alvarez. Christian Petzolds neue Polizeiruf-Episode "Wölfe" weckt Zweifel daran, ob Fernsehkommissare sich als Film-Nerds eignen.


Die verfallenden, leergefegten Vorortsiedlungen von Detroit bleiben mit ihrem Sozialapokalypse-Chic auch weiterhin eine der reizvollsten Kulissen für das gegenwärtige Horror- und Thrillerkino der mittleren Preisstufe. Doch wo Ryan Gosling (in "Lost River") und David Robert Mitchell (in "It Follows", beide von 2014) die Tristesse dieser Gebiete vor allem als atmosphärischen Background nutzten, bilden sie für Fede Alvarez eine szenarische Grundvoraussetzung: In dieser Endmoräne urbaner Zivilsation nach ihrem Verfall hört Dich keiner schreien.

Drei Kids - Rocky (Jane Levy), Alex (Dylan Minnette) und Money (Daniel Zovatto) - lässt der uruguayische Regisseur, seit seinem geglückten Remake von Sam Raimis Splatterklassiker "Evil Dead" unter Freunden filmischer Drastik als vielversprechendes Talent gehandelt, in diesem entvölkerten Gebiet ins Elend rennen: Mit speziellem Equipment ausgestattet, das es ihnen ermöglicht, moderne Sicherheitstechnologie beim illegalen Betreten eines Hauses im Nu zu deaktivieren, bessern sie ihr Einkommen durch Einbrüche auf. Insbesondere für die junge Rocky hofft, so irgendwann aus ihren desolaten Lebensverhältnissen ausbrechen zu können. Ein Tipp führt die drei schließlich zu diesem einen Haus, dem letzten bewohnten in der Gegend: Darin verbarrikadiert sich ein alter Irak-Kriegsveteran (Stephen Lang) - angeblich mit einer beträchtlichen Summe Bargeld im Safe. Und blind ist er obendrein. Leichte Beute.

Doch die Abgeschiedenheit inmitten von Ruinen erweist sich als Bumerang: Das vermeintlich leichte Opfer ist nicht nur ein Meister der Innenverriegelung; sondern auch eine skrupellose Nahkampfmaschine mit bissigem Hund an der Seite.



Eine Übung in Minimalismus: Nach seinem Waldhüttenfilm "Evil Dead" erweist sich Alvarez in diesem hocheffizienten, ökonomisch eleganten Film erneut als Meister der räumlichen Begrenzung. Er spielt eine drastische Situation minutiös durch und bezieht dabei aus der Dynamik zwischen Konzentration und Eskalation beträchtlichen Reiz: So weichen die weiten Panorama-Aufnahmen Detroits zu Beginn rasch einer Ästhetik begrenzter Sichtbarkeiten - schmale Schärfebereiche, nahe Einstellungen (Kamera: Pedro Luque) herrschen vor. Ist die kammerspielartige Hetzjagd erst einmal in Gang gesetzt, erzielt der Film auch durch die ständige Nähe seiner Figuren zueinander eine latent klaustrophobische, ins Paranoide spielende Atmosphäre, sodass man sich stets nach der Erlösung des nächsten, etwas mehr Übersicht stiftenden Gegenschusses sehnt.

Aus solchen Limitierungen und Beengungen bezieht der Film über lange Passagen immensen Suspense: Die Blindheit des Gegenspielers, geradezu animalisch verwildert gespielt von Stephen Lang, gestattet genüsslich ausgekostete Versteckspiele auf wenigen Quadratmetern, bei denen der Filmtitel für die Figuren zur überlebensnotwendigen Maxime wird. Zumal wenn - kein Spoiler - nach dem ersten Toten für den blinden Mann buchstäblich nicht ersichtlich ist, wie viele weitere Leute sich noch in seinem Haus befinden. Zum Glück ist Alvarez ein selbstbewusster Regisseur mit gutem Gespür für Timing und die Dynamiken einer Spannungsinszenierung: Stille Passagen hält er genauso aus, wie er in turbulenten Momenten nicht die Gäule mit sich durchgehen lässt.

Alvarez ist ein fairer Regisseur - er kommuniziert bewusst mit seinem Publikum, eine essenzielle, geradezu klassizistische Tugend zur Inszenierung von Spannung. Beim Betreten des Hauses erkundet die Kamera den Schauplatz für uns in einer tollen Plansequenz: Hier der Zwischenstock, durch den eine Person robben kann, dort einige fiese Instrumente an der Werkzeugbank und hier am Boden - autsch - ein paar Glasscherben, deren Position wir uns beiläufig merken sollten. Auf jump scares als klassisches Überraschungselement verzichtet zwar auch Alvarez nicht, aber in seiner Klaviatur der unterschiedlichen Grade von Anspannung setzt er sie bewusst ein, immer im Zusammenhang des dramaturgischen Aufbaus.

Die klaustrophobische Reise führt tief in den Keller. Dort warten noch ganz andere verstörende Geheimnisse auf die gehetzten Kids, die das ohnehin stetig wechselwarme Gefühle hevorbringende Sympathiemanagment des Films aufs neue Salti schlagen lässt. Ein Hauch von "Texas Chain Saw Massacre" liegt in der Luft. Dass "Don't Breathe" als meisterliches Stück klaustrophobischen Terrorkinos eines Tages einen ähnlichen Klassikerstatus erreichen könnte, ist keineswegs unwahrscheinlich.

Thomas Groh

Don't Breathe - USA 2016 - Regie: Fede Alvarez - Darsteller: Stephen Lang, Jane Levy, Dylan Minnette, Daniel Zovatto, Emma Bercovici - Laufzeit: 88 Minuten.

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Ein bayrisches Wirtshaus, als wäre es aus einem Bild von Edward Hopper: Einsam sitzt Barbara Auer an ihrem Tisch und kippt gedankenverloren einen Gin Tonic nach dem anderen herunter. Während aus dem Nebenzimmer eine junge Frau vieldeutig hereinblickt, scheppert aus der Musikbox Dionne Warwicks Soul-Ballade "Anyone Who Had a Heart". Obwohl in diesem Moment vordergründig nichts passiert, breitet sich eine beunruhigende Spannung aus. Die Gaststube dient als Resonanzraum, in dem zwar noch unklar ist, was das alles zu bedeuten hat, dafür aber umso klarer wird, dass jede spärliche Geste und popkulturelle Referenz ihren konkreten Sinn hat.
 
Christian Petzold hat wieder eine Folge "Polizeiruf 110" gedreht. Nach dem ebenso effektiven wie perfekt durchkonzipierten "Kreise" im letzten Jahr konnte man sich nur wünschen, er würde sich öfter an Kriminalfilmen versuchen. Die Geschichte der neuen Episode um eine geheimnisvolle Mordserie, die einen Skiort während der Nebensaison erschüttert und vom hiesigen Zoo bis zu einem ehemaligen türkischen Gangster führt, dient dabei eher zur groben Orientierung. Der Krimi ist für Petzold zwar auch ein Erzählmuster, aber mehr noch ein Anlass zur Reflexion - über sich und seine Motive. Dabei wird der Film von einer Nostalgie beherrscht, die sich weniger auf eine Zeit richtet, in der alles noch besser war, als Ausdruck einer Sehnsucht nach den guten Filmen und Songs von früher ist. Während die formale Strenge von "Wölfe" etwas sehr Deutsches hat, wirken die geisterhaft leeren Straßen und schummrigen Lokale wie aus einem amerikanischen Film Noir und die Eigensinnigkeit der Figuren wie auch ihr Hang zu Abschweifungen ein bisschen französisch. Auf einem kulturell und historisch derart heterogenen Feld passt es dann auch sehr gut, dass es in der Welt des Films das Rauchverbot in Gaststätten nie gegeben hat.
 
So wie der schlichte, aber mythisch aufgeladene Titel "Wölfe" verspricht, liegt über Petzolds neuem "Polizeiruf" eine unbehagliche Atmosphäre, die man eher in einem Horrorfilm als in einem Fernsehkrimi aus dem Hauptprogramm erwarten würde. Die minimalistischen Klavier-Akkorde von Stefan Will lassen mit dem Schlimmsten rechnen und die Nachtaufnahmen sind beklemmend blau - und wurden scheinbar wirklich wie im alten Hollywood als "Amerikanische Nacht", also als Aufnahme bei Tageslicht, über die ein Farbfilter gelegt wurde, gedreht.  Auch die Leichen mit ihren - vermutlich von einem Tier verstümmelten - Gesichtern, die Kommisarin Constanze Herman (Auer) und ihren Kollegen Hanns von Meuffels (Matthias Brandt) vor einige Rätsel stellen, sehen aus wie aus einem alten Gruselfilm. Wenn Herman  bei einem nächtlichen Spaziergang plötzlich ein Wolfsmensch mit glühend roten Augen erscheint, kann man sich nicht sicher sein, ob sich Petzold diesmal gar dem Fantastischen öffnet.
 


Für diese, aber auch andere Trugbilder, die sich in die beängstigend ordentliche Welt des Films schleichen, wird zunächst das Alkoholproblem Hermans vorgeschoben. In einem Wellness-Hotel, das wie die Tagungsstätte einer Psycho-Sekte wirkt, hat sie zwar den Willen trocken zu werden, aber nicht die Kraft. Wie schon in "Kreise" gelingt es Auer trotz oder gerade wegen ihres offen nach außen getragenen Stigmas zur heimlichen Heldin zu werden. Sie ist nicht nur Love Interest, Sidekick oder Quotenfrau, vielmehr so etwas wie ein gebrochener Held aus dem klassischen amerikanischen Genrekino, der zwar mit seiner Sucht zu kämpfen hat, der den anderen aber trotzdem immer einen Schritt voraus ist. Hinter Auers abwesenden Blicken und gequälten Stirnfalten steckt eine Kassandra, die am klarsten sieht, obwohl das gerade ihr niemand wirklich zutraut.
 
Die Figuren sind in "Wölfe" mindestens genauso stark mit sich wie mit der geheimnisvollen Mordserie beschäftigt. Anders gesagt: Petzold interessiert sich diesmal fast mehr für seine Figuren, als für seinen Fall. Die Protagonisten bekommen dadurch eine psychologische Tiefe, für die in diesem Format oft die Zeit fehlt. Dabei steht vor allem die sich anbahnende Beziehung zwischen Herman und von Meuffels im Mittelpunkt, die sich fast von jeglichem romantischen Ballast befreit hat. Die beiden gezeichneten Seelenverwandten sind pragmatisch genug, um den jeweils Anderen nicht besitzen zu wollen. Vielmehr suchen sie einen Verbündeten, der einen in schweren Stunden in den Arm nimmt und dessen seelische Abgründe man dafür still erdulden muss. Dass Petzold in den Szenen mit Auer und Brandt verstärkt auf Dialog setzt, tut dem Film nicht immer gut. Gerade die längeren Gesprächspassagen wirken oft ein bisschen zu manieriert, zu sehr darauf bedacht, geistreich zu sein. Wenn die beiden sich über "dieses Buch von Henry Miller" oder "diesen Film mit Yves Montand" unterhalten, sind die Bezüge zwar immer inhaltlich gerechtfertigt, können einem durch die eitle Kulturbeflissenheit, mit der sie vorgetragen werden, aber auch ein bisschen auf die Nerven gehen.
 
Am besten kann man über solche Schwächen hinwegsehen, wenn man "Wölfe" als Meta-Genrefilm versteht; als ein nicht zu verspieltes Gedankenspiel, das sich nicht lange mit Kategorien wie Authentizität aufhält (so sprechen auch die sonderbaren Einwohner des oberbayrischen Dorfes durch die Bank ein glasklares Hochdeutsch). Hinter der Suche der Polizisten nach dem Mörder und auch nach sich selbst, werden Diskurse über die Unvereinbarkeit von Legende und Wissenschaft angerissen, über das seltsame Verhältnis zwischen Mensch und Tier und sogar eine kleine Kulturgeschichte des Wolfes erzählt. Wie Petzold einen eigentlich recht einfachen Plot zum Anlass für solche kleinen und größeren Abschweifungen nimmt, ist dann doch wieder recht sehenswert. Fraglich bleibt nur, ob sich Kommissare gut als Film-Nerds eignen.

Michael Kienzl

Polizeiruf 110: Wölfe - Regie: Christian Petzold - Darsteller: Matthias Brandt, Barbara Auer, Sebastian Hülk, Michael Witte, Anna Unterberger, Jasna Fritzi Bauer, Ercan Durmaz - Laufzeit: 89 Minuten.