Außer Atem: Das Berlinale Blog

Unbeschnitten: Kutlug Atamans 'Kuzu' (Panorama)

Von Thekla Dannenberg
07.02.2014. Kutlug Ataman erzählt in "Kuzu - The Lamb" von einem Jungen, dem die Beschneidung bevorsteht, seiner grimmigen Schwester und einer überfürsorglichen Mutter in einem kleinen Dorf in Anatolien.


Fünfzehn Jahre nach seiner deutsch-türkischen Coming-Out-Geschichte "Lola und Bilidikid" ist der inzwischen in London lebende Künstler und Filmemacher Kutlug Ataman wieder im Panorama vertreten. Auch wenn "Kuzu" (Das Lamm) manchmal wie eine verfilmte Feuilletondebatte erscheint, erzählt er doch in sehr schönen Bildern eine berührende Geschichte von Tradition und Emanzipation vor dem Panorama des ostanatolischen Hochlands.

Der kleine Mert soll beschnitten werden, wie es die Tradition bekannt verlangt, doch seine Eltern haben nicht genug Geld, um für das obligatorische Festmahl ein Lamm aufzutreiben. Alles, was die Mutter Medine durch das Sammeln von Weidenruten zusammenspart, wirft der aus der Bahn geworfene Vater Ismail bei einer Tingeltangel-Tänzerin mit beiden Händen zum Fenster raus. Und während der kleine Junge von seiner Mutter liebevollst verzärtelt wird, muss sich die ältere Schwester beim Arbeiten und Putzen herumkommandieren lassen. Das zum Fürchten grimmige Mädchen rächt sich für die Zurücksetzung an ihrem kleinen Bruder durch wohlplatzierte Gemeinheiten: Wenn Mama und Papa kein Lamm auftreiben können, werde stattdessen er geschlachtet, er solle lieber sehen, dass er fortkommt: "Wenn Du hier bleibst, wirst Du Kebab."

Was bis dahin eine verständliche und gesunde Angst vor dem stets betrunkenen Beschneider war, steigert sich bei dem Jungen zur blanken Todesangst, heilloser Verzweiflung und dem innigen Wunsch, nicht mehr Mamas Lieblingslämmchen zu sein: "Lieber will ich ein Schwein sein." Die Dorfoberen fahren schwere Geschütze auf - "Familie, Nation und Staat" -, um bei der Gruppenbeschneidung die verängstigten Jungen unter Kontrolle zu halten. Und während schon das halbe Dorf in Ismails Eskapaden verwickelt ist, glaubt Medine noch, ein großes Fest würde ihr den Respekt des Dorfes einbringen.

Sehr eigenwillige Figuren setzt Kutlug Ataman hier ins Bild, alle gespielt von großartigen SchauspielerInnen wie der wunderbar imposanten Nursel Köse und einer schön spröden Nesrin Cavadzade. Sie sind verloren in dieser so unwirtlichen wie faszinierenden Gegend, der das fahle Winterlicht jede Farbe entzieht, suchen ihren Weg und klammern sich an das Ritual, um der Realität nicht ins Auge sehen zu müssen. Am Ende wird Medine es tun und sich von den immer absurderen Ansprüchen der Gesellschaft befreien. Und dann wird das Lammragout dem Dorf im Halse stecken bleiben.

Thekla Dannenberg

Kuzu - The Lamb. Regie: Kutlug Ataman. Darsteller: Nesrin Cavadzade, Cahit Gök, Mert Tastan, Sila Lara Cantürk, Nursel Köse, Türkei / Deutschland 2014, 87 Minuten (Panorama, alle Vorführtermine)