Im Kino

Die Wellen seiner Aggression

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Karsten Munt
16.12.2021. Leos Carax' knalliges Filmmusical "Annette" ist die intime Geschichte eines öffentlichen Phänomens, angetrieben von der unwiderstehlichen Musik der Sparks und befeuert von einem magischen Realismus mit einem abgründigen Kern. Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravel versuchen in ihrer Doku "Caniba" den Mörder und Kannibalen Issei Sagawa zu porträtieren.


"May we now start?", fragt Leos Carax zu Beginn seines neuen Films, bevor er an die Sparks Ron und Russell Mael übergibt, die sogleich zur ersten und schönsten Szene des Films einzählen. Ein paar Takte später verlassen sie das Studio, um Adam Driver und Marion Cotillard auf dem Weg ins Musical zu begleiten. Das Darstellerpaar tritt auf die Straße, sammelt eine von den Sparks angeführte, singende Prozession hinter sich, macht kurz Halt, schmeißt die Kostüme über und wird von den Taktgebern, die einmal Carax und zweimal Mael heißen, in den Film verabschiedet.

Driver und Cotillard tauchen als Henry und Anne wieder auf. Er auf dem Motorrad, sie in der Limousine. Er als Stand-Up-Comedian, sie als Opernsängerin. Sie wärmt sich mit Atemübungen auf dem Teppich auf, er mit Banane und Kippe beim Schattenboxen. Sie liegt am Ende der Show regungslos auf der Bühne, er reckt dem Publikum zum Abgang seinen Arsch entgegen. Er vulgär, sie erhaben. Und so weiter und so fort. Ihre Gegensätzlichkeit demonstriert der Film unmissverständlich, als Anne und Henry kurz nach ihren Auftritten wieder zusammenkommen und einander fragen, wie's gelaufen sei. Sie: "I died". Er: "I murdered".




Seine Aggression gibt den Rhythmus vor. "Annette" ist kein feiner Film, der der sanften Energie der "sterbenden" Anne folgt, sondern ein knalliger und lauter Film, der sich die Energie des "mordenden" Henry zu eigen macht.  Er dominiert. Auf der Bühne, im gemeinsamen Zuhause und sogar im Kreißsaal, wo seine Witze das Anästhetikum sind, von dem niemand wusste, dass es gebraucht wird. Die Tochter, die Anne dort zur Welt bringt, kommt ganz nach ihr. Sie ist ein reines, unschuldiges Wesen, obgleich nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Holz und CGI. Annette ist eine kleine animierte Holzpuppe, menschlich genug für die ihr angehängten Affekte, nicht menschlich genug, um in das Uncanny Valley zu fallen. Man hat Angst um sie. Angst um die Zukunft, die sie in den Armen des Vaters erwartet, dessen Charisma seine toxische und aggressive Natur allmählich nicht mehr zu überdecken vermag.

Der Film stemmt sich mit aller Kraft gegen dieses Charisma, als gelte es, diesen selbst beschworenen Dämon, dessen Präsenz all die Schönheit besudelt, die ihn umgibt, in Schach zu halten. Mit der Tochter in der einen, Whisky und Zigarette in der anderen Hand bestaunt Henry das Wunder des Vaterseins. Wenig später liegt er wie ein Gefangener im Gitterbett der Tochter, während ihn im Fernsehen ein halbes Dutzend Frauen der sexuellen Belästigung beschuldigt. Die Massen, die ihn, seine Ehe und das was er aus der Ehe auf die Bühne bringt, bejubelten, sind nun angewidert vom abgründigen Humor, den er aus seinem Privatleben extrahiert. Nach dem ersten Scheitern auf der Bühne, mitsamt feindseliger Reaktionen des Publikums, zerrt der Vater den Misserfolg ins Privatleben. Seine Aggression macht den magischen Realismus des Musicals zum Schiffbruch der kleinen Familie. Die hölzerne Annette muss verängstigt mit ansehen, wie der Vater die Mutter auf das Deck schleift, um in den Wellen seiner Aggression, die tatsächliche Wellen sind, zu tanzen.




Nicht nur wegen der darin enthaltenen Volte ist der innerfamiliäre Schiffbruch die zentrale Szene des Films, sondern auch weil sie Carax' eigenwilliges Verhältnis zum Musical offenbart. "Annette" hängt am Genre, macht sich voll und ganz abhängig von der unwiderstehlichen Musik der Sparks, die elektronisch wummert, analog trauert, sich selbst unterbricht, um zum Effekt zu werden und bei allem unerträglich eingängig bleibt. Zugleich wird die exaltierte Energie des Films aber immer wieder in einen seltsamen Zwischenraum gedrängt, der weder das Trauma der Geschichte noch die Magie ihrer Inszenierung zulässt. In den schönsten Momenten des Films ist es der abgründige Kern der Geschichte, der sich von den opulenten Reizen des Musicals nicht einfangen lassen will, in den sprödesten Momenten ist es die Meta-Ebene, die der Harmonie von Bild und Musik schlicht einen Stock in die Speichen schiebt.

Wie sehr derartige Verschiebungen der Selbstreflexion geschuldet sind, die viele Kritiker in Carax' neuesten Film zu erkennen glauben, kann ich nicht sagen - ich kenne Carax' Filme, aber weder den Mann noch seine Biografie. Ob Autofiktion oder nicht: "Annette" ist die intime Geschichte eines öffentlichen Phänomens. Medienwelt und Publikum sind immer irgendwie da und zugleich weit entfernt. Die Massen sind der Chor, dessen moralischer Kompass überfordert von Bewunderung zu Ächtung pendelt. Wir hingegen sind das Publikum, das oft genug den Arsch gezeigt bekommt, um eine gewisse Beklemmung und/oder eine gewisse Belustigung zu fühlen. In jedem Fall aber - und das ist dann wohl das entscheidende - klopfen wir dazu mit den Füßen zum Takt der Sparks-Songs.

Karsten Munt

Annette - Frankreich 2021 - Rege: Leos Carax - Darsteller: Adam Driver, Marion Cotillard, Simon Helberg, Devyn McDowell - Laufzeit: 141 Minuten.

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Er wünsche sich, sagt Issei Sagawa in einer frühen Szene im Dokumentarfilm "Caniba" von Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravel, von Renée Hartevelt verspeist zu werden  - von jener jungen Niederländerin, die er selbst 1981 in Paris vergewaltigt, getötet und anschließend teilweise aufgegessen hatte. Später im Film wird Sagawa von seinem Bruder gefragt, ob er manchmal darüber nachdenke, wie Renée sich damals gefühlt haben könnte, über ihre Angst vor ihm und vor dem Tod. "Ist noch etwas von der Schokolade da", fragt Issei Sagawa anstelle einer Antwort.

Die beiden Szenen gehören für mich zusammen, weil sie zeigen, was Sagawa denken kann und was nicht. Denken kann er, auch gegen jede realweltliche Logik, eine Form der Verbindung zu Hartevelt, die den Regeln folgt, die er selbst vorgibt, die seinen eigenen Fetischen und Obsessionen entspricht. Nicht denken kann er hingegen eine Verbindung, die, und sei es auch nur auf der basalsten Ebene menschlicher Urinstinkte, auf Einfühlung basiert, auf einem Heraustreten aus der eigenen, beschränkten Innerlichkeit.

Zu Festivallieblingen avanciert sind die filmenden Ethnologen Castaing-Taylor und Paravel mit posthumanistischen dokumentarischen Arbeiten über Schafe ("Sweetgrass", 2009, Castaing-Taylor & Ilisa Barbash) und Fische ("Leviathan", 2012, Castaing-Taylor & Paravel). Mit ihrem einige Jahre später entstandenen radikalhumanistischen Film über einen Promi-Kannibalen haben sie hingegen deutlich weniger offene Türen eingerannt. Die meisten Texte über "Caniba" lesen sich entweder wie atemlose Erinnerungsberichte von gerade noch einmal so davongekommenen Überlebenden einer Katastrophe ("Ich habe einen Kannibalen gesehen und bin nicht gefressen worden"), oder sie erörtern die wenig hilfreiche Frage, ob man so etwas überhaupt darf: einen reuelosen Mörder filmen. Ebenso wie der Kannibale hinter seiner Tat verschwindet, verschwindet der Film hinter seinem Thema. Es lohnt sich, genauer hinzusehen.

Berühmt geworden, oder vielleicht eher geblieben ist Sagawa in Japan und in geringerem Ausmaß auch weltweit nicht zuletzt deshalb, weil er für den Mord an Hartevelt seinerzeit nicht bestraft worden war. In Frankreich wurde er für schuldunfähig erklärt, nach der Auslieferung in Japan dort für schuldfähig - juristisch belangt werden konnte er in seinem Heimatland allerdings nicht, aus rechtlichen Gründen. Dennoch steht sein Leben seither im Zeichen seines Verbrechens. Sagawa hat ein Buch über seine Tat geschrieben und auch gleich noch eines über einen Teenage-Serienmörder, er hat, irgendein Redakteur fand diese Idee wohl für einen Moment amüsant, als Restaurantkritiker gearbeitet und in dem - ziemlich großartigen - Exploitationfilm "The Bedroom" den sexuellen Aspekt seiner Obsession nachgestellt.

Im Jahr 2000 hat er dann noch einen Comic über den Mord an Hartevelt gezeichnet, und diese vielleicht allerobszönste Ausbeutung seines eigenen Verbrechens taucht auch in "Caniba" auf, in einer quälend langen Szene, in der die Kamera ganz nah an der farbigen Oberfläche des Comics klebt, fast schon gemeinsam mit Sagawa in die Wunden zu kriechen versucht, die der Japaner auf den monumental seitenfüllenden, grotesk überhöhten, quasirituell vergötterten, aber eben mausetoten Frauenkörper gemalt hat.

Sich selbst zeichnet Sagawa in dem Comic als kleine, windschiefe, gnomartige, kränklich-rötlich eingefärbte Karikatur. Von nichts anderem handelt sein Comic als vom Gefühl der Nichtpassung zweier Körper, eines weiblichen, idealisierten und eines männlichen, zutiefst defekten, und von der fetischistischen Aggression, die sich als zwangsläufige Folge dieser Nichtpassung entlädt. Oder anders herum: Mord, Kannibalismus und Vergewaltigung sind, wenn man von der absoluten Nichtpassung der Individuen zueinander ausgeht, die einzige Möglichkeit der Menschen, sich zueinander zu verhalten, einen Bildraum zu teilen.



Hier setzt der Film von Castaing-Taylor und Paravel an. Jemanden zu filmen heißt, ein Verhältnis zu ihm aufzubauen. Wenn man nun nicht mehr davon ausgehen kann, dass Menschen zueinander passen, wenn es keine unproblematische Ebene der Alltagsverständigung gibt, die von allen Beteiligten akzeptiert wird: was dann? Kann es unter diesen Umständen überhaupt noch ein filmisches Bild geben? Das Problem stellt sich bereits, wenn, wie zumeist in "Caniba", nur eine Person gleichzeitig zu sehen ist. Ganz nah klebt die Kamera nicht nur an Sagawas Comic, sondern auch und vor allem an seinem Gesicht. Oftmals nimmt sein Antlitz die gesamte Leinwand ein, links, rechts, oben, unten, überall nur Kannibalengesicht, ein unlesbares Gesicht allerdings, dessen wächserne, maskenhafte Haut sich kaum einmal zu einer Ausdrucksbewegung verzieht. Der Blick wird des Gesichts trotz der großen Nähe nicht habhaft, er perlt an ihm ab, gleitet manchmal minutenlang in die Unschärfe hinein, oder auch, fast noch frustrierender, in eine Halbschärfe, die die Texturen der Haut, ihre Rauhheit, ihre Poren, das Taktile am menschlichen Gesicht, fast zu fassen bekommt aber letztlich eben doch nicht.

Es gibt allerdings noch einen zweiten Protagonisten in "Caniba": Isseis Bruder Jun Sagawa, der den seit einem Schlaganfall im Jahr 2013 ans Krankenbett gefesselten Kannibalen pflegt. Wir sehen die beiden als Kinder, wie sie in Home Movies kleine Tänze aufführen, oder Sumo-Wrestling nachspielen. Bilder des Glücks, Bilder der Passung. In der Gegenwart schwenkt die Kamera immer wieder von Isseis Gesicht zu Juns und zurück, manchmal sind auch beide gleichzeitig zu sehen, hintereinander gestaffelt: der Bildraum als Komposit zweier Gesichter, deren exaktes Verhältnis zueinander nicht mehr eruierbar ist, die aber auch nicht voneinander loskommen.

Die Tonspur des Films gehört weitaus mehr Jun als Issei. Immer wieder richtet er Fragen an den Bruder, versucht ihn zu aktivieren, zu ergründen, zu interpretieren. Nicht zu entschuldigen, freilich, nicht einmal ein kleines bisschen. Was ihn an Issei fesselt ist gerade das Unverständnis, das Rätsel, das Fremde in einem, der einst so vertraut war, durchaus auch, bis zu einem gewissen Grad, in seinen Obsessionen und Fetischen. "Caniba" zeigt uns, wie Jun seine eigenen Obsessionen befriedigt: der Arm im Stacheldrahtgehege, ein konzentriertes, unnachgiebiges Quetschen und Quietschen und Bohren im Fleisch, libidinöse Aggressionen, die sich freilich ausschließlich auf den eigenen Körper, die eigene Haut beziehen.

Isseis Aggression hingegen hat die Grenze seines Selbst überschritten, und dieses Überschreiten hat seine Fixation, seine Selbsteinschließung nicht gelöst, sondern zementiert. Nur sehr gelegentlich und stets einsiblig antwortet er auf Juns Fragen, ob das leicht Enigmahafte seiner Kommunikation Kalkül oder dem körperlichen Verfall geschuldet ist, lässt sich nicht eruieren. Dafür sehen wir ihn zwischendurch zweimal mit Frauen. Einmal fügen Castaing-Taylor und Paravel eine Szene aus einem Pornofilm ein, in dem Sagawa mitwirkt, gemeinsam mit einer Frau, die ihn erst reitet und ihm dann aufs Gesicht uriniert, alles großflächig zensurverpixelt freilich, sodass auch der Sex die Frage nach der Passung unbeantwortet lässt; und am Ende mit einer neuen Krankenpflegerin, einer mit freundlichem Lächeln und gut einsehbarem Dekolleté, einer Figur von unklarem Realitätsstatus, die diesem essentiellen, unbedingt sehenswerten Film etwas hinzufügt, das bis zu ihrem Auftauchen kategorisch unmöglich scheint: ein happy end.

Lukas Foerster

Caniba - Frankreich 2017 - Regie: Lucien Castaing-Taylor, Verena Paravel - Laufzeit: 92 Minuten. "Caniba" ist am 17.12. im Berliner Zeughauskino zu sehen, im Rahmen der Reihe "Die Documenta und der Film". Mehr Informationen hier. DVD- und BluRay-Fassungen sind als US-Import erhältlich.